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"Ideen, die uns weitertragen und beflügeln"

Haben wir genug Respekt vor dem Anfangen und neuen Ideen?

"Nie anfangen, aufzuhören. Nie aufhören, anzufangen." Dieser Rat wird Cicero zugeschrieben. Er erinnert an Luthers Apfelbäumchen, mit dem er dem Weltuntergang hoffnungsfroh entgegentreten würde. (Bild: colourbox.com)

Auf den vielen Sprüche-Ansichtskarten im Handel sind genügend gute Ratschläge zu finden, wie man neuen Schwung in den Alltag bekommt oder sich neuen Herausforderungen stellt. Da steht zum Beispiel: „Wer ins kalte Wasser springt, taucht ein in ein Meer voller Möglichkeiten.“ Und der römische Philosoph Marcus Tullius Cicero gab vor rund 2.000 Jahren einen kleinen Motivationsschub 
in Sachen Neuanfang und sagte: „Nie anfangen, aufzuhören. Nie aufhören, anzufangen."

In der Sommerrunde waren sich alle Teilnehmer einig, dass sich ein Sprung ins kalte Wasser allemal lohnt. „Ich bin passionierter Anfänger!“, stellte sich Hans Wilhelm Knape vor. Neuanfänge habe es in seinem Leben schon oft gegeben, meinte er und skizzierte seinen Lebensweg vom global tätigen Automobilentwickler bis zum Initiator der ehrenamtlichen Radlwerkstatt und Gründer der gemeinnützigen GRAIN GmbH, die Flüchtlingen auf ihrem Weg zu Praktika und Arbeitsstellen begleitet.

Ins kalte Wasser springen! Und dann?

„Ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, vor der eigenen Haustür Dinge aufzugreifen, die nötig sind. Ich nenne das ein gedeihliches Miteinander, für das einzusetzen sich sehr lohnt“, sagte Knape. „Interessante Gelegenheiten kommen selten im Leben. Wenn diese dann aber dazu passen, was einen selbst gerade umtreibt, sollte man sie unbedingt nutzen! Über solche Chancen kommt man mit anderen Menschen in Kontakt und erlebt Interessantes. Und dann wird daraus auch eine Welle und Ideen, die uns weitertragen und beflügeln. Das ist toll!“

Das Miteinander im Ideenfindungsprozess kennt auch Ulrike Bauer sehr gut. „Unser Kollegium unternimmt häufig etwas Gemeinsames. Damit steigen wir aus unserem gewohnten Denkrahmen aus. Die Ideenfindung passiert dann so: Jede hat eine Idee und wirft sie in die Runde. Im Gespräch entwickeln sich unsere Ideen und Neues entsteht.“ In solch einem sicheren Rahmen könne man leichter ins kalte Wasser springen, so Bauer.

Eine Idee allein? Langweilig!

Das Abspringen und eintauchen – um in der Metapher zu bleiben – sei das eine, meinte Coach und Hospizhelferin Stefanie Rall. „Aber wenn man im Meer der Möglichkeiten ist, geht es um die Verbindung miteinander. Erst wenn wir Altes wirklich loslassen, in den Austausch miteinander kommen und Erfahrungen teilen, gehen wir etwas Neues ein.“ Dafür hatte sie ganz persönliche Erfahrungen parat. Denn um ihrem Leben eine neue Wendung zu geben, hatte sie sich für zwei Monate in ein Kloster zurückgezogen.

„Aus den zwei Monaten wurden zwölf“, erzählte sie weiter. „Am Ende bin ich mit einer Idee zurückgekommen. Aber ohne den Input von anderen hätte ich mich nie getraut, wirklich selbstständig zu werden. Und ich wäre nie in die ehrenamtliche Hospizarbeit gegangen.“

Scheitern ist nicht schlimm

Freunde, Kollegen, Partner geben also die nötige Inspiration und Hilfestellung, wenn es um neue Projekte geht. Den Mut zum Absprung oder eben auch das Selbstvertrauen, ein neues Projekt öffentlich zu machen, muss man schon selbst aufbringen. „Die Frage „Kann ich schwimmen?“ lässt sich streng genommen nicht beantworten, wenn ich noch gar nicht im Wasser war“, meinte Philosoph und Rechtsanwalt Franz-Alois Fischer.

„Aus meiner Sicht spielt immer eine Ungewissheit mit. Man kann nie zu 100 Prozent wissen, ob man Erfolg hat, also ob man wirklich schwimmen kann. Gut also, wenn man zu zweit springt“, kommentierte er die Metapher. Denn in jedem Neuanfang, in jeder neuen Idee sei immer auch die Möglichkeit vorhanden, „dass es nicht klappt und man scheitert. Das ist überhaupt nicht schlimm. Nur leider wird das Scheitern bei uns tabuisiert. Damit verbaut man sich viel.“

Was ist, wenn es nicht klappt?

Lieber also vom Status Quo ausgehen und schauen, was wirklich erneuert werden solle, erklärte die Elftklässlerin  Priyanka Joshi. „Ich denke, dass am Anfang neuer Ideen immer auch eine Situation steht, in der eine gewisse Unzufriedenheit herrscht. Daraus würde ich Schlüsse ziehen. Was läuft gut, was nehme ich mit? Was läuft nicht und kann hinter mir gelassen werden? Aus diesen Überlegungen heraus passieren echte Weiterentwicklungen.“

Diesem Gedanken stimmte Bauer voll zu. „Oft kommt man wegen des Scheiterns weiter. Denn das Scheitern zwingt uns, Umwege zu gehenoder die Dinge wieder neu zu denken. Fehler sind wahnsinnig wichtig.“ Nicht zuletzt sind viele große Entdeckungen in der Menschheitsgeschichte erst durch Irrtümer und Fehler möglich geworden. Beispiel Christoph Kolumbus: der stach 1492 in See, um den Weg von Spanien nach Indien zu erkunden und landete in Amerika.

Dürfen wir scheitern?

Ihren Schülern sage sie oft: „Macht ruhig Fehler! Daraus könne wir alle lernen“, so Bauer und rufe damit schnell die Eltern auf den Plan, die Erfolge und gute Noten sehen wollen. Beim Stichwort Eltern fielen auch Florian Bamminger Anekdoten ein. "Es stehen gefühlte 1.000 Trainer am Spielfeld, wenn Kinder- oder Jugendmannschaften spielen. Damit haben die Kinder gar keine Freiräume mehr, ihr eigenes Spiel zu machen oder als Mannschaft zusammenzukommen. Aus diesem Grund haben wir eine 25-Meter-Linie zum Spielfeld eingerichtet“, berichtete er.

Das Erfolgsdenken der Eltern fange schon im Fußball-Kindergarten an. Später forderten die Eltern auch mal neue Trainer, wenn die Kinder „nur“ in der Abwehr spielten. „Ganz abgesehen davon, dass Fußball eine Mannschaftssportart ist und alle Feldspieler eine wichtige Rolle haben, hemmt der Druck aus der Elternschaft die Kinder total und macht sie ängstlich. Wir geben den Kindern dagegen auf dem Weg: schießt, tut, macht. Später schauen wir uns gemeinsam an, was nicht so geklappt hat.“

Freiräume zum Ausprobieren

Selber machen, ausprobieren, Freiräume schaffen: So sehe das neue Grundschulkonzept bereits aus, erklärte Bauer. „Es ändert sich im Unterrichtskonzept gerade Grundlegendes. Im Vordergrund steht Kompetenzorientierung statt Vorschriften. Das ist wirklich sehr spannend und macht allen Spaß. Unsere Aufgabe besteht eigentlich vor allem darin, den Kindern die Freiheit einzuräumen, die sie zum Ausprobieren brauchen. Wer da schwer mitgehen kann, sind meist die Eltern“, bedauerte sie. „Die müssen loslassen, anstatt auf Kontrolle und Erfolg fixiert zu sein.“ Auch in der Bewertung gehe die Schule einen Schritt weiter. Statt Noten seien Lernentwicklungsgespräche mit Selbsteinschätzung und Zielsetzung an der Tagesordnung.

In Amerika sei dies übrigens schon immer anders gewesen, erzählte Rall von ihrem Studium in den USA. „Da heißt es „Just do it! Und jeder legt los, auch auf die Gefahr des Scheiterns hin.“ Fischer konnte dies bestätigen. „Ich hatte Mandanten aus Amerika, die hier erfolgreich ein Startup geführt hatten. Auf die Frage zum Unterschied zwischen USA und Deutschland antworteten sie: Das Scheitern ist in Amerika nicht tabuisiert. Das gehört dazu. Gründer und Investoren denken so. Auch wenn sich bei Weitem nicht alles auszahlt und manches einfach nicht geht, wird investiert.“

„Just do it!“

Er vermisse diese Einstellung hierzulande sehr. „Übrigens auch an den Unis. Als Dozent an der FOM bekomme ich mit, wie sehr die Bachelor-Entwicklung beengt und wie wenig Unternehmergeist in den Studenten geweckt wird. Schade!“ Schön, dass es in den Grundschulen zumindest andere Ansätze gebe, so Fischer. „Ja, das ist toll. Das gibt uns Schülern unfassbar viel“, bestätigte Joshi. „Als ich Schülersprecherin war, bezogen wir immer so viele wie möglich in die Schulentscheidungen ein. Die Schüler wurden gesehen, ihr Input war wichtig. Das stärkt ungemein, in der jeweiligen Situation wie auch später.“

Was aber, wenn das Scheitern stigmatisiere? In der Schule, aber vor allem im Arbeitsprozess? „Geh mal nach einem Crash zu einer Bank und bitte um einen neuen Kredit“, spielte Knape ein Szenario durch. „Der Verlierer hat einen Stempel aufgedrückt bekommen, den er ganz, ganz schwer wieder loswird. Der kommt ganz schlecht wieder auf die Beine.“ Der Druck in Richtung Erfolg, den Eltern auf ihre Kinder in der Schule oder im Sport an den Tag legten, zeugt also nur von diesen gesellschaftlichen Zwängen.

Stimmt die Unternehmenskultur?

Hinzukomme die Verantwortung, die als Chef oder Familienmensch auf einen laste und die den Sprung ins kalte Wasser, wenn nicht verhindere, so doch lange überlegen ließe, meinte Bauer. „Von der Unternehmensseite gesehen muss ein Chef heutzutage innovativ und ideenreich sein“, widersprach Wolfgang Kiefl vom Buchendorfer Gartencenter mit über 100 Mitarbeitern.

„Wenn wir nicht ständig bereit sind, uns zu verändern und Neues auszuprobieren, dann sind wir schnell weg vom Fenster und können schließen. Mangelnde Risikobereitschaft und Sicherheitsgedanken passen heute überhaupt nicht mehr zu einer modernen Unternehmenskultur.“ Für ihn seien alle Mitarbeitervorschläge wichtig und würden aufgegriffen. „Was mich vielmehr stört an unserer Kultur, ist das unbedingte Durchhalten. Manche Ideen erweisen sich über kurz oder lang als Missgriff, aber aufgegeben werden sie deshalb noch lange nicht. Das sollte man überdenken!“

"Öfters mal etwas Sinnloses machen"

Zu den wichtigen Rahmenbedingungen für Neuanfänge zählte Kiefl Freiräume, die auch Fehler und Scheitern einräumten und genügend Möglichkeiten zum Weiterentwickeln ließen. „Da tun wir uns als Leistungsgesellschaft einfach schwer. Ich als Chef bin herausgefordert, diese Rahmenbedingungen zu schaffen.“ Doch immer nur aus dem individuellen Selbstverwirklichungsblickwinkel geschaut, bleibt vieles auf der Strecke. „Teamqualität zum Beispiel“, so Knape. „Wir sollten eine Balance finden zwischen dem Selbst als Individuum und als Baustein einer Gemeinschaft.“

„Aus philosophischer Perspektive bekommen neue Ideen als Selbstoptimierung schnell einen zweckgerichteten Touch“, bestätigte auch Fischer. „Man sollte ruhig öfters mal etwas Sinnloses machen. Da kann aus meiner Sicht was sehr Sinnhaftes entstehen“, sagte er und brach damit eine Lanze für den spielerischen Umgang mit Neuem oder für den Sprung ins kalte Wasser, mal nur des Sprunges willen.

Was wirklich zählt

Ob etwas tatsächlich sinnfrei oder sinnvoll ist oder sich später als solches herausstellt, ist im Moment des Anfanges noch gar nicht abzuschätzen. Vor allem im hohen Alter erscheinen die verschiedenen Lebenserfahrungen, die Neuanfänge und verrückten Ideen in ganz anderem Licht, als zum Zeitpunkt des „Sprungs ins kalte Wasser“.

„Am Ende des Lebens kommt die Frage auf, wer bin ich eigentlich gewesen und was hat mich ausgemacht“, erzählte Hospizhelferin Rall von ihrem Ehrenamt. „Und meist sind es die ganz kleinen Momente gewesen, die im Rückblick betrachtet die allergrößten waren. Wenn echte Verbindungen mit anderen Menschen möglich waren. Oder wenn jemanden etwas gelungen ist, womit er über sich hinausgewachsen war. Das sind die Momente, die zählen. Wenn wir also in der Schule schon Impulse bekommen, darüber nachzudenken, wer wir eigentlich sind und uns dementsprechend ausprobieren können, dann ist der Weg richtig.“

 

Unsere Sommer-Frage

Was haben Sie bisher noch nie getan, das Sie aber auf alle Fälle einmal tun wollen? Unsere Gäste antworten:

Florian Bamminger: Eine Weltreise!

Ulrike Bauer: Ein Buch schreiben und den Inka-Trail gehen

Prof. Dr. Franz-Alois Fischer: Ein kleines Bistro eröffnen mit dem Namen „Wein und Zeit“, dort Risotto kochen und ausgewählte Weine ausschenken.

Priyanka Joshi: Mal ganz allein und ohen Handy in mein Lieblingsrestaurant zum Essen gehen.

Wolfgang Kiefl: Am besten mal einen Monat raus aus dem Alltag und ohne Zeitdruck Dinge tun, die mir wichtig sind

Hans Wilhelm Knape: Auf Kolumbus-Wegen über den Atlantik segeln.

Stefanie Rall: Ein Mehrgenerationen-Seminarhaus gründen.

 

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Florian Bamminger, 1. Vorstand FC Wacker München

Ulrike Bauer, Rektorin Grundschule Plinganserstraße, Sendling

Prof. Dr. Franz-Alois Fischer, Professor für öffentliches Recht, FOM Hochschule für Oekonomie & Management

Priyanka Joshi, ehem. Schülersprecherin, Max-Planck-Gymnasium Pasing

Wolfgang Kiefl, Geschäftsführer Gartencenter Kiefl

Hans Wilhelm Knape, Gemeinderat Gauting, neue Fraktion „Soziale Ökologen“, Initiator Radlwerkstatt

Stefanie Rall, ehrenamtliche Hospizhelferin

 

Respekt zeigen

Respekt meint nichts anderes als guten Willen: Aushalten, dass es andere Bewertungen und Erfahrungen neben den eigenen gibt. Die unmittelbare Folge daraus ist, Mitgefühl empfinden zu können. Jedes familiäre, jedes soziale und politische Problem lässt sich durch das Maß an Mitgefühl definieren, das wir füreinander aufbringen oder eben nicht. Welchen Menschen und Einrichtungen, welchen Leistungen, Fähigkeiten und Tätigkeiten begegnen wir mit Respekt?


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