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Erfahrung trumpft auf

Wo ist die Zeit geblieben? Was habe ich mit ihr gemacht?

Ulrike Mascher, Landesvorsitzende des Sozialverbands VdK Bayern und Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland. (Bild: job)

Für einen zehnjährigen Schüler ist eine Woche lang (es sei denn, es sind gerade Ferien) und ein Schuljahr ist eine echte "Ära". Für einen 50-jährigen Redakteur fliegen die Kalenderwochen dagegen nur so dahin und die Jahre scheinen immer schneller aufeinander zu folgen. Manche sagen, dass dieser Takt sich in späteren Jahren wieder verlangsamt. Im Laufe eines Lebens erlebt man Zeit und ihr Vergehen völlig unterschiedlich. Diese Erfahrung teilen unsere "Trümpfe" - und raten zu Gelassenheit.

Winfried Bürzle: "Verzetteln wir uns nicht!"

„ Time is on my side“, so heißt es in einem Lied der Rolling Stones aus dem Jahre 1964. Hier gemeint im Sinne von „ich kann abwarten, ich hab‘s nicht eilig, die Zeit spielt für mich“.

Noch immer singt Mick Jagger das Lied auf der Bühne. Wenn auch nicht im Rahmen der „Stones - No Filter-Tour 2017“, die die legendäre Band im September auch ins Münchener Olympiastadion geführt hat. Und ob Jagger mit seinen mittlerweile 74 Jahren auch noch so über Zeit denkt wie damals mit 21, ist zumindest fraglich.

Denn Zeit ist kostbar. Zeit vergeht, sie vergeht schnell. Daher ist sie neben Gesundheit und Glück für mich das kostbarste Gut, das wir Menschen haben. Und deswegen haben wir große Verantwortung für das, was wir mit unserer Zeit anfangen.

Je hektischer und atemloser diese Welt da draußen wird, je mehr Reize, Bilder, Töne, Ereignisse, Informationen uns überfluten, umso schneller scheint sie uns zu entgleiten. Mir geht es dabei oft nicht anders als Millionen anderer Menschen.

Den Stopp-Schalter drücken

Die einzige Chance ist, das Hamsterrad auf der Jagd nach den vermeintlich verpassten Gelegenheiten zu verlassen und den Stopp-Schalter zu drücken. Sich der Vergänglichkeit zu stellen und aus dieser Erkenntnis heraus zu besinnen auf das Wesentliche. Und zum Wesentlichen des Menschen gehören seine Beziehungen.

Gehen wir ran ans Sortieren und Selektieren. Verzetteln wir uns nicht mit 1.000 Freunden in den sozialen Netzwerken. Sie sind meist nur virtuell. Fokussieren wir uns – gerade in dieser Vorweihnachtszeit - auf die Menschen, die uns wirklich wichtig sind. Und verbringen unsere Zeit mit ihnen. Denn eine Lebensweisheit sei mir an dieser Stelle erlaubt: Die Tiefe einer Beziehung zu einem Menschen lässt sich schlicht an der Zeit messen, die man mit ihm verbringt.

Ich hoffe für Mick Jagger genauso wie für Sie, dass Sie solche Menschen um sich haben. Denn dann haben Sie Ihre innere Ruhe gefunden. Und wer in sich ruht, dem läuft nichts weg. Auch die Zeit nicht. Dann können Sie mit einem zufriedenen Lächeln und mit Recht sagen: Time is on my side…

Ingrid Appel: "Ich konnte sie nicht festhalten"

An meinem 75. Geburtstag wurde mir bewusst, dass ich schon 900 Monate gelebt habe, Tage und Stunden wollte ich gar nicht ausrechnen. Mein Gott, wo ist die Zeit geblieben, was habe ich mit ihr gemacht? Habe ich sie für Gutes, für Sinnvolles genutzt? Wie viel habe ich sinnlos verplempert? Ich kann die Zeit nicht zurückholen, sie ist unwiederbringlich und schreitet auch jetzt gerade weiter fort.

Während der Kindheit ist man gespannt und erwartungsvoll, was uns das Leben bringt, man wartet auf den nächsten Geburtstag, auf Weihnachten und andere Ereignisse. Dabei hat man das Gefühl, dass die Zeit nicht verrinnt, dass das Ereignis nie kommt. Man wartet auf gute oder schlechte Noten und hat Herzklopfen, während die Zeit vermeintlich nicht vergeht.

War es das wert?

Meinen 21. Geburtstag habe ich herbeigesehnt, denn da durfte man das erste Mal wählen, das erste Mal allein verreisen, die Zeit bis dahin erschien mir ewig. Während des Arbeitslebens nahm die Zeit von mir Besitz, sie hetzte mich durch die Tage, von Termin zu Termin. Um Zeit zu sparen hat die Industrie viele Dinge geschaffen, auch um lästige Tätigkeiten zu ersetzen: Spülmaschinen, Küchenmaschinen, Autos, Verkehrsmittel usw. Aber was passiert mit der ersparten Zeit? Dafür klingeln meist Handys und Smartphone und man taucht in die digitale Welt ein und fragt sich: Wo ist die erspart Zeit geblieben, was habe ich damit gemacht, war es das wert?

Alles hat seine Zeit! Die Zeit heilt alle Wunden, so sagt man. Die Wunden vernarben vielleicht, heilen - nein, heilen tut sie nicht! Es gab natürlich auch Zeiten, wo ich mir wünschte, die Zeit möge stehen bleiben. Aber sie blieb nicht stehen, sie raste, verrann und ging unwiederbringlich vorbei. Ich konnte sie nicht festhalten. Dagegen vergeht die Zeit so langsam, wenn man krank ist, auf Gesundung wartet.

Wieder am Anfang angelangt

Dann kam der Ruhestand, endlich Zeit! Zeit für Hobbys, Theater, Konzerte, ausschlafen. Es kam anders. Nun hetze ich wieder durch einen dicht gedrängten Zeitplan. Wenn ich Senioren besuche, was kann ich mitbringen, worüber freuen sie sich am meisten? Nein, kein Geld, kein Konfekt - Zeit! Die Zeit, die man Älteren, Kranken und Einsamen schenkt, ist das größte Geschenk, das man machen kann, und Glück und Zufriedenheit kommen sogar auf den Schenkenden zurück.

Natürlich bleibt in meinem Alter die Frage, die niemand beantworten kann: Wie viel Zeit, wie viel Lebenszeit bleibt noch? Ein Arzt redete mir vor kurzem wegen der vielen Termine ins Gewissen und empfahl mir, mich jeden Tag zu fragen: Was habe ich heute für mich getan? So bin ich wieder am Anfang angelangt und frage mich: Was habe ich heute mit meiner Zeit gemacht?

Ulrike Mascher: "Man darf sich nicht jagen lassen"

Die Wahrnehmung von Zeit ist eine Frage der Lebensphasen. Als Kind waren zum Beispiel die Sommer und die Winter für mich unendlich lange. Das Gefühl zu Beginn der Sommerferien war damals das einer großen Freiheit. Man konnte sich einfach treiben lassen und in den Tag hinein leben.

Irgendwann hat dann der Terminkalender in meinem Leben Einzug gehalten, die Organisation des Alltags hat sich verändert. Mittlerweile weiß ich, dass man sich von seinen Terminen nicht jagen lassen darf, sich also nicht von den beruflichen oder privaten Anforderungen ständig unter Druck setzen lassen darf. Sonst sind auch die Ergebnisse nicht gut. Mit den Jahren bin ich in dieser Hinsicht immer gelassener geworden.

Das sehe ich als einen Vorteil des Älterwerdens: Ich kann Wichtiges von Unwichtigem viel besser unterscheiden. Dieser kritische Blick hilft mir sehr in meinem jetzigen Alltag, denn ich bin durch meine ehrenamtliche Arbeit für den Sozialverband VdK zeitlich natürlich ganz schön gefordert.

Und noch etwas habe ich gelernt: Ein Terminkalender nimmt mir nicht nur Zeit weg, ich kann mit ihm meine Wochen auch viel besser organisieren. Ich reserviere mir Stunden oder Tage für mich selbst, für meine Familie und für meine Freunde. Sich ganz bewusst Zeit zu nehmen, das ist mir sehr wichtig.

Dr. Walter G. Demmel: "Vor der Zeit ist niemand sicher"

Der Zeitbegriff ist speziell in unserer westlichen Welt allgegenwärtig, ja beherrschend. Das tägliche Leben wird in Tage, Stunden, Minuten, Sekunden zerteilt und verplant. Man macht Termine im Minutentakt und unterwirft sich so dem Diktat der Zeit.

Physik und Technik schreddern die Zeit in Milli-, Mikro-, Nano-, Pico-, Femto-, Atto-Sekunden und so weiter. So weit, bis man einen Nobelpreis erhält, es aber aus quantenmechanischen Gründen sinnlos erscheint, über kürzere Zeiträume zu reden.

Zeit verändert alles und jeden

Vor der Zeit ist niemand sicher, meine ich, denn sie verändert alles und jeden, manchmal braucht sie ein Menschenleben lang und manchmal reicht ihr dazu schon der Bruchteil eines Augenblicks. Darüber dachte ich nach beim Laufen, Gehen und Schwimmen, nicht so sehr am Schreibtisch bei der Arbeit. Da war ich getaktet verplant. Ich war Marathonläufer und lief nach Zeit, mit der Zeit, der Zeit nach, hatte manchmal keine Zeit. Dann lief ich ohne Zeit, aber nicht zeitlos, lief und dachte, lief denkend und dachte laufend, dachte: Wo ist die Zeit? Zeit ist in der Luft, die ich atme. Zeit ist Luft. Wann stimmt der Satz?

Ich konnte nicht mehr laufen und ging. Die Zeit läuft. In welche Richtung läuft Zeit eigentlich? Ich hatte nicht mehr laufend Zeit, hatte aber Zeit zum Gehen. Die Zeit vergeht. Läuft oder vergeht sie?

Ich begegnete einem und fragte: Was ist Zeit?

Er: Ich habe keine Zeit. Zeit ist Geld.

Ich: Kein Mensch hat Zeit. Irgendein Gott hat vielleicht Zeit, dann aber eine Ewigzeit!

Ich ging zum Schwimmen, nicht in meiner neuen Zeit, schwamm in einem anderen Element, schwebte und war schwerelos, zeitlos. Zeitlos schweben in der Zeit, das ist – Freizeit! Aber sicher vor der Zeit?

Ich bin 81 Jahre. Viel Zeit ist vergangen seit meiner Geburt. Sind aber diese Jahre eines langen und erfüllten Lebens wirklich messbar? Ich will es aber wissen, wann ich Lebensstunden-Millionär sein könnte: Im Alter von 115 Jahren! Dazu ist weiter nichts zu sagen als: Vor der Zeit ist niemand sicher.


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