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Geht TTIP unserer Weißwurst an den Kragen?

Freihandel: "Den größten Einfluss haben die Verbraucher"

Für eine bayerische Brotzeit wird es keine Münchner Weißwurst aus Kentucky geben: Landwirtschaftsminister Helmut Brunner sieht in TTIP keine Gefahr für regionale Produkte, während die Verbraucherzentrale vor der Aufweichung von Standards warnt. (Bild: demarcomedia)

Obwohl er ein Kämpfer war, der den widrigen Umweltbedingungen überall in Europa trotzte – im kalten Norden ebenso wie im trockenen Süden – verschwand der Neandertaler vor 30.000 Jahren für immer von der Bildfläche. Er hatte offenbar nur Gegenstände als Werkzeuge genutzt, die er im Umkreis von zwei oder drei Tagesmärschen fand. Die Menschen, die sich nach ihm durchsetzten, waren besser aufgestellt – sie erfanden den „Handel“ und konnten so Dinge nutzen, die es in in ihrem eigenen Lebensumfeld gar nicht gab.

Handel braucht Regeln

Seit jenen Steinzeittagen verbindet Handel Menschen und öffnet ihnen neue Chancen. Befinden sich die Partner nicht auf Augenhöhe, kann Handel die Grundlage für endlose Konfliktketten legen - wie der Kolonialismus.

Handel braucht also Regeln. Solche versuchen seit 2013 EU und USA untereinander zu vereinbaren: im Freihandelsabkommen TTIP. Die zwölfte Verhandlungsrunde findet vom 22. bis 26. Februar in Brüssel statt.

EU und USA erwirtschaften gemeinsam 47 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts und wickeln ein Drittel der weltweiten Handelsströme ab. TTIP soll diese Beziehungen vereinfachen. So könnten die Europäer mit den USA sogar Standards setzen, die weltweit zur „Musterlösung“ werden – ehe z.B. China oder Indien dies tun.

Viele Bürger sind in Sorge

Die Wirtschaft sieht ihre Chancen: "Der US-Markt ist der zweitwichtigste Auslandsmarkt für die Wirtschaft im Freistaat. TTIP würde noch mehr bayerischen und damit auch Münchner Firmen den Zugang zum US-Markt erleichtern", sagt Peter Driessen, Hauptgeschäftsführer der IHK für München und Oberbayern. Viele Unternehmen sehen Vorteile, die TTIP bringt: Zölle könnten wegfallen, langwierige Zulassungsverfahren für Produkte würden unnötig, wenn es beiderseits des Atlantiks für sie die gleichen Normen gibt.

"Gleichzeitig darf durch das Abkommen das hohe europäische Niveau bei Verbraucherschutz-, Umwelt oder Sozialstandards nicht abgesenkt werden", ergänzt Driessen. Genau davor haben aber viele Bürger Angst. Noch nie wurde ein Freihandelsabkommen in der Öffentlichkeit so kritisch diskutiert wie TTIP. Dass das Abkommen geheim verhandelt wird (erst seit 1. Februar dürfen zumindest Bundestagsabgeordnete Einblick in die Papiere nehmen – unter Aufsicht und mit "Darüber-Sprech-Verbot"), weckt nicht unbedingt Sympathie.

Heikler Bereich Lebensmittel

Lebensmittel sind einer der heikelsten Bereiche innerhalb der Freihandelsgespräche: Zwischen der EU und den USA gibt es gravierende Unterschiede bei Hygienestandards, Kontrollen und Kennzeichnung von Lebensmitteln, erklärt die Verbraucherzentrale Bayern (Ernährungsreferat). Die Unterschiede gehen auf das europäische Vorsorgeprinzip und das amerikanische Nachsorgeprinzip zurück: Waren dürfen in der EU nur auf den Markt gebracht werden, wenn nachgewiesen worden ist, dass sie nicht die Gesundheit gefährden. In den USA gilt ein Produkt so lange als sicher, bis es jemandem tatsächlich schadet und das bewiesen werden kann.

Hier verboten, dort erlaubt

„Aus der Sicht der Verbraucherzentrale muss die Gesundheit der Verbraucher Vorrang haben. Keinesfalls darf der Verbraucherschutz aufgeweicht werden“, so Daniela Krehl von der Verbraucherzentrale Bayern. Als Beispiel für unterschiedliche Standards nennt sie den Umgang mit Gentechnik bei Lebensmitteln. In der EU gibt es eine Pflicht zur Zulassung und Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Organismen, in den USA nicht. In der EU verboten, aber in den USA erlaubt ist der Einsatz von Hormonen zur Wachstumsförderung von Rindern, das Klonen von Tieren und die Desinfizierung von geschlachteten Hühnern durch ein Chlorbad.

Christoph Then vom Verein Testbiotech befürchtet mit TTIP Klagen der Gentechnik-Industrie, um die gesetzliche Kennzeichnungspflicht abzuschaffen. Insbesondere eine Ausweitung der Kennzeichnung für Produkte von geklonten Tieren würde mehr oder weniger unmöglich gemacht. In der Konsequenz verlieren die Verbraucher ihre Wahlfreiheit. Und wenn gentechnisch verändertes Saatgut und Futtermittel nicht mehr gekennzeichnet werden müssten, bliebe der ökologische Landbau auf der Strecke.

Jeder fünfte Euro für "von hier"

"Wir sind skeptisch", sagt Bernd Ohlmann über TTIP. Er ist der Geschäftsführer im Handelsverband Bayern e.V. (HBE), der sich über ein Plus bei regionalen Lebensmitteln freut. Mittlerweile machen sie 20 Prozent aus - ein "Megatrend". Das heißt: "Jeder fünfte Euro wird für Produkte aus der Region ausgegeben." Die Händler fordern: Regional soll regional bleiben. Eine Münchner Weißwurst soll nicht aus Kentucky kommen. "Was drauf steht, muss drin sein!" betont Ohlmann, denn das bedeute wegen der bei uns hohen Qualitätsstandards Sicherheit für den Verbraucher, Vertrautheit, ein Stück Heimat. "Für regionale Lebensmittel greifen Verbraucher gern ein Stück tiefer in die Tasche", sagt Ohlmann - und sie sichern damit Arbeitsplätze vor Ort, weil sie Kaufkraft in der Region lassen.

"Wir können das einfach besser"

"Echtheit und Charakter" zählen für Andreas Gaßner, den Obermeister der Münchner Metzgerinnung, wenn es um die Wurst geht. "Auch heute noch werden unsere Produkte nach den über Generationen weitergegebenen Rezepturen hergestellt", sagt er, "wir beziehen unsere Rohstoffe täglich frisch, bevorzugt aus der Region." Über Jahrzehnte gewachsene Lieferantenbeziehungen bürgen für Qualität, Frische und Herkunft der Produkte.

Falls TTIP solche Standards senkt, könnte es auch der Münchner Weißwurst an den Kragen bzw. an die Inhaltsstoffe gehen. Was eine echte Münchner Weißwurst sein will, müsse vor allem aus Kalbsfleisch bestehen, erklärt Gaßner. TTIP könnte anderen Rezepturen Tür und Tor öffnen. Angst vor einer so produzierten Konkurrenz aus Amerika hat der Metzgermeister dennoch nicht: "Wir können das einfach besser. Die Münchner Weißwurst ist und bleibt die beste!" Letztlich entscheide der Verbraucher, welche Lebensmittel er wolle. Und auf die wollen die Metzger in einer Zeit, wo alles am besten einer Norm entspricht und die Herstellung von Lebensmitteln durch gesetzliche Auflagen immer schwieriger werde, mit Individualität und Vielfalt überzeugen.

"TTIP ändert daran nichts"

Entwarnung gibt Landwirtschaftsminister Helmut Brunner: In Bayern sind derzeit 47 bayerische Produkte - wie Bier, Nürnberger Rostbratwurst, bayerisches Rindfleisch, Allgäuer Bergkäse, Allgäuer Emmentaler, aber auch Frankenwein -  geschützt. Diese geschützten Produkte seien ein Beleg für die hohe Qualität regionaler bayerischer Lebensmittel. "Die Verhandlungen zu TTIP ändern daran nichts", erklärt Brunner, "diese Produkte sind in der gesamten EU geschützt und bleiben dies auch weiterhin. Daher wird es für die bayerische Brotzeit auch keine Nürnberger Bratwürste made in Kentucky geben."

Entscheidend ist in Brunners Augen der Verbraucher: "TTIP hin oder her", sagt er, "den größten Einfluss auf die Zusammensetzung unserer Brotzeit haben die Verbraucher. Daher sollten sie möglichst zu regionalen Produkten greifen!"

Was ist das Vorsorgeprinzip?

Das Vorsorgeprinzip ist eines der Hauptelemente des deutschen Umweltrechts (u.a. im Einigungsvertrag und in Artikel 20a des Grundgesetzes verankert). Es beauftragt den Staat, auch für künftige Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen (Wasser, Boden, Luft) zu schützen und vorausschauend Belastungen zu vermeiden. Gefahren sollen also von vorneherein vermieden werden. Beim Nachsorgeprinzip geht man dagegen Risiken ein und kümmert sich erst hinterher darum, ob und wie man Schäden beheben kann.


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