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„Ich wollte am Leben bleiben“

Wigand Wüster hat Kriegserinnerungen in Aquarellen festgehalten

Viel sachlicher müsste über den Zweiten Weltkrieg gesprochen werden, findet Dr. Wigand Wüster. Er war an der Front, in Frankreich, Polen, Russland, überlebte Stalingrad und anschließend sieben Jahre Kriegsgefangenschaft. Fällt es nach diesen furchtbaren Erlebnissen nicht schwer, sachlich zu bleiben? „Ich hatte keine emotionalen Erlebnisse. Ich wollte am Leben bleiben“, sagt der fast 93-jährige Jurist.

Im SamstagsBlatt vom 27. April haben wir unter dem Titel „Versiegende Quellen“ Politiker und Leser gefragt, ob sie mit ihren Verwandten über die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg gesprochen haben oder ob Zeitzeugen ihre Erinnerungen mit uns teilen möchten.

Bücher, Bilder, Schiffsmodelle

Wigand Wüster teilt seine Kriegserinnerungen bereitwillig. Seit seiner Pensionierung mit 63 Jahren hat er Vorträge gehalten, Bücher  geschrieben und Dutzende von Aquarellen gemalt, die Szenen aus dem Krieg und der Gefangenschaft eindrucksvoll darstellen. Seine sachliche Art zu berichten kommt auch im Ausland gut an: Ins Russische und ins Englische wurden seine Texte übersetzt. „ Von Charkow bis Stalingrad: Ein Artillerieoffizier im Sommerfeldzug 1942 “ heißt sein Ende 2012 bei Druffel & Vowinckel erschienenes Buch und schon vorher hat er im Eigenverlag seine zweibändige Autobiografie „Überleben... war für uns nicht vorgesehen“ veröffentlicht. In der Wohnung stehen auch zahlreiche detailgetreue Schiffsmodelle, die er selbst gebaut hat. Den Modellbau hat er inzwischen altersbedingt aufgegeben, doch im Weitergeben seiner Erinnerungen ist er unermüdlich.

Wüsters Sohn, inzwischen selbst schon Pensionär, interessiert die Aufarbeitung der Geschichte sehr, „er ist fleißiger als ich“, schmunzelt der großgewachsene Mann. Seine Schwiegertochter und seine Enkelin dagegen würden ihn nicht gerade mit Fragen löchern, wie das alles denn damals war. Stapelweise Aquarellbilder, Fotoalben und Ordner mit Dokumenten breitet er auf dem Wohnzimmertisch in der Dachwohnung in Fürstenried aus. Und zu jedem Stück berichtet er detailliert.

"Wie ein Ackergaul"

Die Offizierslaufbahn sei damals groß in Mode gewesen, erzählt der 1920 in Göttingen geborene Wigand Wüster. Er bezeichnet sich selbst als Mitläufer, „Widerstandsgefühle sind mir gar nicht gekommen“. Im Krieg habe er „wie ein Ackergaul“ seine Pflicht getan. In Stalingrad war er Oberleutnant. Verantwortung für seine Männer zu haben, habe ihm die Sache leichter gemacht, vom eigenen Schicksal abgelenkt. Dem Glück verdanke er es, dass er ohne nennenswerte Verletzungen zurückgekehrt sei. „Natürlich war es scheußlich, wenn man einem verletzten Kameraden Erste Hilfe leisten musste und schon sah, dass er nicht überleben würde. Und es war auch scheußlich, die Briefe an die Angehörigen zu schreiben.“

In Stalingrad wurde er gefangen genommen, kämpfte mit Fleckfieber, Ruhr und miserabler Verpflegung, es gab viele Tote, auch während der Eisenbahntransporte. Eins seiner Aquarelle zeigt die Szene, wie sich eine Gruppe Gefangener überm Feuer einen Hund brät, um das Fleisch zu essen. „Am 8. Mai 1945 wurde uns dann groß verkündet, dass wir nun keine Kriegsgefangenen mehr seien, sondern Zwangsarbeiter.“

Die vielen Verfilmungen der Geschehnisse, die es inzwischen gibt, "die hauen nicht hin", sagt der Zeitzeuge. Was ihn daran stört? "Die Tendenz."

"Ein normales Verhältnis"

Über die Judenverfolgung habe man bei ihm in der Familie verständnislos und ungläubig den Kopf geschüttelt und auch in der Schule sei der einzige Unterschied zwischen Nichtjuden und Juden der Religionsunterricht gewesen. Die Massenvernichtung habe man damals gar nicht wahrhaben wollen. „Heute müssen wir wieder ein normales Verhältnis finden“, fordert Wüster. Er kehrte 1950 aus der Kriegsgefangenschaft zurück und nahm sofort ein Jura-Studium auf, das er 1955 mit „Sehr gut“ abschloss. Er war dann mit Entschädigungszahlungen befasst und meint, die Juden wurden vom deutschen Staat finanziell „sauber und ordentlich entschädigt“. Allerdings sei auf internationaler Ebene sicherlich viel Geld nicht bei den Opfern angekommen.

Weg von der Parteipolitik

Was können die nachfolgenden Generationen aus der Geschichte lernen? Von den Politikern, die heute das Sagen haben, wünscht sich Wigand Wüster, sie würden nicht Parteipolitik machen, sondern deutsche Politik. Sie sollten endlich eine Verfassung machen, was seiner Meinung nach spätestens bei der Wiedervereinigung hätte passieren müssen.

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