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„Diese Dankbarkeit müssen wir uns bewahren"

Haben wir Respekt vor dem, was wir schon erreicht haben?

Sauberes Trinkwasser, ein funktionierendes Gesundheitssystem, ein demokratisches Staatswesen: Nicht alles, auf das wir ein "Recht" zu haben glauben, ist so selbstverständlich wie es scheint. (Bild: colourbox.com)

Wie selbstverständlich ist Selbstverständliches? Wer sich ein Bein bricht, wird im Krankenhaus sofort behandelt. Wenn der Kühlschrank leer ist, geht man schnell einkaufen. Kinder lernen Lesen und Schreiben. Was in Deutschland selbstverständlich ist, ist es anderswo mitnichten. „Die Dankbarkeit, die man gegenüber gewissen Selbstverständlichkeiten haben sollte, ist wichtig“, betont Petra Reiter vom Verein „Bunte Münchner Kindl“. „Zum Beispiel unser Trinkwasser: Es ist unglaublich, dass wir einfach nur den Wasserhahn aufdrehen müssen, um frisches Wasser zu haben – egal ob zum Trinken, zum Duschen oder zum Waschen. Diese Dankbarkeit müssen wir uns bewahren und sie auch an die nächste Generation weitergeben.“

Doch wem haben wir den Wohlstand, um den uns viele beneiden, eigentlich zu verdanken? Und worauf können wir stolz sein? „Ich bin meiner Vorgeneration dankbar“, sagt Petra Reiter. „Meine Großmutter etwa danke ich dafür, dass sie sich für die Einführung des Frauenwahlrechts eingesetzt hat.“ Dies sei ebenfalls nicht selbstverständlich. „Grundsätzlich ist auch eine Demokratie nicht selbstverständlich“, betont Petra Reiter. „Wir haben nun die Aufgabe, sie zu erhalten und zu verbessern.“ Zudem gelte es den Respekt gegenüber den Anderen zu erhalten. „Solange wir uns das bewahren, können wir auch stolz sein.“

„Es ist ein Geben und Nehmen“

Stolz müsse nicht immer etwas Negatives sein, meint Magnus Forster. „Es ist vielmehr die Frage, wie wir damit umgehen. Wer etwas geleistet hat, darf stolz darauf sein. Wenn Stolz rein zur Abgrenzung gegenüber anderen benutzt wird, ist es negativ. Das hat tatsächlich auch etwas mit Respekt zu tun.“ Die Demokratie sei ein großes Privileg, „auf das wir stolz sein können“, betont Marie-Isabelle Heiss. Auf der anderen Seite gebe es sehr viel Wohlstand, der auf Kosten anderer entsteht. Dessen müsse man sich bewusst sein. „Wir sind darauf angewiesen, in Europa eingebettet zu sein", sagt sie, "Andere haben uns nach dem Krieg wieder groß werden lassen. Vielleicht profitieren wir deshalb auch mehr von Europa als andere Länder. Unser Wohlstand ist kein selbstgemachtes Erfolgsrezept, auf das wir stolz sein können.“

Diesbezüglich wünscht sich die Rechtsanwältin mehr Ehrlichkeit. „Denn die Souveränität, die wir vermeintlich haben, ist in vielen Bereichen nur in guter Zusammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn und einer weltweiten Vernetzung möglich.“ Ihrer Ansicht nach ist es aber entscheidend, die Dinge auch lokal und nah an den Menschen anzugehen. „Es geht uns nicht besser, wenn wir uns abschotten und uns nur um uns kümmern. Es ist ein Geben und Nehmen“, so Marie-Isabelle Heiss weiter. „Für mich schließt es sich nicht aus, mich gleichzeitig als Münchnerin, Bayerin, Deutsche und Europäerin zu fühlen.“

"Das kann eine Gesellschaft auch zermürben"

Dass Ehrlichkeit und Transparenz wichtig sind, sieht auch Mirjam Zadoff so. „Wenn wir etwa die Grenzen dicht machen würden, wäre vieles von dem, was wir jetzt als selbstverständlich wahrnehmen, nicht mehr vorhanden. Das wird oft vergessen.“ Deutschland könne stolz darauf sein, wie es mit seiner Vergangenheit umgeht. „Gleichzeitig müssen wir uns aber auch bewusst machen, was für ein schwieriger Prozess das war und weiterhin ist“, betont sie. „Das ist eine Aufgabe in der Gegenwart, aber auch für die Zukunft.“

Das NS-Dokumentationszentrum ist 2015 eröffnet worden, in dem Jahr also, in dem sich in Deutschland etliches verändert habe. „Vieles, was wir immer als selbstverständlich wahrgenommen haben, wie eben beispielsweise der Umgang mit der Vergangenheit, hat sich wahnsinnig verändert.“ Gleiches gelte für den deutlich rauer gewordenen Umgangston. „Das hat sich, nicht nur in Deutschland, auch in den USA, fast von einen auf den anderen Tag geändert – und zwar ganz massiv“, betont Mirjam Zadoff, die vor ihrer Tätigkeit als Leiterin des NS-Dokumentationszentrums in Bloomington (Indiana) gelebt hat. „Präsidenten und auch einige deutsche Politiker tweeten Sachen, die rassistisch sind und ganze Gruppen kategorisch ausschließen.“ Dies könne eine Gesellschaft auch zermürben.

„Wir dürfen uns nicht anstecken lassen“

„Die Polarisierung in der gesellschaftlichen und politischen Debatte ist ein weltweites Phänomen“, bestätigt  Marie-Isabelle Heiss. „Viele bewegen sich nur in ihrer eigenen Gruppe, was aber schon vor den sozialen Medien so war.“ Grundsätzlich werde eine Art Parallelwelt geschaffen, „in der dann andere Normen gelten“. Das gelte auch für die Sprache. Die sozialen Medien dürfen nicht an allem schuld sein, findet Petra Reiter. „Sie sind zwar Teil der Bewegung, aber wenn wir in die Geschichte schaut, kann man diese Dynamik auch beobachten. Wir sind jetzt alle in der Pflicht, einen guten Ton zu bewahren – egal ob als Politiker oder Bürger. Wir dürfen uns nicht anstecken lassen und müssen in einem guten Ton dagegen halten.“

Doch hat das Ganze vielleicht mit einer vermeintlichen Unzufriedenheit der Menschen zu tun, die hier und da immer mal wieder unterstellt wird. Und, wenn ja, warum sind die Menschen überhaupt unzufrieden? Neurologen sagen: Das Gehirn gewöhnt sich an „Belohnungen“ und will immer intensivere Reize. Der Neurowissenschaftler Robert Sapolsky etwa fast die neurochemischen Vorgänge so zusammen: „Was gestern ein unerwartetes Vergnügen war, empfinden wir heute als unser Recht und morgen als zu wenig.“ Scheint, als sei damit die Crux unseres gesellschaftlichen Zustands treffend beschrieben.

„Weniger angstbeladen“

Zumal in einer Stadt wie München, in der es keine No-go-Areas gibt, die als sicherste Stadt Deutschlands gilt und in der Vollbeschäftigung herrscht. „Grundsätzlich geht es immer um die gefühlte Sicherheit“, erklärt Anita Huber. Gerade ältere Menschen hätten Schwierigkeiten, wenn Menschen auf sie zukommen, die sie nicht einschätzen können. „Das kann ja unterschiedliche Gründe haben, etwa die Hautfarbe oder eine andere Sprache. Im Grunde geht es in diesen Zusammenhängen immer auch um eine gute, gemeinsame Kommunikation.“ Nur so könne das Ganze positiv wahrgenommen werden. „Es wäre doch toll, wenn wir das Beste aus jeder Kultur zusammenbringen. Dann wäre alles entspannter und weniger angstbeladen.“

Dies sein auch für Kinder und Jugendliche wichtig, die sich viele Lebensinformationen nur aus dem Internet holen. „Sie brauchen jemanden gegenüber, der ihnen hilft, alles einzusortieren“, betont Anita Huber. „Wir müssen mit ihnen im Gespräch bleiben und ihnen Dinge erklären, auch im Hinblick auf unsere Geschichte.“ Nach Ansicht der Schulsozialarbeiterin müssen Kinder und Jugendliche die Fähigkeit entwickeln, zu hinterfragen. Dies müsse für sie zur Selbstverständlichkeit werden. „Und wir sollten mehr auf sie eingehen, wenn sie neue Ideen haben und Sachen vielleicht ganz neu andenken.“

"Verantwortung übernehmen"

Auch Wohlstand sollte anders definiert werden, findet Marie-Isabelle Heiss. „Wir müssen viel stärker darauf achten, dass wir zum Beispiel gute Luft haben und die Städte lebenswerter machen. Sie dürfen nicht auf Autos ausgerichtet sein, sondern auf die Menschen.“ In diesem Zusammenhang sei die Wirtschaft gefragt. „Sie muss Verantwortung übernehmen. Die Wissenschaft liefert schon klare Informationen, was unser Konsumverhalten und unsere Art zu produzieren anrichtet und dass es so nicht weitergehen kann.“

"Reflektierter Umfang mit der Geschichte"

Das sieht Magnus Forster ähnlich: „Die Lebensqualität ist ein wichtiger Punkt – zumindest für die Arbeitnehmer. Wir merken in unserer täglichen Arbeit durchaus, das sich das gerade verschiebt. Allerdings gehen viele Arbeitgeber hier nicht mit, so dass es noch nicht ganz zusammenpasst.“

Der Verweis auf die Wirtschaft sei entscheidend, meint auch Mirjam Zadoff. „Das große Problem, das aus der Unzufriedenheit entsteht ist, dass die Leute nationalistischer werden – ein Konzept aus dem 19. Jahrhundert, mit dem wir keine Probleme in unserer global vernetzten Welt lösen.“ Deutschland ziehe viel Kraft aus seiner Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit. „Auf diesen reflektierten Umgang mit der Geschichte möchte ich nicht verzichten. Dabei geht es nicht um ein Schuldbewusstsein. Vielmehr müssen wir reflektieren, wie Gesellschaft funktioniert und da kommt die Rolle und die Verantwortung der Wirtschaft ins Spiel.“ Es gebe weltweit Unternehmen und Wirtschaftstreibende, denen dies bewusst sei. „Wir müssen aber auch lokale Identitäten über Wirtschaftszusammenhänge schaffen. In diesem Zusammenhang geht es immer auch um Zugehörigkeit.“

 

Unsere Sommer-Frage

Auf welche drei „selbstverständliche“ Dinge können (oder wollen) Sie nicht verzichten? Unsere Gäste antworten:

Magnus Forster: Auf mein Bett, auf die Verfügbarkeit, dass ich zum Beispiel zum Arzt gehen kann oder dass ich den Wasserhahn aufdrehen kann, und auf Mobilität.

Marie-Isabelle Heiss: Die Natur, auf Essen und die Gemeinschaft, zu der für mich auch Tiere gehören.

Anita Huber: Das Gesundheitssystem, die Natur und die Freiheit.

Petra Reiter: Mein Zuhause, das gute Wasser und der Zugang zu guten Lebensmitteln sowie als Bibelleserin auf meine Bibel.

Prof. Dr. Mirjam Zadoff: Auf eine heiße Dusche oder eine Tasse Kaffee am Morgen. Ich erlebe es auch als Luxus, in einer Stadt wie München zu leben. Und grundsätzlich der freundliche Umgang der Menschen miteinander.

 

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Magnus Forster, Bereichsleiter Arbeitsvermittlung, Agentur für Arbeit München

Marie-Isabelle Heiss, Rechtsanwältin und bei der Europawahl 2019 Spitzenkandidatin Volt

Anita Huber, Schulsozialarbeiterin, BRK-Kreisverband München

Petra Reiter, Bunte Münchner Kindl e.V.

Prof. Dr. Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München

 

Respekt zeigen

Respekt meint nichts anderes als guten Willen: Aushalten, dass es andere Bewertungen und Erfahrungen neben den eigenen gibt. Die unmittelbare Folge daraus ist, Mitgefühl empfinden zu können. Jedes familiäre, jedes soziale und politische Problem lässt sich durch das Maß an Mitgefühl definieren, das wir füreinander aufbringen oder eben nicht. Welchen Menschen und Einrichtungen, welchen Leistungen, Fähigkeiten und Tätigkeiten begegnen wir mit Respekt?


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