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"Dialog ist der einzige Weg"

Mit welchen Problemen kämpfen junge Muslime in der Gesellschaft und im Privaten?

Aus ihrer Heimat haben die Eltern vieler junger Muslime Traditionen mitgebracht, die im bunten Kulturenmix Berlins überholt sind. (Bild: Reinhold Kiss/ Pixelio)

Isabella-Alessa Bauer, Volontärin der Münchner Wochenanzeiger, besuchte in Berlin den vierwöchigen Volontärkurs der Evangelischen Journalistenschule, an dem junge Journalisten aus der ganzen Bundesrepublik teilnahmen. Sie erzählt, wie diese Reportage zustande kam:

"Eines der anspruchsvollsten Projekte während des Seminars war das Schreiben unserer Reportagen. Wir machten uns in einer fremden Stadt auf die Suche nach interessanten Protagonisten und wichtigen, spannenden Themen, um einen außergewöhnlichen und faszinierenden Text daraus entstehen zu lassen. 'Jede Reportage braucht einen Helden', hatte uns unsere Dozentin zuvor mit auf den Weg gegeben. In Neukölln habe ich definitiv zwei Helden getroffen."

Ein Besuch in Neukölln

Sieben lange Monate haben sie nicht miteinander gesprochen. Es gab keine Telefonate, keine Besuche, keine Nachrichten. Kalils dunkle Augen sehen sein Gegenüber nicht, wenn er von diesen sieben Monaten spricht, stattdessen sehen sie Vorwürfe, Wut und die Worte, die nicht hätten fallen dürfen. Ob man sich das vorstellen könne, sieben Monate ohne Kontakt zur eigenen Familie, keine Umarmungen von der Mutter, kein Kuscheln mit den Kindern der Schwester, keiner, der hilft, wenn man selbst nicht mehr weiter weiß. Hilflos rudern Kalils große Hände durch die Luft, während er nach der passenden Beschreibung für seine Gefühle sucht. Wie soll man auch erklären, wie es ist, wenn man plötzlich mutterseelenallein auf der Welt zu sein scheint. Sieben lange Monate – wegen einem einzigen Satz seines Vaters.

Sieben Monate Schweigen

Kalil ist Deutscher. In Deutschland geboren, deutscher Pass, deutsche Sprache, deutsche Schule. Kalils Eltern kommen aus Afghanistan. Noch vor der Geburt ihres ältesten Sohnes sind sie in die Bundesrepublik gegangen. Geflohen vor den Gefahren ihrer Heimat. Natürlich hat Kalil gemerkt, dass es bei seinen Freunden anderes Essen gibt, dass seine Mutter bei Theateraufführungen in der Schule die Einzige mit Kopftuch war. Es hat ihn nur nicht interessiert, Religion war kein Thema. Kalil spricht mit den Augen, den Händen, dem ganzen Körper. Er ist beinahe zwei Meter groß, platzt förmlich aus dem kleinen Sessel des Neuköllner Cafés. Seine Eltern sind immer stolz gewesen auf ihn, er hat früh angefangen zu arbeiten, sich selbständig gemacht: Kalil verkauft Autos. Er lächelt, wenn er an die strahlenden Augen seiner Mutter denkt, vom Erlös seines ersten Wagens hat er ihr ein Messerset geschenkt - endlich ordentliche Messer. Dann lernt Kalil Emma kennen, es ist die große Liebe. Er stellt sie seinen Eltern vor, der Schwester: Alle lieben Emma. Irgendwann später sitzt Kalil bei seinen Eltern auf der Couch, er hat einen heißen Chai in der Hand als sein Vater den Satz sagt: „Dir ist klar, dass deine Söhne im islamischen Glauben erzogen werden müssen?“

Kein erzwungener Glaube

Kalil muss den Chai abstellen, er hat zu Zittern angefangen. Söhne, islamischer Glaube? Was ist mit Töchtern, was ist mit Emma - die ist Atheistin. Ein Satz führt zum anderen, plötzlich sitzen zwei Männer auf der Wohnzimmercouch, die sich nicht mehr kennen. Kalil wird seinen Kindern keinen Glauben aufzwingen. Gut, dann kann er gehen und braucht nicht wieder zu kommen. Kalil geht.

10 Prozent der Neuköllner sind afghanischer oder arabischer Herkunft. Sie sind Teil einer heterogenen, vielfältigen deutschen Identität. Die meisten Familien streiten über Hausaufgaben, das Fernsehprogramm oder den verhassten Verwandtenbesuch am Wochenende – typisch deutsch, typisch arabisch. Kalils Geschichte aber zeigt, was auch passieren kann, wenn der eigene Vater im Denken noch in der Heimat festhängt, während der Sohn keine Heimat kennt als Deutschland: Brüche entstehen.

Brüche lassen sich vermeiden

Mehdi hat auf die Frage, wie sich solche Brüche vermeiden lassen, eine scheinbar einfache Antwort: Miteinander reden, sagt er mit einem lässigen Achselzucken. Mehdi ist auch ein Typ, der beim Sprechen viel mit seinen Händen ausdrückt. Anders als Kalil lehnt er sich im Sessel auch einmal zurück. Er schafft es, trotz Jackett und Hemd, Lederschuhen und Aktentasche, entspannt auszusehen. Mehdi ist erst seit zwei Tagen aus Beirut zurück - geschäftlicher Besuch in der Heimat seiner Eltern. Miteinander reden, diesen Ratschlag wirft Mehdi nicht ohne Nachdenken in den Raum. Er weiß genau, was er da sagt. Am Tag nach dem 11. September 2001 ist sein Erdkundelehrer in die Klasse gekommen – ein Gymnasium in Neukölln, 70 Prozent der Schüler sind Muslime– und hat in die Runde gefragt: „Na, habt ihr gefeiert gestern?“

Gemeinsamkeiten sichtbar machen

Mehdi war sich mit einem Schlag bewusst, dass längst nicht alles klar ist im Verhältnis zwischen Deutschen mit deutschen Wurzeln und Deutschen mit arabischen Wurzeln. Er hat angefangen sich zu unterhalten, mit Freunden zunächst, Muslimen und Christen. Jeder konnte von einem Ereignis berichten, in dem Spaltung offensichtlich und Gemeinsamkeiten unsichtbar geworden waren. Statt sich zu beklagen, haben sie gehandelt und den Verein „Muslime Aller Herkunft Deutscher Identität“ (M.A.H.D.I. -e.V.) gegründet. Als gemeinnützige Jugendselbstorganisation tun Mehdi und seine Mitstreiter seitdem wenig anderes als reden. „Dialog ist der einzige Weg“, bei diesen Worten gibt Mehdi seine entspannte Haltung auf, lehnt sich nach vorne, er muss nicht laut werden, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. M. A.H.D.I.-e.V. organisiert Podiumsdiskussionen; die inzwischen 80 Mitglieder aus zehn Nationen halten Vorträge, gehen in Schulen, Moscheen, Kirchen. Mit dem Format „Vorbilder schaffen“ zeigen sie einmal im Jahr, wie gelungene Integration aussieht: Junge Menschen mit Migrationshintergrund feiern mit dem Verein ihre schulischen und akademischen Erfolge. Angefangen haben sie mit 30 Absolventen, inzwischen kommen 200. Neuköllns Migrationsbeauftragter hat Mehdi einmal gesagt, dass „Vorbilder schaffen“ nach seiner Meinung den ein oder anderen erst in die Uni und zum Abschluss gebracht hat.

Vorbilder schaffen

In einer idealen Welt wären Theorien von Leitkulturen lange verblasst, individuelle Weltanschauungen würden bedingungslos toleriert, solange sie im Einklang mit geltendem Recht stehen. In der realen Welt gab es im ersten Halbjahr 2016 bundesweit 29 Anschläge auf Moscheen und tätliche Übergriffe auf Muslime. 129 Mal sind Islamfeinde auf den Straßen marschiert. Währenddessen predigen Radikale in der Fußgängerzone den Dschihad und entsenden junge Muslime nach Syrien.

Die Entwicklung lässt Mehdi nicht unberührt. Auch deswegen steht „Vorbilder schaffen“ dieses Jahr unter dem Motto innerislamischer und christlich-islamischer Dialog. Radikalisierung junger Muslime basiert auf einem simplen Konstrukt: Vermeintlich Ungläubige werden identifiziert und ermahnt. Wer nicht zum wahren Glauben übertritt, wird bekämpft. Wer an dieser Formel zweifelt, kann nur selbst ein Ungläubiger sein. Mehdi wirft die Hände in die Luft: „Verstehst du, es ist so einfach – man befiehlt ihnen: Gehirn aus und gehorchen. Und sie gehorchen.“

Hinterfragen, nachdenken und diskutieren

Hier setzt Mehdi mit dem Verein an – die jungen Leute sollen lernen, dass hinterfragen, nachdenken, und diskutieren nicht falsch sind. Dass nicht jeder, der einmal zweifelt, vom Glauben abfällt. Keine Tabus, nur Dialog.

Und wenn es vom ganz Großen - der Gesellschaft, der Politik – ins ganz Kleine geht, die Familie, die Liebe? Mehdi grinst, er ist nicht verheiratet, darüber macht er sich Gedanken, wenn es soweit ist. Im Zweifel wird er reden. Weil Dialog immer besser ist als Schweigen. Weil Vorurteile nur bestehen bleiben, wenn es keine Chance gibt, sie zu entkräften.

Kalil hat sieben Monate nicht geredet. Eisernes, bitteres Schweigen. Mit Emma gab es viel Streit, sie hat sich Vorwürfe gemacht, fühlte sich schuldig am ganz großen Bruch. Nur langsam konnte Kalil ihr erklären, dass es nicht darum geht, dass sie nicht glaubt. Sondern darum, dass Kalil seinen Kindern nicht sagen wird, was sie zu glauben haben. Egal wer ihre Mutter ist. Es ist Emmas Verdienst, dass Kalil nach sieben Monaten zu seinen Eltern fährt. Mit Engelszungen hat sie auf ihn eingeredet. Kalil hat sich zurückgelehnt im Sessel, ein Bär von einem Mann, der jetzt ganz leise Töne anschlägt. Seine Mutter macht an dem Tag die Tür auf und beginnt sofort zu weinen. Der Vater steht hinter ihr im Flur, seine Mama dreht sich zu ihrem Mann, sie wird dem eigenen Sohn nicht die Tür weisen. Der Vater nickt und geht ins Wohnzimmer. Da sitzen sie wieder, einen heißen Chai in der Hand. Und sie reden.


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