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"Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen, nicht die Ökonomie"

Generaloberin Edith Dürr erklärt, wie die Pandemie die Arbeitsbedingungen in der Pflege noch verschärft hat

"Zur Aufwertung des Pflegeberufs gehört eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen", sagt Generaloberin Edith Dürr. (Bild: Sylvia Willax)

Immer dienstags kommt das Aktionsbündnis „Dienst-Tag für Menschen“ auf dem Rotkreuzplatz zusammen und demonstriert für verbesserte Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Anerkennung für Berufe im Gesundheitswesen, Behindertenhilfe und Pflege. Die Schwesternschaft München vom Bayerischen Roten Kreuz e.V. hat das Würzburger Aktionsbündnis nach München geholt. Geplant ist, die Aktion bis zur Bundestagswahl im Herbst fortzusetzen. Tanja Beetz sprach mit Generaloberin Edith Dürr, Vorstandsvorsitzende der Schwesternschaft München, über Pflege in Pandemie-Zeiten, Forderungen an die Politik und die Berufswahl.

"Gute Gespräche"

Sie haben unlängst das Würzburger Aktionsbündnis "Dienst-Tag für Menschen" nach München geholt. Wie reagieren die Passanten darauf?

Edith Dürr: Wir haben die erste Aktion am Rotkreuzplatz am 23. März abgehalten und sind seitdem jeden Dienstag zwischen 17 und 17.30 Uhr präsent. Die Passanten reagieren zunehmend interessiert, fragen nach, warum wir stumm demonstrieren. Es entwickeln sich gute Gespräche, nahezu alle signalisieren Solidarität, auch die betreuenden Polizistinnen und Polizisten.

"Aufwertung der Aus- und Fortbildung"

Sie sagen, Pflegebonus und Klatschen alleine genügen nicht für eine nachhaltige Aufwertung der Pflege. Welche Forderungen haben Sie konkret an die Politik – und an uns Bürger?

Edith Dürr: Wir setzen uns nicht nur für die Pflegefachkräfte ein, sondern für alle Beschäftigten in den Bereichen Pflege, Gesundheitswesen und Behindertenhilfe. Wir wollen die Gesellschaft für die Arbeits- und Rahmenbedingungen in diesen Bereichen zu sensibilisieren. Das Thema geht jeden Bürger und jede Bürgerin an, denn jeder kann irgendwann auf Pflege/Gesundheitsversorgung angewiesen sein. Zu unseren konkreten Forderungen zählt, dass der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht die Ökonomie. Profitmaximierung darf für Einrichtungen des Gesundheitswesens nicht das primäre Ziel sein. Eine weitere, sehr wichtige Forderung ist die nach mehr Zeit für den Menschen, für eine zugewandte Pflege und Betreuung. Dafür sind ein Abbau der Bürokratie mit Reduzierung der schriftlichen Dokumentation und eine fachliche Stärkung des Personals durch die Aufwertung der Aus- und Fortbildung erforderlich. Zur Aufwertung des Pflegeberufs gehört eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Wertschätzung zeigt sich zwar nicht nur in der Bezahlung, aber ohne einen adäquate Tariflohn für alle Beschäftigten in der Kurz- und Langzeitpflege sowie in der Behindertenhilfe ist ein Leben und Wohnen gerade in Ballungsgebieten kaum möglich. Deshalb fordern wir nicht nur einen besseren Personalschlüssel, sondern auch eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und höhere Zuschläge für Nacht- und Wochenenddienste. Corona hat uns den Stellenwert der Pflege deutlich vor Augen geführt – jetzt ist es an der Zeit, dass die Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen für ein am Gemeinwohl – und nicht am Profit - orientiertes Gesundheitswesen schafft.

"Erheblicher Mehraufwand"

Die Belastung der Pflegekräfte war vor Corona schon sehr hoch. Viele Kliniken und ihre Fachkräfte sind inzwischen längst an der Grenze des Durchhaltbaren. Wie geht es Ihnen und Ihren Kollegen?

Edith Dürr: Das Pflegepersonal in allen Bereichen kämpft seit vielen Jahren gegen einen zunehmenden Fachkräftemangel. Durch die Pandemie hat sich dieser Mangel verschärft und die Mehrbelastung am Arbeitsplatz ist deutlich gestiegen. Den Kliniken ist durch die Umstrukturierung des gesamten Betriebs auf Notfallversorgung mit Stilllegung der elektiven Eingriffe und Aufstockung der Intensivstationen ein erheblicher Mehraufwand entstanden. Die Pflegekräfte bewältigen ein deutlich erhöhtes Patientenaufkommen, vor allem von schwer Erkrankten. Die Konfrontation mit einer bislang unbekannten, schweren Erkrankung, für die es noch immer keine anerkannte Behandlung oder Heilung gibt, belastet ebenso sehr wie die Sorge um die eigene Gesundheit und die des persönlichen Umfelds. Dazu kommt der Ausfall von an Covid erkrankten Kolleginnen und Kollegen, der kompensiert werden muss und die permanente Arbeit in kompletter Schutzausrüstung mit Brille, Maske, Handschuhen und zusätzlichem Schutzkittel. Pflegefachkräfte leisten in der Corona-Pandemie nahezu Übermenschliches!

"Ein hochanspruchsvoller Beruf"

Wir brauchen Menschen wie Sie. Sie üben einen verantwortungsvollen und vielseitigen Beruf aus, in dem Sie aber auch jeden Tag große Belastungen, manches Leid und viele Herausforderungen erleben. Wenn Sie noch einmal vor der Berufswahl stehen würden, würden Sie diesen Beruf wieder wählen?

Edith Dürr: Ja, ich persönlich würde diesen Beruf ohne zu Zögern wiederergreifen, weil die Pflege am Menschen nicht nur eine sinnerfüllte Tätigkeit ist, sondern auch viele Einsatzfelder wie etwa Intensiv, Onkologie oder ambulante Pflege eröffnet. Er bietet Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten durch Fort- und Weiterbildung und Studiengänge, zudem ist er krisensicher. Aus Laienperspektive stehen Themen wie Leid, Not, Krankheit, Tod im Vordergrund. Im Pflegeberuf geht es jedoch um eine professionelle Haltung und die Fachlichkeit, um diese Stationen des normalen Lebensprozesses jedes Menschen zu begleiten. Belastungen entstehen dann, wenn zu wenige Kolleginnen und Kollegen zu viele Patientinnen und Patienten versorgen müssen. Die Pandemie zeigt in aller Deutlichkeit, welche herausragende und zentrale Bedeutung Berufe im Gesundheitswesen für die Bevölkerung haben. Pflege ist ein hochanspruchsvoller Beruf. Er verlangt hohe Fachlichkeit, kombiniert mit der Fähigkeit, Menschen in Krankheit und Leid beizustehen und professionell zu begleiten. Parolen wie „Herz am rechten Fleck“ oder „helfende Hand“ sind hier völlig fehl am Platz und verkennen den gesellschaftlichen Auftrag des Heilberufs Pflege.


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