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"Die meisten Menschen sterben, wie sie gelebt haben"

Prof. Gian Domenico Borasio über Palliativmedizin und das Sterben

Prof. Gian Domenico Borasio ist einer der führenden Palliativmediziner Europas. (Bild: Univeristät Lausanne)

Prof. Gian Domenico Borasio ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin in Lausanne. Er ist einer der führenden Palliativmediziner Europas und Verfasser des Buches "Über das Sterben". Wochenanzeiger-Volontärin Isabella-Alessa Bauer stellte ihm einige Fragen zu Leben, Tod und allem, was dazwischen liegt:

"Nur fünf Prozent sterben einen plötzlichen Tod"

Herr Borasio, Sie schreiben, dass Sie Ihre Zuhörer bei Vorträgen gerne nach den Wünschen für das eigene Sterben befragen. Etwa drei Viertel geben an, dass Sie plötzlich und unerwartet aus voller Gesundheit heraus sterben wollen. Wie sieht die Realität aus?

Gian Domenico Borasio: Die Realität sieht anders aus. Nur etwa fünf Prozent der Menschen sterben einen plötzlichen Tod aus voller Gesundheit heraus (zum Beispiel durch Unfall oder Herzinfarkt). Ungefähr 90 Prozent der Menschen werden in Zukunft an chronischen Erkrankungen sterben. Sie werden – besser gesagt: wir alle werden – beim Sterben in der Regel sehr alt und pflegebedürftig sein sowie an vielen Krankheiten gleichzeitig leiden, darunter oft an Demenz. Darauf sollte sich das Gesundheitssystem eigentlich einstellen, tut es aber leider nicht. Wir haben in Lausanne kürzlich die weltweit erste Professur für geriatrische Palliativmedizin eingerichtet – ein erster kleiner Schritt.

"Tod wird in medizinische Einrichtungen 'verbannt'"

Früher wurde der Tod als Ritual zelebriert: Angehörige hielten Wache bei ihren Toten, wuschen sie und kleideten die Verstorbenen an. Es wurde Abschied genommen, oft über Tage hinweg. Heute haben viele Menschen auch im Alter von 30, 40 oder 50 Jahren noch nie einen Toten gesehen. Verliert die Gesellschaft den Bezug zum Sterben, zum Tod?

Gian Domenico Borasio: Einerseits leben wir in eine Gesellschaft, die vom Wahn der ewigen Jugend und der immerwährenden Gesundheit besessen zu sein scheint. Man braucht sich nur die Werbung anzugucken. Der Tod wird in medizinische Einrichtungen "verbannt", die früher üblichen Totenwachen gibt es praktisch nicht mehr. Kindern wird es verwehrt, von ihren verstorbenen Großeltern Abschied zu nehmen – wie sollen sie da noch ein vernünftiges Verhältnis zu Tod und Sterben entwickeln?

Andererseits, und erfreulicherweise, möchten immer mehr Menschen etwas über Tod und Sterben erfahren. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Büchern darüber, und die Anzahl der Menschen, die sich aktiv mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzt, nimmt stetig zu. Inzwischen hat in Deutschland mehr als die Hälfte der Sterbenden eine Patientenverfügung, das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen.

"Benennung eines Bevollmächtigten"

Menschen, die nicht plötzlich sterben, beobachten häufig über Jahre hinweg, wie sich ihr Allgemeinzustand verschlechtert. Mit den Angehörigen sprechen oder Vorkehrungen treffen, tun aber die wenigsten. Sterben ist noch immer ein Tabu-Thema. Wie kann man dem entgegen wirken?

Gian Domenico Borasio: Es gibt drei einfache Regeln für gute Entscheidungen am Lebensende: erstens reden, zweitens reden, drittens reden. Wenn ich möchte, dass meine Wünsche und Vorstellungen respektiert werden, dann muss ich sie auch den Menschen, die mir nahestehen, kundtun. Viele Menschen wissen zudem nicht, dass es in Deutschland keine automatische Vertretung eines entscheidungsunfähigen Menschen durch seinen Ehepartner oder seinen Angehörigen gibt. Daher ist die Benennung eines Bevollmächtigten besonders wichtig. Denn das Wort des Bevollmächtigten zählt im Ernstfall genauso, als ob es der Patient selbst sagen würde.

Es ist aber auch Aufgabe der Gesellschaft, diesen Dialogprozess durch das Abbauen von Tabus und die Bereitstellung von kompetenter Hilfe zu erleichtern. Initiativen wie "Hospiz in der Schule" sowie die kürzlich gesetzlich verankerte Förderung der sogenannten "gesundheitlichen Vorausplanung" in Alten- und Pflegeheime sind wichtige Schritte in die richtige Richtung.

"Über die eigenen Wünsche und Prioritäten reden"

Sterben ist der intimste Prozess, den man sich vorstellen kann. Meist ist das Sterben aber nicht selbstbestimmt. Ärzte, Angehörige oder gar Fremde entscheiden im Zweifelsfall, wie lange der Sterbeprozess dauert. Welche Vorkehrungen sind essentiell, wenn ein Patient diesen Zweifelsfall verhindern, wenn er selbstbestimmt sterben möchte?

Gian Domenico Borasio: Selbstbestimmung am Lebensende hat ganz unterschiedliche Facetten. Für viele Menschen sind Fragen wie "Welche Erinnerung wird von mir bleiben?" oder "Wie wird es meiner Familie nach meinem Tod ergehen?" wichtiger als die Frage, wie ihre letzte Lebensphase verlaufen wird. Wer sich vor Übertherapie schützen möchte, sollte eine Patientenverfügung verfassen, einem Menschen seines Vertrauens eine Vorsorgevollmacht ausstellen, und mit diesem ausführlich über die eigenen Wünsche und Prioritäten reden. Erläuterungen und Formulare hierzu findet man in der Vorsorgebroschüre des Bayerischen Justizministeriums, die kürzlich aktualisiert wurde und kostenlos im Internet herunterzuladen ist (www.bestellen.bayern.de, suchen nach "Patientenverfügung").

Es gibt aber auch Menschen, für die Selbstbestimmung etwas ganz Anderes bedeutet, nämlich sich vertrauensvoll in die Obhut anderer Menschen zu begeben. Und man findet in wissenschaftlichen Studien bei praktisch allen Sterbenden eine Werteveränderung hin zum Altruismus, die eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensqualität bewirkt. Vielleicht steckt darin auch eine Botschaft an uns alle?

"Fähigkeit zum aktiven Zuhören"

Sie schreiben, dass Menschen am Lebensende unter anderem Kommunikation brauchen. Wie können Ärzte und Angehörige, Seelsorger oder Pflegekräfte richtig mit dem Patienten kommunizieren?

Gian Domenico Borasio: Kommunikation ist der Hauptpfeiler der Palliativmedizin, ja der gesamten Medizin. Was in den letzten Jahren auch durch Forschungsarbeiten immer klarer wurde, ist die zentrale Rolle der Arzt-Patienten-Kommunikation am Lebensende. Zum einen kann der Einfluss ärztlicher Äußerungen auf die Entscheidungen von Patienten kaum überschätzt werden; zum anderen ist es für Patienten und Familien gerade in kritischen Situationen am allerwichtigsten, sich vom Arzt gehört und verstanden zu fühlen – wozu dieser viel Zeit und Empathie einsetzen muss.

Die Fähigkeit zum aktiven Zuhören wird immer mehr als eine der wichtigsten Eigenschaften eines guten Arztes erkannt. Leider fällt es Ärzten unter den Bedingungen der modernen Medizin zunehmend schwer, sich dafür die notwendige Zeit zu nehmen. Dabei müssten sie nur drauf schauen, wie wunderbar die meisten Pflegenden, Sozialarbeiter, Psychologen oder Seelsorger mit Patienten kommunizieren, und wieviel persönliche Bereicherung sie dabei erfahren. Es ist meine feste Überzeugung: Die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein, oder sie wird nicht mehr sein.

"Um sich greifende Übertherapie"

Sie vergleichen den Prozess des Sterbens mit der Geburt. Für beide Vorgänge habe die Natur Vorkehrungen getroffen. Wie bewerten Sie das Eingreifen der Medizin in den natürlichen Prozess des Sterbens?

Gian Domenico Borasio: Es gibt in der Tat erstaunlich viele Parallelen zwischen Geburt- und Sterbevorgang. Es sind die einzigen Ereignisse, die allen Menschen gemeinsam sind. Es sind beides physiologische Vorgänge, die in den meisten Fällen am besten ablaufen, wenn sie durch ärztliche Eingriffe möglichst wenig gestört werden. Und in beiden Vorgängen greift die moderne Medizin zunehmend häufiger, zunehmend invasiver und teilweise zunehmend unnötiger ein. Bei der Geburt sind es die vielfach unnötigen Kaiserschnitte, beim Sterben die inzwischen um sich greifende Übertherapie. Menschen werden – leider nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen – regelrecht an einem friedlichen Sterben gehindert, das doch eigentlich ihr gutes Recht sein sollte.

Was verloren gegangen ist, ist eine ärztliche Tugend, die ich als das "liebevolle Unterlassen" am Lebensende bezeichne. Dazu braucht es manchmal Mut, auch angesichts des Therapie-Drucks, der gelegentlich von den Angehörigen ausgeübt wird. Aber dieser Mut lohnt sich.

"Jeder Mensch stirbt anders"

Welche Schritte müssen Patienten und deren Familien machen, um eine gute Sterbebegleitung zu organisieren?

Gian Domenico Borasio: Das wichtigste ist ein guter Hausarzt, der auch Hausbesuche macht. Das ist gerade in Großstädten leider keine Selbstverständlichkeit mehr. Noch besser, wenn der Hausarzt eine Ausbildung in Palliativmedizin hat. Wenn es besonders schwierig wird, stehen inzwischen in praktisch allen Städten Deutschlands ambulante Palliativteams zur Verfügung, welche die Kranken zuhause begleiten können.

Aber, so banal es auch klingen mag: Am allerwichtigsten für ein gutes Sterben ist es, ein gutes Leben geführt zu haben. Die Erfahrungen in der Palliativmedizin zeigen eindeutig, dass die meisten Menschen so sterben, wie sie gelebt haben. Und jeder Mensch stirbt anders. Allerdings bin ich noch keinem Menschen begegnet, der mir gesagt hätte "Herr Doktor, ich hätte in meinem Leben mehr arbeiten sollen".

"Fehlanreize zur Übertherapie eliminieren"

Wie können öffentliche Instanzen, Staat und Recht, eine gute Sterbebegleitung durch den passenden gesetzlichen Rahmen unterstützen?

Gian Domenico Borasio: Hier sind in Deutschland in den letzten Jahren wichtige Schritte unternommen worden, zuletzt 2015 mit dem Hospiz- und Palliativgesetz. Was jetzt dringend ansteht, ist eine Reform des Gesundheitssystems, die der immer älter werdenden Bevölkerung und der steigenden Pflegebedürftigkeit Rechnung trägt. Vor allem aber sollten die vielfältigen finanziellen Fehlanreize eliminiert werden, die zur Übertherapie und damit jedes Jahr zu unnötigem Leiden für Hunderttausende von Menschen am Lebensende führen. Hier ist noch viel zu tun.

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