Wochenanzeiger München Wir sind Ihr Wochenblatt für München und Umland

"Ich profitiere jeden Tag davon"

Vergessen wir, wie wichtig Europa für unsere Lebensqualität ist?

Europa, quo vadis? Im "Sommermärchen" ging es um die Zukunft der Menschen, der Vision und des europäischen Gedankens. (Bild: Milly Orthen)

Es war einmal ...

Das Märchen der Gebrüder Grimm "Der Fischer und seine Frau" erzählt von einem Ehepaar, dem es gar nicht so schlecht geht, das aber dennoch immer mehr will. Auch in Europa mehren sich Stimmen, die fordern und verlangen. Riskieren die Europäer ihre Einheit, weil sie nicht zu schätzen wissen, was sie haben?

Seine Frau, die Ilsebill, will nicht so, wie er gern will – das stellt der Fischer im Gebrüder-Grimm-Märchen "Der Fischer und seine Frau" schnell fest. Ilsebill bekommt ihre Wünsche erfüllt, einen nach dem anderen. Zufrieden ist sie dennoch nie: "So solls bleiben", sagte der Mann, "nun wollen wir recht vergnügt leben." "Das wollen wir uns bedenken", sagte die Frau. Am Ende führt Ilsebills Gier dazu, dass die Eheleute alles verlieren und wieder in ihre wenig erstrebenswerte Ausgangslage zurückfallen: "Geh nur hin, sie sitzt schon wieder im Topfe."

Der Fischer und seine Frau erzählt von Zufriedenheit und Streben nach mehr - und der Balance zwischen beidem.

 

Viel gefordert, viel gewonnen

Die Wochenanzeiger haben in diesem Sommer Märchen mit aktuellen Fragen verknüpft – ein jedes Märchen ist auch Wertvorstellung, Mahnung und Verhaltenskodex. "Der Fischer und seine Frau" lässt sich auf die Geschichte der europäischen Einigung übertragen: Über Jahrzehnte haben die Staaten Europas viel gefordert und viel gewonnen, sind zusammengewachsen, haben wirtschaftlichen Wohlstand und kulturelle Bereicherung erfahren. Dennoch mehren sich die Stimmen derer, die Veränderung fordern, Alternativen und Nachbesserungen. Aus "Der Fischer und seine Frau" ist zu lernen: Wer nicht zu schätzen weiß, was er hat, geht unter. Wer immer mehr will und dabei vergisst, wie gut es ihm geht, verspielt das Erreichte. Haben die Mitglieder der Europäischen Union (EU) und ihre Menschen verstanden, dass sie nicht die Rolle der Ilsebill übernehmen sollten?

Wir haben uns mit Europäern der ersten Stunde, mit Wirtschaftsvertretern, Politikern und Menschen, die im interkulturellen Dialog tätig sind, über Europa unterhalten. Wir haben mit Menschen gesprochen, die Europas Vorzüge kennen, sich aber nicht scheuen, bestehende Probleme aufzuzeigen – damit am Ende nicht alle wieder "im Topfe" sitzen:

"Wir leben in Frieden und Wohlstand"

Oft wird über die vielen Vorteile gesprochen, die Europäer haben – dank der EU. Die Mitgliedstaaten und ihre Bürger könnten sich glücklich schätzen, täglich die Vorzüge der Union genießen zu dürfen. Wie sieht dieses abstrakte 'Profitieren' konkret aus?

Georg Fichtner: Ich profitiere definitiv jeden Tag ganz fassbar von Europa: Ich kann über die Grenze fahren wann ich möchte, ohne Kontrollen. Will ich meinen Lebensabend in Spanien verbringen, kann ich das tun: Ich kann mich überall innerhalb der EU niederlassen. Und dann die gemeinsame Währung Euro – es gibt keine nationalstaatlichen Schwankungen, Preise sind leicht zu vergleichen.

Konstanze Bauer: Wir leben in Frieden und Wohlstand. Das weiß ich sehr zu schätzen.

Bernd Posselt: Ja, der Frieden: Ich habe einmal eine Rede auf einer Burg gehalten. Der Schlossherr erzählte mir, seine Familie halte die Burg seit 500 Jahren. Jede einzelne Generation musste in den Krieg ziehen. Sein Sohn sei der Erste, der in Frieden lebt. Er sei sich aber nicht sicher, ob dieser das auch zu schätzen wisse. Ich denke, wir müssen den jungen Leuten erklären, wie besonders der Frieden ist. Heranwachsende sind ja nicht blöd; sie werden verstehen, dass Frieden nur zu erhalten ist, wenn aktiv dafür gearbeitet wird. Dann können auch die Enkelkinder des Schlossherrn friedlich leben.

Frank Dollendorf: Ich möchte noch einmal auf offene Grenzen und den Euro zurückkommen: Wir haben in Moment ein Au-Pair-Mädchen aus Brasilien im Haus. An ihr sehe ich die Besonderheit dessen, was für uns selbstverständlich ist – sie ist im positiven Sinne völlig konsterniert von dieser Vereinigung aus 28 Ländern. Sie kann es gar nicht fassen, dass sie hier in den Zug steigen und bis nach Frankreich, Spanien oder Italien fahren kann, ohne ihren Pass zeigen zu müssen.

"Gemeinsamkeiten überwiegen"

Diese freudige Überraschung angesichts offener Grenzen ist den Menschen innerhalb der EU abhanden gekommen. Für sie ist freies Reisen oder Frieden selbstverständlich. Europa ist selbstverständlich. Kann das angesichts vielfältiger Herausforderungen von außen zum Problem werden? Haben die Menschen ausreichende 'europäische Identität', um Erreichtes gegen Kritik zu verteidigen?

Bernd Posselt: Man kann sich selbstverständlich als Europäer fühlen, das heißt aber nicht, dass Europa als politisch handlungsfähiger Körper selbstverständlich ist. Wir haben unter anderem zur Flüchtlingskrise gesehen, wann Europa krankt: Immer dann, wenn es kein gemeinsames Konzept gibt. Das bedeutet aber nicht, dass Europa oder die 'Europäische Identität' versagt. Vielmehr sind die Nationalstaaten gescheitert.

Willy Kästner: Die Menschen bekommen angesichts verschiedener Krisenherde von außerhalb das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Sie denken: Das System kann kippen, unser Wohlstand ist bedroht. 'Europäische Identität' verliert bei vermeintlicher Bedrohung gegenüber kleinstaatlichem Denken. In solchen Situationen muss darauf hingewiesen werden, dass Gemeinsamkeiten überwiegen. Reisen in andere europäische Länder und kultureller Austausch helfen. Es muss klar werden, dass alles, was Europa heute ist, erarbeitet wurde. Errungenschaften wie Gewaltenteilung und Währungsunion entstehen nicht aus dem Nichts heraus – über Unterschiede hinweg wurde hier an einem Strang gezogen.

Sümeyye Ugur: Ich glaube, genau an diesem Aufzeigen der Gemeinsamkeiten krankt es. 'Europa-Identiät' ist weiterhin stark in den Eliten verhaftet. Universitäten lehren europäische politische Bildung, bieten Austausch an. Was fehlt, ist europäisch geprägte Bildung an Schulen. Gerade Migranten beziehen alle Informationen zu Europa aus sozialen Netzwerken. Das darf nicht die einzige Quelle sein, die für junge Leute das Fenster nach Europa öffnet. Es braucht jemanden, der Jugendliche an der Hand nimmt und ihnen die großen Dimensionen aufzeigt.

Bernd Posselt: Es gibt bereits gute Ansätze: Die Robert-Bosch-Fachoberschule sendet ihre Schüler in verschiedene europäische Länder, sie arbeiten dort. Ein junger Mann hat mir von seiner Zeit in Rumänien berichtet: Er musste sich erst daran gewöhnen, dass die Hausfrau zum Frühstück Schnaps ans Bett gebracht hat. Sonst hat es ihm gut gefallen – keine Sorge. Ich denke das ist das perfekte Beispiel guten Austausches auch außerhalb akademischer Kreise. Im Mittelalter gab es die Walz. Da war man weiter als heute. Dahin müssen wir zurück.

Frank Dollendorf: Die Industrie- und Handelskammer bildet selbst aus. Für unsere Lehrlinge sind Auslandsaufenthalte vorgesehen, alle Teilnehmer haben begeistert berichtet. Es ist unwahrscheinlich wichtig, dass Austausch nicht nur universitärer Ausbildung vorbehalten bleibt – Verständigung muss durch alle Gesellschaftsschichten gehen.

"In Vielfalt geeint"

Junge Menschen müssen also wieder erfahren, dass es sich lohnt, über den eigenen Gartenzaun zu blicken und neue Erfahrungen zu machen. Nehmen wir einmal an, das gelingt und die Europäische Union bleibt bestehen. Wo steht der Kontinent in 50 Jahren, welche Wünsche und Hoffnungen gibt es?

Konstanze Bauer: Wir leben demokratisch, rechtsstaatlich und friedlich miteinander – und natürlich überzeugt von Europa.

Bernd Posselt: Wir haben im Idealfall Gemeinschaftsinstitutionen ohne absoluten Zentralismus. Eigenarten werden respektiert, die Bürger haben viel Freiheit. Gleichzeitig ist Europa international handlungsfähig, die Menschen haben starkes europäisches Bewusstsein. Außerdem werden in der EU als Rechtsgemeinschaft Regeln eingehalten. Wir sind hoffentlich weg vom Einstimmigkeitsprinzip –  heute ist das, als würde ein schlechter Schüler nur dann nicht versetzt werden, wenn die Klasse einstimmig beschließt, ihn durchfallen zu lassen. Es braucht ein Mehrheitsprinzip und handlungsfähige supranationale Institutionen, die nicht von Nationalstaaten blockiert werden können.

Willy Kästner: Ich träume von den Vereinigten Staaten von Europa, aufgebaut auf den Prinzipien, die wir die letzten Jahrzehnten vertreten haben.

Georg Fichtner: Das ist es: Ein europäischer Bundesstaat, der Prinzipien der Subsidiarität respektiert, der Demokratie und Rechtsstaat vorlebt und es seinen Menschen ermöglicht, sich selbst zu verwirklichen. Immer wenn ein Nationalstaat zu Gunsten des europäischen Gedankens zurücksteckt, gewinnen alle. Europa ist dann noch großartiger als heute.

Frank Dollendorf: Ich glaube ebenso an ein vereintes Europa mit gelebter Unterschiedlichkeit. Europa ist zum Erfolg verdammt und die Thermik ist gut. Das macht es doch aus: in Unterschiedlichkeit vereint.

Georg Fichtner: Das ist schon heute das Motto Europas: 'United in diversity' – 'In Vielfalt geeint'.

Sümeyye Ugur: Ich habe die Hoffnung auf ein vielfältiges Europa mit guten Werten. Ich hoffe, die Menschen sind keine homogene Masse – im Idealfall betrachten sie Freiheit nicht als selbstverständlich und kämpfen weiter für ihre Einheit. Alle sollten sich bewusst machen, wie wichtig das ist.

Eine märchenhafte Frage

Welche Märchenfigur würden Sie gerne einmal unter vier Augen sprechen? Unsere Gäste antworteten:

Konstanze Bauer: "Ich möchte mich mit dem Vater von Hänsel und Gretel unterhalten. Er stimmt zu, seine Kinder im Wald auszusetzen. Ich treffe bei meiner Arbeit im Helferkreis Menschen, die tatsächlich ihre Kinder zurücklassen mussten. Von Hänsel und Gretels Vater würde ich gerne erfahren, welche tragischen Gründe zu dieser Entscheidung führen, die für mich als Mutter die schlimmste überhaupt wäre."

Frank Dollendorf: "Märchen sind momentan mein täglich Brot, wir haben einen Fünfjährigen zuhause. Ich habe mich für die Mutter des Teufels aus 'Der Teufel mit den drei goldenen Haaren' entschieden. Trotz ihres schweren Schicksals bringt diese Mutter ihren Sohn in die richtige Richtung und die Geschichte zu einem guten Ende. Das finde ich bewundernswert."

Georg Fichtner: "Ich möchte Frau Holle fragen, was sie Donald Trump hinsichtlich des Klimawandels zu erzählen hätte."

Willy Kästner: "Den Kaiser aus 'Des Kaisers neue Kleider' würde ich fragen, wie es sich anfühlt, ganz nackt in der Öffentlichkeit dazustehen. Ich glaube, das kann auch auf uns deutsche Europäer bald zukommen, dass wir 'nackt' vor der Welt stehen und erklären müssen: Dieselskandal, Siemens-Turbinen auf der annektierten Krim."

Bernd Posselt: "Räuber Hotzenplotz heißt nach einem Fluss, der Tschechien und Polen verbindet. Heute gehört das östliche Mitteleuropa wieder ganz zu Europa. Den Räuber könnte ich fragen, wie er die Jahrzehnte der Trennung hinter dem Eisernen Vorhang verbracht hat."

Sümeyye Ugur: "Ich möchte mich mit der klugen Bauerntochter unterhalten, weil sie modern ist, emanzipiert und eine ungewöhnliche Märchenfigur. Sie zeichnet sich aus durch klugen Verstand und findet ihren Weg selbst. In dieser Geschichte gibt es keine vorgefertigte, feste Moral, keinen erhobenen Zeigefinger, die Bauerntochter beweist, dass Probleme mit dem eigenen Köpfchen lösbar sind."

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Konstanze Bauer (Helferkreis Laim)

Frank Dollendorf (Bereichsleiter Außenwirtschaft bei der IHK für München und Oberbayern)

Georg Fichtner (Organisator Pulse of Europe in München)

Willy Kästner (1. Vorsitzender Deutsch-Französischer Verein Germering e.V.)

Bernd Posselt (Präsident der Paneuropa-Union Deutschland und ehem. Abgeordneter Europäisches Parlament)

Sümeyye Ugur (IDIZEM e.V.)

 

Was denken Sie?

Welche Meinung vertreten Sie? Diskutieren Sie mit! Schreiben Sie uns: Münchner Wochenanzeiger, Redaktion, Fürstenrieder Str. 5-9, 80687 München, leser@muenchenweit.de. Wir veröffentlichen Ihren Standpunkt (nur mit Ihrem Namen).

Unsere Sommergespräche

Alle unsere Sommermärchen finden Sie online hier: www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2506).


Verwandte Artikel

Startseite Anzeige aufgeben Zeitung online lesen Jobs Kontakt Facebook Anfahrt