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"Ich habe nie verstanden, warum auf das Know-How von Älteren freiwillig verzichtet wird"

Josef Schmid über den Fachkräftemangel, das Verzahnen von Familie und Beruf, Chefs mit Menschenkenntnis und

Der "demographische Wandel" (immer mehr Älteren stehen immer weniger Jüngere gegenüber) macht sich in vielen Bereichen bemerkbar. Einer davon: das Berufsleben. Fachkräfte fehlen. Der Kampf um die Talente hat begonnen. Wie schätzt Josef Schmid, der das städt. Referat für Arbeit und Wirtschaft leitet, die Lage in der vor Wirtschaftskraft strotzenden Stadt München ein? Johannes Beetz befragte ihn zum Fachkräftemangel.

"Vorschläge gibt es seit Jahren"

Im sozialen Bereich ist der Fachkräftemangel bereits deutlich spürbar: Wir haben in den letzten Jahren den Kitaausbau forciert, jetzt melden viele neue Einrichtungen Leerstand, weil es an Erziehern fehlt. Hat man das Personalproblem nicht rechtzeitig erkannt?

Josef Schmid: Das Fehlen von rund 11.000 Erzieherinnen und Erziehern in Bayern ist alarmierend. Ich denke schon, dass man das Problem früher hätte erkennen können. Vorschläge für eine bessere Personalgewinnung gibt es seit Jahren: zum Beispiel durch eine Verkürzung der Ausbildungsdauer. Auch die Bereitstellung von günstigerem Wohnraum für Erzieher durch die städtischen Wohnungsunternehmen gehört dazu. Ich bin froh, dass hier in München demnächst ein Gespräch mit den privaten Trägern der Kinderbetreuung zu genau diesem Problemkreis stattfindet. Denn eines ist klar: die Stadt München muss das Fachkräfteproblem jetzt entschlossen angehen.

"Eine viel zu hohe Zahl"

Es trifft auch andere Bereiche: Nach einer Erhebung der Handwerkskammer für München und Oberbayern waren bereits 2010 rund  40 Prozent aller Betriebe "nicht optimal besetzt" - freie Stellen konnten nicht nachbesetzt werden. Das gilt auch für die Ausbildungsplätze; Unternehmen finden keine Azubis mehr. Hier nennt die IHK für München und Oberbayern die Situation im Einzelhandel und in der Gastronomie "besonders dramatisch". Welche Branchen trifft der Fachkräftemangel am härtesten?

Josef Schmid: Nach dem jüngst veröffentlichten Jahreswirtschaftsbericht der IHK für München und Oberbayern blieben im Jahr 2013 im Münchner Agenturbezirk 1.335 Ausbildungsplätze unbesetzt. Das ist natürlich eine viel zu hohe Zahl. Besonders viele unbesetzte Ausbildungsstellen gab es im Einzelhandel, im Lebensmittelhandwerk und im Bereich der Zahnmedizin.

"Auf den sozialen Zusammenhalt Acht geben"

Inwieweit ist dadurch Münchens Wirtschaftskraft und sozialer Zusammenhalt gefährdet? Allein die Handelskammer sprach schon 2011 von nahezu 1,3 Milliarden Euro Umsatz, die der Fachkräftemangel verhindere. Fehlender Umsatz heißt ja auch: fehlende Steuereinnahmen für die Stadt, fehlende Versicherungsbeiträge für Arbeitnehmer.

Josef Schmid: Ganz grundsätzlich gilt, dass München nach wie vor gut da steht. In den Jahren 2012 und 2013 sind über 40.000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen worden. Obwohl das Jahr 2013 gesamtwirtschaftlich als eher schwächeres Wirtschaftsjahr zu beurteilen ist, hat die Wirtschaft in München insgesamt eine positive Entwicklung genommen. Ich sehe die Münchner Wirtschaftskraft also nicht in Gefahr, ganz im Gegenteil. Wir müssen aber in der Tat auf den sozialen Zusammenhalt Acht geben. Die Münchnerinnen und Münchner dürfen nicht die Leidtragenden des wirtschaftlichen Erfolgs unserer Stadt werden. Deshalb setze ich mich alsLeiter des Referats für Arbeit und Wirtschaft beispielsweise sehr für die Förderung und Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in München ein.

"Eng mit den Kammern zusammenarbeiten"

Laut IHK werden im Herbst in den Betrieben mehr als 5.000 Lehrstellen unbesetzt bleiben. Unbesetzte Lehrstellen heute bedeuten fehlende Fachkräfte morgen. Wer wird sich in Zukunft um die Pflege von Senioren kümmern, die wohnortnahe Versorgung mit Lebensmitteln oder die Installation von Sanitäreinrichtungen kümmern? Kollabiert die Versorgung der Menschen in unserer Stadt?

Josef Schmid: Die Ankündigung des neuen Präsidenten der Handwerkskammer für München und Oberbayern, Georg Schlagbauer, sich verstärkt für die Nachwuchsgewinnung einzusetzen, ist ein ganz wichtiges Zeichen. Ich denke, dass bei der Bewältigung dieser großen Herausforderung die öffentliche Hand eng mit den Kammern zusammenarbeiten muss. Wir müssen da alle zusammen anpacken.

"Jeder profitiert vom Wissen der Älteren"

Welche Möglichkeiten gibt es trotz des demografischen Wandels zum Gegensteuern? Die Handwerkskammer fordert, ältere Arbeitnehmer länger im Betrieb zu halten und mehr Frauen an die Firma zu binden, indem Familie und Beruf besser verzahnt werden.

Josef Schmid: Die IHK-Vorschläge sind richtig. Ganz grundsätzlich müssen wir dafür sorgen, dass sich Beruf und Familie besser vereinbaren lassen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Schaffung von Betriebskindergärten. Einige Münchner Unternehmen sind da bereits vorbildlich vorangegangen.

Was die älteren Arbeitnehmer betrifft: Ich habe noch nie verstanden, warum auf das profunde Know-How von älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern freiwillig verzichtet wird und in der Vergangenheit bei manchen Unternehmen geradezu "Verjüngungsorgien“ stattgefunden haben. Von der Erfahrung und dem Wissen der Älteren kann jedes Unternehmen nur profitieren. Ich plädiere da für ein Umdenken. Die Vorurteile bei der Einstellung älterer Arbeitnehmer müssen aus den Köpfen raus. Die skandinavischen Länder beispielsweise sind uns da momentan weit voraus.

"Duale Ausbildung ist ein Erfolgsmodell"

Die beruflichen Möglichkeiten sind heute unüberschaubar; unter vielen Berufsbildern können sich Jugendliche aber gar nichts vorstellen. Was macht z. B. eine "Fachkraft für Kreislaufwirtschaft" oder ein Informationssystemkaufmann"? Ist unser Schul- und Ausbildungssystem zu praxisfern, zu kompliziert?

Josef Schmid: Das glaube ich nicht. Das deutsche Modell der dualen Ausbildung, also die parallele Ausbildung in Betrieb und Berufsschule, ist in meinen Augen ein Erfolgsmodell. Nicht umsonst wollen es andere europäische Länder, wie zum Beispiel Spanien, übernehmen. Auch unser Schulsystem halte ich nicht für praxisfern. Bei den Hochschulen und Universitäten sind Praktika und Praxissemester ja fester Bestandteil der Ausbildung.

Erst nach der Schule erfolgreich

"Wir können es uns nicht leisten, auch nur einen Jugendlichen zu verlieren", meinte einmal Arbeitsagentur-Chef Harald Neubauer: Heute müssen Betriebe auf Schulabgänger zurückgreifen, die sie früher nicht einmal zum Bewerbungsgespräch geladen hätten - und manch einer, der in der Schule nicht motiviert war, mausert sich zum geschickten Handwerker. Erkennen zu wenige Betriebe diese Chance?

Josef Schmid: Ich glaube, dass unsere Betriebe da schon mit Augenmaß vorgehen. Natürlich braucht man als Arbeitgeber erst einmal ein Auswahlkriterium und das ist in der Regel das Schulzeugnis. Allerdings sagt das Zeugnis aus meiner Sicht recht wenig darüber aus, wie geeignet jemand für eine gewisse Arbeit ist und ob er auch menschlich in den Betrieb "passt“. Ein guter Chef mit einer ausgeprägten Menschenkenntnis – und da haben wir hierzulande viele davon – kann das nach einem Gespräch recht gut einschätzen.

Und tatsächlich gibt es ja nicht wenige Menschen, die in der Schule eher nicht so gut abschnitten haben und dann in ihren Berufen äußerst erfolgreich waren.


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