Wochenanzeiger München Wir sind Ihr Wochenblatt für München und Umland

"Jeder entscheidet durch sein Einkaufsverhalten"

Der Online-Handel wächst - aber die Viertel und Gemeinden stützen sich auf den lokalen Einzelhandel

Virtuelle Nackedeis Uber gilt als das größte Taxiunternehmen der Welt - besitzt aber gar keine Fahrzeuge. Facebook gilt als das populärste Medienunternehmen der Welt - schafft aber gar keine eigenen Inhalte. Alibaba gilt als der wertvollste Händler, hat aber gar keine Lagerbestände. Airbnb gilt als der größte Vermittler von Unterkünften in der Welt, besitzt aber gar keine Häuser. Es war einmal ein Kaiser, der ließ sich von zwei Betrügern für viel Geld neue Gewänder anfertigen. Doch sie lieferten - nichts. Sie zwitscherten lediglich, des Kaisers neue Kleider seien nur für kluge Leute zu sehen. So ging der Kaiser nackt unters Volk und alle machen den Schwindel sehenden Auges mit. (Bild: sko)

Sie zahlen Steuern, sie schaffen Arbeitsplätze und sie bilden aus: Die Einzelhändler vor Ort sind wichtige Pfeiler für unsere Viertel und Gemeinden. Beispiel Gewerbesteuer: Sie ist für die Stadt München die wichtigste Geldquelle. Sprudelt sie nicht, wirkt sich das sofort auf Aufgaben wie Abwasserbeseitigung und Feuerwehr, Schulen und Sportstätten, Müllabfuhr und Straßenbau aus. Gute zehn bis zwölf Prozent dieses "Geldtopfes", aus dem München schöpft, füllt jedes Jahr allein der Einzelhandel.

Der Wettbewerb ist verzerrt

Doch Internet- und Versandgiganten wie Zalando und Amazon machen dem stationären Einzelhandel das Überleben schwer, weil sie Kaufkraft vor Ort abschöpfen. Zugleich profitieren sie vom Geld der Steuerzahler (Zalando ist der größte Subventionsempfänger im deutschen Einzelhandel und kassierte 35 Millionen Euro) bzw. tragen nichts zum Gemeinwohl bei (Amazon umgeht Steuerzahlungen durch Gewinnverlagerungen ins Ausland, sprich Steueroasen). In diesem verzerrten Wettbewerb ziehen die Einzelhändler vor Ort häufig den kürzeren – und mit ihnen Städte, Gemeinden und Kunden.

"Online" schöpft immer mehr ab

Immer mehr geht im Einzelhandel an "Online" verloren: Die vom bayerischen Wirtschaftsministerium vorgestellte Studie "E-Commerce Strategien für den mittelständischen Einzelhandel" (sie wurde vom Regensburger Institut ibi-research erstellt) geht davon aus, dass der Anteil des E-Commerce (Online-Shoppen) am gesamten Einzelhandelsumsatz bis 2018 auf bis zu 15 Prozent anwachsen wird ("Online" würde sich damit verdreifachen: Derzeit entfallen 5,4 Prozent des Einzelhandelsumsatzes auf den E-Commerce). In einzelnen Branchen wie im Buchhandel ist diese Entwicklung aber bereits viel weiter fortgeschritten: Für den Nichtlebensmittelhandel rechnen die Experten in drei Jahren mit fast 30 Prozent E-Commerce-Anteil, für den Buchhandel mit rund 50 Prozent.

"Die Kleinen verschwinden"

Die Folgen für die Menschen vor Ort sind weitreichend. Das Gesicht der Städte verändert sich, meinte der Präsident des Handelsverbands Bayern (HBE), Ernst Läuger, vor kurzem. Auslöser dafür seien die neuen Trends im Shoppingverhalten der Kunden und eben der boomende Online-Handel. "Besorgniserregend ist, dass immer mehr kleine, inhabergeführte Geschäfte verschwinden", so Läuger. Gerade das Sterben dieser Geschäfte gefährde den Branchenmix.

Bei den Lebensmitteln spielt das Internet heute noch keine Rolle: Nur 4 Promille der Food-Umsätze in Bayern laufen online, sagte der Vizepräsident des Handelsverbands Bayern (HBE) Matthias Zwingel. Aber: Zeit und Bequemlichkeit werden dazu führen, dass immer mehr Verbraucher ihre Lebensmittel online einkaufen. "Viele Experten gehen davon aus, dass der Lebensmittel-Online-Handel 2020 einen Marktanteil von 10 bis 20 Prozent haben könnte", so Zwingerl. "Darunter leidet dann die örtliche Nahversorgung und letztendlich auch die Lebensqualität der Menschen."

"Null-Prozent-Wachstum" am Spitzenstandort

Insgesamt kann sich der Einzelhandel in Bayern über positive Ergebnisse freuen. Das Referat für Arbeit und Wirtschaft in München bestätigt dem Einzelhandel in seinem Jahreswirtschaftsbericht 2014 ein Umsatzplus von 0,7 Prozent für 2013. Für dieses Plus ist allerdings allein der Versand- und Internethandel verantwortlich: Sein Umsatz legte um 8,5 Prozent zu, während der stationäre Einzelhandel (also alles, was zwischen Menschen in Verkaufsräumen passiert) ein Null-Prozent-"Wachstum" aufwies.

Dabei gilt München seit Jahren als der führende Einzelhandelsstandort in Deutschland. Als Gründe dafür gelten die hohe Kaufkraft der Bevölkerung, die guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit niedriger Arbeitslosigkeit und einem hohen Beschäftigungsstand sowie der hohe Anteil in- und ausländischer Touristen in der Stadt. München verfügt weiterhin und mit großem Abstand über die größte Kaufkraft im bundesweiten Großstadtvergleich. Die Kaufkraft liegt hier nun 32 Prozent über dem Bundesdurchschnitt.

"Das Internet verändert die Welt"

"Internet und Digitalisierung haben die Welt in den letzten 20 Jahren mehr verändert als jede andere Technologie", meint Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner. "Dies gilt auch und gerade für den Einzelhandel." Aber welche Veränderung wollen wir? In vielen Vierteln gibt es bereits heute Klagen über Lücken in der Nahversorgung. Diese schätzt das Referat für Arbeit und Wirtschaft in München noch überall als "gegeben" ein - zumindest "überwiegend" oder "weitestgehend". Das heißt: Fast überall in München ist ein Geschäft zur Nahversorgung noch zu Fuß erreichbar (also maximal 600 m oder 10 Minuten Fußweg entfernt). Verschlechter sich diese Versorgung, werden darunter als erstes die Bürger leiden, die kein Auto haben, die nicht gut zu Fuß sind oder alleine leben: vor allem die älteren Menschen.

Die Münchner Wochenanzeiger unterstützen daher den lokalen Einzelhandel mit ihrer Aktion "Wer näher denkt, kauft weiter ein." Diese Aktion ist nicht gegen "das Internet" gerichtet, denn wir alle profitieren und nutzen viele Aspekte der Digitalisierung. Zugleich gilt es aber, sich die Stärken des Einzelhandels vor Ort bewusst zu machen. Online-Shopping ist manchmal bequem - aber was geht im Gegenzug auf Dauer verloren?

Auf zwei Beinen stehen

Ilse Aigner sieht im Online-Shopping nicht nur eine Bedrohung des lokalen Einzelhandels, sondern auch eine Chance: Geschäfte sollten diese Möglichkeiten nutzen, rät sie. Die IHK weiß, dass hier großer Nachholbedarf besteht: Lediglich 30 Prozent der Einzelhändler haben derzeit einen Internetauftritt. Den "Beratungsklau" (Kunden lässt sich im Geschäft beraten, bestellt dann aber online) schätzt die IHK indes nicht als dramatisch ein. Über alle Produktkategorien betrage der Anteil an Kunden, die sich im Ladengeschäft informieren, aber danach online einkaufen, rund 2 Prozent; den umgekehrten Weg gehen immerhin 13 Prozent. Bei Haushaltsgeräten informiert sich gar jeder vierte Kunde online, bevor er dann doch im Ladengeschäft einkauft. Und mehr als die Hälfte der Käufer, die beim selben Händler sowohl off- als auch online shoppen, geben insgesamt mehr aus, wenn sie nur über einen Kanal bei ihm einkaufen würden.

Der Verbraucher entscheidet, wie es weitergeht

Laut der Studie des Wirtschaftsministerium kaufen derzeit 52 Prozent der Bayern nicht gerne im Internet ein. Nur elf Prozent sehen sich als "begeisterte Online-Shopper": Anders sieht es bei den Jüngeren aus: Nur noch 23 Prozent der 29-Jährigen und Jüngeren stehen dem Online-Shopping ablehnend gegenüber. "Begeistert" davon sind mit 20 Prozent fast doppelt so viele wie in der Gesamtbevölkerung. Sie werden entscheiden, wie es künftig in unseren Städten und Gemeinden aussieht. "Wir brauchen einen Bewusstseinswandel der Menschen zu ihrer Macht als Verbraucher", betont Natascha Kohnen, die Generalsekretärin der bayerischen SPD. Darüber herrscht Einigkeit über Parteigrenzen hinweg. "Jeder Verbraucher", sagt MdB Hans-Peter Uhl (CSU), "muss durch sein Einkaufsverhalten vor Ort entscheiden, wie wichtig ihm ein lebendiges Warenangebot vor Ort ist".

 

Fakten

Die Studie "E-Commerce Strategien für den mittelständischen Einzelhandel" ist unter www.stmwi.bayern.de/service/publikationen abrufbar.

Der Jahreswirtschaftsbericht 2014 der Stadt München liegt unter http://www.wirtschaft-muenchen.de/publikationen/pdfs/Jahreswirtschaftsbericht-muenchen-2014.pdf vor.

Real gehen die Umsätze im bayerischen Einzelhandel zurück: seit 2003 im Schnitt seit 2003 um knapp ein Prozent jedes Jahr.

Derzeit gibt es in Bayern noch rund 9.000 stationäre Lebensmittelgeschäfte.

In München gibt es 8.066 Einzelhandelsbetriebe.

Pro Einwohner gibt es in München 1,2 qm Verkaufsfläche im Einzelhandel.

Die Verkaufsflächen im Einzeljandel in München wuchsen 1996 bis 2012 nur um 0,5 Prozent im Jahr. Die Zunahme wurde durch den Bevölkerungszuwachs weitgehend kompensiert.

In den vier verdichteten Stadtvierteln (Schwanthalerhöhe, Isarvorstadt u.a.) gingen die Verkaufsflächen seit 1996 um 11 Prozent zurück.

In den fünf Stadtvierteln mit der geringsten Bevölkerungsdichte (Aubing, Allach u.a.) wuchsen die Verkaufsflächen seit 1996 um 49 Prozent.

Im Handel entstehen größere Verkaufseinheiten, die auf die Erreichbarkeit durch Autos setzen - also in weniger dicht besiedelten Vierteln. Das kann dort zugleich zu einer Ausdünnung des Versorgungsnetzes führen, zu einer Verschlechterung der wohnortnahen Grundversorgung.

Die Marktanteile der kleinteiligen Fachgeschäfte in München ist rückläufig. Zuwächse verzeichnen Discounter, Super- und Verbrauchermärkte.

Quellen: HBE / "E-Commerce Strategien für den mittelständischen Einzelhandel" / Referat für Arbeit und Wirtschaft LHM

 

Zehn mal Plus

Die stationären Einzelhändler in unseren Viertel und Gemeinden leisten vieles für die Bürger, was sich Internet-Giganten und Versand-Riesen sparen:

1. Einzelhändler sind Jobmotoren für Städte und Gemeinden: Sie schaffen und erhalten Arbeitsplätze vor Ort. Pendelverkehr wird vermieden.

2. Sie bilden aus: Sie begegnen dem drohenden Fachkräftemangel und übernehmen Verantwortung für die nächste Generation.

3. Einzelhändler bieten wohnortnahe Arbeitsplätze. Das macht es Müttern und Vätern leichter, Familie und Beruf zu vereinbaren.

4. Die Steuerleistung der kleinen und mittelständischen Unternehmen trägt unsere Kommunen und verschwindet nicht in "Steueroasen" und durch Abrechnungstricks.

5. Einzelhändler beraten jeden persönlich, denn sie kennen ihre Kunden.

6. Sie erklären ihre Produkte. Sie sind auch dann da, wenn es mal Probleme gibt.

7. Sie helfen beim Installieren technischer Geräte und übernehmen Reparaturen.

8. Im Geschäft vor Ort können Kunden sehen, fühlen und z.B. anprobieren - bevor sie etwas kaufen.

9. Einzelhändler sind im Viertel - manche seit Generationen - verwurzelt. Sie springen ein, wenn Not am Mann ist. Sie rüsten Sportvereine aus, sie unterstützen Schulen und Kitas.

10. Sie halten traditionelle Feste am Leben und machen kulturelle Veranstaltungen durch ihre Beiträge oft erst möglich.

 

Bons sammeln und ein Hotel-Wochenende gewinnen!

Jeder kann mit seinem  Einkaufsverhalten seinen Teil dazu beitragen, dass es auch in Zukunft noch Geschäfte gibt, die man leicht und zu Fuß erreichen kann, um die Dinge des täglichen Bedarfs unkompliziert zu bekommen. Sie entscheiden!

Gehen Sie zu „echten“ Händlern? Kaufen Sie in Ihrem Viertel ein anstatt bei Online-Giganten? Was schätzen Sie an Ihrem Händler vor Ort besonders?

Wir unter allen Lesern, die in ihrem Viertel lokal einkaufen, Hotel-Gutscheine  für  einen  Wochenendaufenthalt in den Bergen. Sammeln Sie bei  Ihren  Einkäufen in Geschäften Ihres Viertels Kassenbons: Unter allen Lesern, die uns bis 7. Mai Juni fünf "lokale" Bons schicken und ihre Geschichten erzählen, verlosen wir die Hotel-Gutscheine.

Unsere Adresse: Münchner Wochenanzeiger, „Wer weiter denkt ...“, Fürstenrieder Str.  7-11,  80687  München (oder Scan an leser@muenchenweit.de).

Weitere Beiträge

- Was sagen unsere Bundes- und Landtagsabgeordneten zur Wettbewerbsverzerrung durch Zalando und Amazon?

- Warum lieben Leser ihre Viertel und welche netten Erlebnisse freuen Kunden und Geschäftsleute?


Verwandte Artikel

Startseite Anzeige aufgeben Zeitung online lesen Jobs Kontakt Facebook Anfahrt