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„Das Wichtigste ist Unabhängigkeit“

Chancengleichheit: Noch immer beginnt für viele Frauen mit der Familie der Weg in eine berufliche Abwärtsspi

Dass Männer und Frauen in Deutschland die gleichen Rechte haben, daran zweifelt wohl niemand. Aber haben sie auch die gleichen Chancen? Die Hochzeiten der Emanzipation sind längst vorbei, die patriarchalen Strukturen sind aufgebrochen. Frauen in Männerberufen, Männer, die sich um Kinder kümmern, werden heute gesellschaftlich akzeptiert. Leben wir jedoch tatsächlich in einer geschlechtergerechten Gesellschaft beziehungsweise wollen wir das überhaupt und was müsste getan werden, um dieses Ziel zu erreichen? „Männer und Frauen haben die gleichen Chancen. Wirklich?“ Diese Frage diskutierten Expertinnen und Experten beim Sommergespräch im Hirschgarten.

„Ich wünsche mir, dass wir Frauen genauso Führungs- und Leitungsjobs bekommen wie die Männer und dass wir gegenüber den Männern nicht benachteiligt werden“. Die 13-jährige Johanna Mutert, Schülerin an der Städtischen Anne-Frank-Realschule hat genaue Vorstellungen über ihre Zukunft. Sie möchte einmal eine Familie gründen und trotzdem ihren Beruf ausüben – und „eine starke Frau werden“.

"Das will ich und das will ich nicht"

Die Chancen dafür sind gut. Die Schülerin besucht eine Mädchenschule, die für ihr Bildungskonzept bereits mehrfach Schulpreise gewonnen hat. An der Ganztagsschule wird ein besonderer Schwerpunkt auf die Naturwissenschaften gelegt, außerdem sollen „die Schülerinnen zu selbstbewussten jungen Frauen gemacht werden, die hinterher sagen können, das will ich und das will ich nicht“, betont Rektorin Eva-Maria Espermüller-Jug. Bernhard Laumer ist Lehrer an der Anne-Frank-Realschule. Er hat beobachtet, dass sich in der reinen Mädchenschule die Schülerinnen in den naturwissenschaftlichen Fächern mehr zutrauen. „In gemischten Klassen sind sie eher zurückhaltend und die Jungs oft dominierend, auch wenn die Fähigkeiten geringer sein sollten." Oft seien die Mädchen „toll vorbereitet“, aber gingen dann im Unterricht unter, „weil die Jungs so Macher-Typen sind, die Show machen."

Viele Frauen stecken zurück

Leider würde sich dies im Berufsleben fortsetzen, meinte die Kraillinger Bürgermeisterin Christine Borst. „Die Frauen können die tollste Ausbildung haben - wenn es darum geht, Karriere zu machen und eine Familie zu gründen, dann stecken viele zurück und bleiben halt doch daheim." Schulleiterin Espermüller-Jug stimmte dem zu: Sie hat die Erfahrung gemacht, dass viele Frauen freiwillig auf Karriere verzichten und bei den Kindern zuhause bleiben, „trotz gleichwertig guter Ausbildung wie der Mann“.

Verdi-Vertreterin Almut Büttner-Warga war die Feststellung wichtig, dass es generell kein Problem sei, wenn Frauen freiwillig ihren Beruf aufgeben und zuhause bleiben. „Sie müssen aber selbst entscheiden können, ob sie ihr Kind in der Krippe abgeben oder ob sie es selbst erziehen."

Anschluss ist schnell verpasst

Noch immer seien es in unserer Gesellschaft die Frauen, die die Hauptlast der Erziehung übernehmen würden. Dabei wäre es vor allem für Frauen in naturwissenschaftlichen Berufen fatal, wenn sie ihre Berufstätigkeit unterbrechen würden, „da verpasst man ganz schnell den Anschluss“, befürchtete Espermüller-Jug. Sobald der Mann in der freien Wirtschaft tätig sei, werde wenig Rücksicht auf Familie genommen. „Wer sein Kind früher vom Kindergarten abholen muss, muss einen Urlaubstag nehmen“, kritisierte die Schulleiterin. Hier müssten die Betriebe mehr Flexibilität zeigen.

Nach der Familienphase wieder beruflich einzusteigen, das dürfe für Frauen kein Problem darstellen, forderte Büttner-Warga. Dafür habe die Gewerkschaft Verdi gemeinsam mit der Stadt München verschiedene Kooperationen initiiert. Zum Beispiel gebe es Seminare für Frauen, die wiedereinsteigen wollen. Auch im Landkreis Starnberg gibt es solche Programme. „Der neue Start ab 35 wendet sich an Frauen nach der Familienphase, die sich neu orientieren wollen“, erklärte Borst.

Der Rahmen muss stimmen

Allerdings müssen die Rahmenbedingungen stimmen, um Beruf und Familie vereinbaren zu können. Die Würmtal-Gemeinde Krailling nimmt dabei eine Vorreiterrolle ein. Hier wurde Christine Borst zum zweiten Mal zur Bürgermeisterin in einer von Männern dominierten Domäne gewählt. Sie ist eine der vier Prozent Frauen in Bayern, die dieses Amt bekleiden. In Krailling wurde die erste Ganztagsgrundschule im Landkreis Starnberg eingerichtet, für 80 Prozent der Kleinsten gibt es einen Krippenplatz und jedes Kind hat einen Kindergartenplatz, zählte Borst auf. Beste Bedingungen also, um als Frau wieder in den Beruf einsteigen zu können. Doch vielen Frauen fehle dazu der Mut, „sie trauen sich zuwenig zu“, bedauerte die Bürgermeisterin.

Frauen für den Beruf stärken

Aus diesem Grund bietet Ursula Betz im Sozialbürgerhaus in Ramersdorf-Perlach Projekte, in denen fehlende Qualifikationen nachgeholt werden und der Wiedereinstieg in den Beruf erleichtert wird. Auch im Familienzentrum Hadern-Blumenau wird versucht, die Frauen für den Beruf zu stärken. Das Familienzentrum ist ein niederschwelliges Angebot, das von rund 70 Prozent an Frauen mit Migrationshintergrund besucht wird. Viele sind alleinerziehend und können kaum Deutsch.

"Deutschkurs ist immer voll"

„Wir bieten deswegen einen Deutschkurs mit Kinderbetreuung an, der ist immer voll“, berichtete Streifeneder. Viele der Teilnehmerinnen würden in einem Umfeld leben, in dem sie nicht deutsch sprechen brauchen. Für diese Klientel möchte das Familienzentrum eine Art „Konversationskurs“ anbieten. Nicht immer werde ein Spracherwerb in den ausländischen Familien als notwendig erachtet. Christine Borst hat die Erfahrung gemacht, dass es Ehemänner gibt, die ihre Frauen mit Absicht nicht Deutsch lernen lassen wollen, „sie üben dadurch Macht aus und unterbinden eine Eigenständigkeit der Frauen“. Von Gleichberechtigung könne da nicht die Rede sein. Dabei seien Deutschkenntnisse wichtig, um aus der Armut zu kommen. Betz: „Je besser die Deutschkenntnisse sind, umso besser ist auch der Job“. Streifeneder: „Man kann nicht alle integrieren, manche wollen das gar nicht."

Vieles liegt im Argen

Die stellvertretende Schulleiterin an der Anne-Frank Realschule, Simone Schild, stammt aus der DDR. Die Lehrerin für Mathe, Chemie und Informationstechnologie ist in einem Umfeld aufgewachsen, in dem technische Berufe für die arbeitenden Frauen „normal“ waren. Nach ihrem Umzug in den Westen musste sie erfahren, dass es im Westen mit der Gleichbehandlung zwischen Frauen und Männern vor allem im beruflichen Bereich nicht so gut bestellt ist. Ihr Mann hat beispielsweise für die gleiche Tätigkeit an einer Privatschule ein höheres Gehalt bekommen als sie.

Das ist kein Einzelfall, weiß die Frauensekretärin der Gewerkschaft Verdi, Almut Büttner-Varga. „Wir müssen für die Gleichberechtigung noch viel tun“, sagt sie. Vor allem in der Privatwirtschaft liege noch vieles im Argen. Da gebe es keine Quoten, „wenn man als Frau ein Kind bekommt, fliegt man raus“. Oft würden sich jedoch die Frauen „unter Wert“ verkaufen. Sie nehmen Tätigkeiten an, die unter ihrer Qualifikation liegen „und begeben sich dadurch in eine Abwärtsspirale."

"Das Wichtigste ist Unabhängigkeit"

Ein Lob spracht Betz in Richtung Stadt aus. Was in der freien Wirtschaft fast unmöglich sei, das klappe in der Stadtverwaltung: „Es gibt 50 verschiedene Teilzeitmodelle bei der Stadt." Gegen Ende der Diskussion erzählte Christine Borst von einer Begebenheit im Biergarten. Dort habe sie kürzlich ein Gespräch eines gut situiert wirkenden Paares am Nachbartisch verfolgt. „Schatzi, bitte gib mir doch Geld und kauf mir dies und das“, habe die Frau gebettelt. Im Hirschgarten erntete Borst für diese Beobachtung ungläubiges Gelächter. Ihren Töchtern hat die Bürgermeisterin die Lehre mit auf ihren Weg gegeben, „das Wichtigste ist Unabhängigkeit, egal ob Mann oder Frau und das schafft man durch Bildung und eigenes Geld.“ Zustimmendes Nicken der Tischrunde.

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Eva-Maria Espermüller-Jug (Leiterin Anne-Frank-Realschule)

Simone Schild (stv. Leiterin Anne-Frank-Realschule)

Bernhard Laumer (Lehrer an der Anne-Frank-Realschule)

Johanna Mutert (Schülerin der Anne-Frank-Realschule)

Ursula Betz (Leiterin Sozialbürgerhaus Ramersdorf-Perlach)

Almut Büttner-Warga (Gewerkschaftssekretärin ver.di)

Andrea Streifeneder (Leiterin Familienzentrum Hadern-Blumenau)

Christine Borst (Bürgermeisterin Krailling).

Was denken Sie?

Welche Meinung vertreten Sie? Diskutieren Sie mit! Schreiben Sie uns: Münchner Wochenanzeiger, Redaktion, Fürstenrieder Str. 7-11, 80687 München, leser@muenchenweit.de. Wir veröffentlichen Ihren Standpunkt.

So geht's weiter

Lesen Sie weitere Sommergespräche in Sendlinger Anzeiger / Werbe-Spiegel bzw. Samstagsblatt (bereits erschienene Beiträge finden Sie online):

Ganztagsschule: "Ist das wirklich kindgerecht?"

Sportplätze: "Das ist brutale Arbeit"

Werte: "Richtig und Falsch existieren nicht mehr"

Vereine: "Geht da nicht auch vieles kaputt?"

Fachkräfte: Steuern wir kopflos in den Fachkräftemangel?

Internet: "Man überschreitet schneller Grenzen"

Bürgerbeteiligung: "Wünsche der Bürger werden oft vom Tisch gewischt"

Lesen und Schreiben: "Brennt das Lagerfeuer nieder?"

Garteln in der Stadt: "Im Garten darf ich Mensch sein"


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