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Erschöpft, vergessen, benachteiligt

VdK Bayern belegt die wachsende Not in der häuslichen Pflege

Hermann Imhof beklagt, dass vor allem die Versorgung von Menschen mit mittelschwerer bis schwerer Demenz in der Häuslichkeit „nicht würdevoll“ gelöst ist. (Bild: ms)

Die Corona-Pandemie hat die Mängel der häuslichen Pflege extrem verschärft. Doch Abhilfe ist nicht in Sicht. Zu diesem ernüchternden Ergebnis kamen VdK-Landesvorsitzende Ulrike Mascher, der stellvertretende VdK-Landesvorsitzende Hermann Imhof und VdK-Ressortleiterin „Leben im Alter“ Yvonne Knobloch. Sie stellten eine aktuelle VdK-eigene Studie zur häuslichen Pflege und weitere Zahlen und Forderungen des Sozialverbands VdK vor.

Sehr stark belastet

Eine vom VdK beauftragte große Umfrage im April und Mai 2021 brachte alarmierende Ergebnisse. 35 Prozent der Pflegebedürftigen in Bayern mussten während der Corona-Pandemie auf ihre üblichen Unterstützungsangebote verzichten. 41 Prozent der Pflegebedürftigen und sogar 45 Prozent der pflegenden Angehörigen fühlten sich im Vergleich zur Zeit davor sehr stark belastet. Als Ursachen dieser Belastung nannten Pflegepersonen vor allem psychische Gründe (72 Prozent), Angst vor Ansteckung mit dem Corona-Virus (56 Prozent) und das Fehlen von Dienstleistungen und Alltagsunterstützung (42 Prozent). Allein gelassen und teils verzweifelt fühlten sich 22 Prozent der Pflegepersonen und sogar 33 Prozent der Pflegebedürftigen.

Überfordert im Pflegesystem

„Die Isolation von alten Menschen wurde während der Pandemie ausschließlich für Pflegebedürftige im Heim wahrgenommen. Dabei litt auch jede dritte Person zu Hause unter Einsamkeit“, erklärte Yvonne Knobloch. Der VdK Bayern entwickelte sich in den letzten beiden Jahren zu einer wichtigen Anlaufstelle für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige – und füllt damit wenigstens einen Teil der großen Lücke. Bis Ende 2021 werden vom VdK Bayern voraussichtlich etwa 24.000 Beratungen im Bereich der gesetzlichen Pflegeversicherung durchgeführt worden sein. 2019 waren es noch 6000 weniger.

Auch die Anfragen beim VdK-Beratungstelefon „Pflege und Wohnen“ steigen seit 2019 kontinuierlich an. „Die Anfragen werden immer komplexer. Viele Ratsuchende sind mit dem System der Pflegeversicherung und vor allem mit der Undurchsichtigkeit der lokalen Versorgungsstrukturen in der Pflege total überfordert“, sagte Knobloch.

Es fehlt an entlastenden Einrichtungen

„Hinter den Haustüren verbergen sich oft Ängste, Verzweiflung, ja, Hoffnungslosigkeit“, bestätigte Hermann Imhof die Ergebnisse der VdK-Studie. Der frühere Patienten- und Pflegebeauftragte der Staatsregierung beklagte, dass vor allem die Versorgung von Menschen mit mittelschwerer bis schwerer Demenz in der Häuslichkeit „nicht würdevoll“ gelöst ist. Ambulante Dienste, die teilweise ins Haus kommen, könnten diese Situationen nicht auffangen. Es fehle an entlastenden Einrichtungen. „Wir brauchen eine echte Dynamik im Ausbau der Pflegestützpunkte“, appellierte Imhof an die Adresse des bayerischen Gesundheitsministers Klaus Holetschek.

Zudem kritisierte er das bürokratische System und unzureichende Angebote an Entlastungs- und Betreuungsleistungen, zum Beispiel von Haushaltshilfen, in Bayern. „Die Revolution in der Pflege, die Minister Holetschek jüngst versprochen hat, darf nicht nur in den Kliniken und Heimen stattfinden. Sie muss auch die häusliche Pflege erreichen“, sagte Imhof. Er forderte den Einsatz von mehr Steuergeldern und einen klaren Auftrag an die Kommunen zur Sicherstellung der häuslichen Versorgung.

Benachteiligung von häuslicher Pflege muss enden

76 Prozent aller Pflegebedürftigen in Bayern leben zu Hause, zwei Drittel von ihnen werden ausschließlich von ihren Angehörigen versorgt. „Es herrscht Alarmstufe Rot“, sagte Ulrike Mascher. Sie warnte davor, dass viele pflegende Angehörige nach den langen Corona-Monaten vollkommen erschöpft sind und auf Dauer die Pflege nicht leisten können. Deswegen setzt der Sozialverband VdK in seiner aktuellen Aktion zur Bundestagswahl den Schwerpunkt seiner pflegepolitischen Forderungen auf die häusliche Pflege.

„Bei den Leistungen der Pflegeversicherung wird diese große Gruppe komplett benachteiligt“, kritisierte die VdK-Landesvorsitzende. Die letzte Pflegereform im Sommer 2021 führt nämlich nur zu einer geringen Entlastung stationär gepflegter Menschen. Schon seit 2017 müssen dagegen ambulant gepflegte Menschen auf den versprochenen Inflationsausgleich beim Pflegegeld verzichten. Und das soll bis 2025 so bleiben, um die Mehrkosten der stationären Pflege gegenzufinanzieren. „Der VdK ist der Interessenvertreter der häuslichen Pflege. Wir werden uns von solchen Reformen gewiss nicht zurückwerfen lassen“, zeigte sich Mascher kämpferisch. Sie verwies auf die Klage des VdK Deutschland, die wegen der ausgebliebenen Pflegegelderhöhung gerade vorbereitet wird. Bis vors Verfassungsgericht werde der VdK gehen, kündigte sie an.

Die Angst ist groß

Die Angst, pflegebedürftig zu werden, ist in Deutschland groß. Tatsächlich führt der „Teilkasko“-Charakter der Pflegeversicherung dazu, dass ein Viertel aller bayerischen Heimbewohner von Sozialhilfe leben müssen. „Der VdK fordert von der neuen Bundesregierung die Einführung einer Pflegevollversicherung, die das Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit genauso abdeckt wie etwa die gesetzliche Krankenversicherung das Risiko von Erkrankungen“, sagte Mascher. Desweiteren fordert der VdK die Zusammenlegung der gesetzlichen und der privaten Pflegeversicherung, da diese ohnehin identische Leistungen für Versicherte bieten.

„Grundsätzlich muss die gesellschaftliche Leistung der Familienpflege besser anerkannt werden“, so Mascher. Der VdK fordert deshalb analog zur Mütterrente einen vollen Rentenpunkt pro Pflegejahr für pflegende Angehörige, um der Gefahr von Altersarmut entgegenzuwirken. Zudem muss der Anspruch auf einen Tages- oder Nachtpflegeplatz für Pflegebedürftige gesetzlich verankert werden. Und nach einer Pflegezeit muss es für Pflegepersonen im Erwerbsalter ein Rückkehrrecht an den Arbeitsplatz geben.

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