Wochenanzeiger München Wir sind Ihr Wochenblatt für München und Umland

"Ich hoffe, dass die Menschlichkeit mehr und mehr Kraft bekommt"

Seit zehn Jahren ist Oswald Utz Behindertenbeauftragter der Landeshauptstadt München

"Nur rote Bändchen durchschneiden und Grußworte sprechen, dafür bin ich nicht der Richtige", sagt Oswald Utz. Er kämpft auch nicht für die Bordsteinabsenkung um die Ecke. Dem ehrenamtlichen Behindertenbeauftragten der Landeshauptstadt München geht es darum, Strukturen in der Stadtgesellschaft zu verändern. "Eine behindertenfreundliche Stadt ist auch eine menschenfreundliche Stadt zum Leben", lautet sein Credo.

"Wie viele Menschen können im Arbeitsmarkt nicht mehr mithalten. Wie viele können sich die Stadt nicht mehr leisten, obwohl sie ganztags arbeiten. Die Randgruppen einer Gesellschaft spüren es am meisten, wenn es inhuman zugeht. Wenn wir es für die hinkriegen, dann tut das auch vielen anderen gut." Utz nimmt zwei gegenläufige Bewegungen wahr: einerseits die harte Leistungsgesellschaft, auf der anderen Seite aber auch eine zunehmende soziale Verantwortung: wenn zum Beispiel jemand eine Wohnung bekommt, gerade weil er eine Behinderung hat. "Da fängt etwas an, sich zu verändern, und ich hoffe, dass das mehr und mehr Kraft bekommt."

Ombudsmann, Wächter und Sprachrohr

Oswald Utz ist Ansprechpartner für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen - er ist Ombudsmann, Berater, Zuhörer, Wächter, Sprachrohr. Oder Lotse im Dschungel der zuständigen Stellen und Behörden. "Manchmal werden die Menschen bei Beratungsstellen geradezu wegberaten. Oft sind die Zuständigkeiten aber auch extrem zersplittert. Wenn ich Ratsuchende an eine Stelle verweise und sie weitergeschickt werden, dann frage ich gern nochmal dort nach. Ob ich da etwas missverstanden habe mit der Zuständigkeit." Seine Sprechstunden sind sehr gefragt, deshalb hat er sie im Lauf der Jahre zeitlich immer mehr ausgeweitet.

"Ich habe eine Meinung"

"Ich kann hier eine relativ neutrale Beratung anbieten. Neutral, weil ich keine Rollstühle verkaufe und keine Spendengelder zu verteilen habe. Aber ich habe eine Meinung." Zum Beispiel würde Eltern oft geraten, ihr behindertes Kind in eine Förderschule zu geben. Oswald Utz findet es besser, wenn ein Kind dort zur Schule geht, wo es wohnt und wo auch die Geschwister und Nachbarkinder zur Schule gehen - zumindest würde er diese Möglichkeit prüfen und alles tun, um das zu unterstützen.

In der Stadtverwaltung hat die Arbeit des Behindertenbeauftragten Früchte getragen, blickt Utz auf die vergangenen zehn Jahre zurück. Während früher alles, was mit Behinderung zu tun hat, gleich mal von vornherein in die soziale Ecke weitergeschoben wurde, sei es jetzt als "Querschnittsthema" angekommen. "Inzwischen fühlt man sich in allen Referaten zuständig. Das Thema Behinderungen muss bei allen Entscheidungen bedacht werden. Das muss strukturell verankert sein. Wir sind da auf einem guten Weg", bilanziert Utz.

Wohnheim und Werkstatt

Utz besucht auch Schulen - immer wieder bekommt er Anfragen. Oder er meldet sich für den bundesweiten Vorlesetag einfach als Vorleser. Manchmal besuchen auch ganze Schulklassen sein Büro in der Burgstraße, gleich neben dem Rathaus am Marienplatz. Und was fragen die Schüler so? "Die jüngeren Schüler fragen zum Beispiel ,Schlafen Sie im Rollstuhl?', sie interessieren sich sehr für Alltagsdinge. Je älter die Schüler werden, desto mehr achten sie auf ,political correctness', man spürt richtig die Schere im Kopf." Es sorgt immer wieder für Erstaunen, wenn Oswald Utz erzählt, dass er seiner Arbeit im Büro nachgeht, eine nichtbehinderte Partnerin und eine nichtbehinderte Tochter hat und in einem Haus wohnt, in dem jeder seiner Zuhörer der Nachbar sein könnte. "Es ist allgemein noch sehr das Bild verbreitet, dass Menschen mit Behinderung in einem Wohnheim wohnen und in einer Werkstatt arbeiten." Und immer wieder falle den Schülern auf, dass sie selbst auch niemanden mit Behinderung kennen - im Jugendzentrum oder im Verein gibt es da niemanden. Viele halten sich wohl in den "Parallelwelten" für Menschen mit Behinderung auf.

"Warum müssen die anderen behindert sein?"

Ein Beispiel aus dem Beratungsalltag: "Die Mutter einer behinderten Tochter rief mich an: ihre Tochter würde gern singen. Ob ich denn eine Gruppe wüsste, in der Behinderte singen. Ich fragte: ,Warum müssen die anderen behindert sind, wenn Ihre Tochter singen will?' - Stille." Die Tochter singt inzwischen glücklich in einem Kirchenchor. Und die Mutter fragt sich selber kopfschüttelnd, warum sie ihr Kind automatisch in eine Behindertengruppe einsortieren wollte. Wahrscheinlich, weil man es halt so gewöhnt ist.

Unbequeme Wahrheiten

Dass Menschen mit Behinderung am ganz normalen Leben teilhaben können, das gehört zu den Zielen des Behindertenbeauftragten. Einen barrierefreien Zugang betrachtet er nicht als Inklusion, sondern als Grundvoraussetzung. Und er betont: "Zur Teilhabe gehört auch Teilgabe. Menschen mit Handicap müssen auch überlegen, wo sie etwas beitragen können, der Gesellschaft etwas zurückgeben können. Denn es gibt teilweise ein unglaubliches Anspruchsdenken. Manchmal erlebe ich auch, dass Menschen mit Handicap alles, was ihnen misslingt, auf die Behinderung schieben. Da hat es natürlich einen gewissen Charme, wenn ich in meinem Rollstuhl sitze und sage: Auch als Nichtbehinderter hätten Sie hier Probleme. Oder: Auch Eltern mit nichtbehinderten Kindern haben Schwierigkeiten, einen Betreuungsplatz zu finden."

Mit dieser Offenheit macht er sich nicht immer beliebt. Sein Anliegen, Menschen mit Behinderung ein möglichst normales und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, stoße auch auf Ängste in der Art "oh, der Utz will die Behinderteneinrichtungen und Förderschulen abschaffen" - was ja nicht der Fall sei. Aber so ein Stück weit einsam sei dieses Amt schon. Vielleicht ist das eben so, wenn man nicht nur der Mann fürs Bändchen-Durchschneiden und Grußwort-Sprechen ist.

Im Internet unter www.bb-m.info stellt der Behindertenbeauftragte interessante Tipps, Links und Informationen bereit.


Verwandte Artikel

Startseite Anzeige aufgeben Zeitung online lesen Jobs Kontakt Facebook Anfahrt