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"Alte Klassiker haben es schwer"

Wer schätzt schon noch Gedichte und Kunst? Fehlt uns der Respekt?

Eine Schneeflocke (Makroaufnahme) ist unbestreitbar wunderschön. Dass man "Schönheit" nicht messen kann, spielt keine Rolle. (Bild: colourbox.com)

Ingenieure können sich die tollsten Jobs aussuchen, Germanisten gelten als brotlose Schöngeister, die mit Taxifahren ihr Leben fristen müssen. Schon in der Schule zählen vor allem die MINT-Fächer, also Mathe und die Naturwissenschaften. Fächer wie Literatur und Philosophie haben ein mieses Image. Da stellt sich die Frage, wozu wir heutzutage überhaupt noch Kunst brauchen. Viele erinnern sich noch an die Qualen des Auswendiglernens von 20 Strophen „Die Bürgschaft“ in der Schulzeit oder an die öden alten Meister im Museum. „Kunst ist vollkommen nutzlos“, hat schon der irische Schriftsteller Oscar Wilde einmal gesagt. Diesen boshaften Spruch wollen unsere Gesprächsteilnehmer so nicht stehen lassen. Beim Frühstück im Gasthof Widmann (Oberer Wirt) in Gilching gehen sie auf Spurensuche, wer heutzutage noch Gedichte liest und was Kunst alles bewirken kann.

Lyrik muss modern sein

Herr über eine Bibliothek mit 60.000 Gedichtbänden ist Dr. Holger Pils. Der Geschäftsführer der Münchner Stiftung Lyrik Kabinett muss oft erklären, was an Lyrik so toll ist. Damit hat er aber überhaupt kein Problem, denn er sieht die totgesagten Gedichte quicklebendig. Gerade die ganze Slam-Poetry-Szene oder moderne Dichter wie Jan Wagner kämen gut an, weil sie die Brücke zu den Themen von heute schlagen. „Lyrikveranstaltungen sind viel besser besucht als man denkt“, räumt er ein Vorurteil aus. Es ist das gesprochene Wort, das den Unterschied macht. Deswegen ist Lyrik kein Fall für den Elfenbeinturm. “Lyrik eignet sich fantastisch dafür, gemeinsam mit Freunden ein Kunsterlebnis zu teilen und sich mit Themen auseinanderzusetzen, die mit dem eigenen Leben zu tun haben.“

Dass Gedichte den Lebensnerv der heutigen Generation treffen müssen, um ein Publikum zu finden, das setzt auch Nicolai Scherle voraus. Der Wirtschaftsprofessor kann es vielleicht besonders gut beurteilen, denn er ist gelernter Buchhändler. „Die alten Klassiker haben es da vermutlich schwer.“ Seine Studenten sind alle „digital natives“, also mit dem Handy und Computer aufgewachsen. „Diese Generation liest schon noch, aber anders.“ Sie habe wenig Lust, sich auf große Wälzer einzulassen. „Ein Roman wie der „Ulysses“ mit 1.000 Seiten ist eher schwierig, da hat es die Lyrik mit ihrer kürzeren Form wahrscheinlich sogar einfacher.“ Den weit verbreiteten Kulturpessimismus teilt Scherle nicht, ganz im Gegenteil: „Ich traue den jungen Leuten sogar einen offeneren Zugang zu abstrakten Werken zu.“ Das glaubt auch Bäckermeister Willi Boneberger: „Früher hieß es doch immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten. Heute nimmt man sich mehr Zeit, sich mit Kunst zu beschäftigen als 1960 oder 1970.“

Kunst: Erfolgserlebnisse bei Schülern

Dass es in der Leistungsgesellschaft immer nur um die Noten und die messbaren Erfolge geht, das sieht Daniel Geiger als einen ganz großen Nachteil. Der junge Künstler leitet Projekte an Förderschulen. Er hat viel mit Kindern zu tun, die sich schlecht konzentrieren können und die auf der „pädagogischen Autobahn“ wie er es nennt, benachteiligt sind. Eindrucksvoll erzählt er davon, wie das kreative Arbeiten die Stärken und Kompetenzen dieser Schüler entwickeln hilft. Wie zum Beispiel das Selbstbewusstsein. Ich kann überhaupt nicht malen, sei am Montag der typische Spruch. „Und dann schafft es am Ende der Woche eine Schülerin, die sonst nie gerade auf einer Zeile schreiben kann, problemlos bei ihren Comic-Figuren eine ganz saubere Kontur hinzukriegen.“ Oder die Teamfähigkeit und den sozialen Umgang. „Ein Schüler, der immer super-cool tut, überwindet sich dazu, etwas für ihn Unangenehmes zu machen“, berichtet Geiger von seinen Erfahrungen. „Wenn ich so ein Verhalten aufbreche, ist das der wahre Erfolg, auch wenn er nicht direkt messbar ist.“

Kunst geht unter die Haut

„Willkommen, ihr Arbeitslosen der Zukunft“. Es war ganz schön abwertend, wie Simone Berger damals im ersten Semester Germanistik und Amerikanistik begrüßt wurde. Aber davon hat sie sich nicht abschrecken lassen. Berger leitet die Starnberger Kulturtafel. Ein Einrichtung, die frei gewordene Eintrittskarten weitergibt an Leute, die sich einen Konzertbesuch finanziell sonst nicht leisten können. Sie erlebt praktisch jeden Tag, was ein Kulturerlebnis mit den Menschen macht, wie es sie emotional berührt und ihnen neue Impulse im Leben gibt, gerade weil sie sonst keinen Zugang zu Musik oder Kunst haben. Wie sehr das unter die Haut geht, hat sie beispielsweise bei einem Vater miterlebt, der von seinen Kindern getrennt lebt. „Er wollte unbedingt mit ihnen in ein klassisches Konzert gehen“, erinnert sie sich. „Hinterher kam er zu uns und erzählte, wieviel es ihm bedeutet habe, zusammen mit den Kindern schön angezogen hinzugehen und gemeinsam die Musik zu erleben.“ Er habe sogar im Konzert weinen müssen, so sehr habe ihn das alles bewegt.

Ein Künstler muss sein Handwerk beherrschen

Wenn andere Menschen eine Freude haben an ihren Werken, dann ist das die schönste Erfüllung für Dr. Elisabeth Sorger, die am liebsten impressionistisch-gegenständlich malt. Für sie war Kunst schon immer das Größte, aber als junge Frau folgte sie dem Wunsch der Eltern und lernte „etwas Ordentliches“. Tagsüber arbeitete sie als Informatikerin, dann kümmerte sie sich um Kinder und Familie. Auch wenn sie oft müde war, kannte sie nichts Schöneres als bis tief in die Nacht vor der Leinwand zu sitzen, wenn alle im Bett waren. Jetzt im Ruhestand hat sie endlich die Zeit für ihre Leidenschaft. „Jetzt bin ich hauptberuflich Künstlerin!“ Darin geht sie auf: „Wenn ich male, dann vergesse ich Gott und die Welt und es ist eine einzige große Freude.“ Freilich müsse man sein Handwerk ordentlich beherrschen, um beispielsweise die Schattierung eines Hügels richtig hinzubringen. Kunst kann halt nicht jeder, und schon gar nicht "einfach so". „Wer es nicht richtig gelernt hat, für den ist es nur ein Kampf.“

"Kreativität bei Kindern fördern!“

„Wir müssen das Kreative bei Kindern mehr fördern“, wünscht sich Willi Boneberger. „Denn Kreativität ist das einzige, was die Maschinen nicht können.“ Der Gilchinger Bäckermeister, der Wirtschaft studiert hat, sitzt an der Schnittstelle zwischen Kunst und Handwerk. Auch wenn die Maschinen die Arbeit erleichtern, ohne das handwerkliche Geschick und kreatives Gespür geht es in seinem Beruf nicht, denn Boneberger stellt ja keine Massenware her. „Wir arbeiten mit einem Naturprodukt“, beschreibt er die täglichen Herausforderungen anschaulich. „Und so ein Teig reagiert jeden Tag anders, auch wenn es immer die gleichen Zutaten sind.“ Mal habe es Temperaturen von 40 Grad bei der Verarbeitung, mal nur 10. „Der Blick auf die Uhr ist nur ein grober Anhaltspunkt. Wie ich den Teig verarbeite, entscheide ich im Endeffekt aus meinem Gefühl heraus.“ Und dieses Gefühl stelle sich erst nach jahrelanger Erfahrung da. „Bis man sein Handwerkszeug drauf hat, ist es viel Arbeit“, gibt er Elisabeth Sorger Recht.

Wie interpretiere ich richtig?

Dem ist jeder schon mal begegnet: Bilder, die nur aus Farbsprenkeln zu bestehen scheinen und Gedichte, die einen völlig ratlos ob des tieferen Sinns zurücklassen. Was sagen die Fachleute zur Interpretation abstrakter Kunst? Sie sind sich einig, dass der Leser oder Betrachter nicht alles 100prozentig verstehen muss. „Angst vor Fehlinterpretationen sollte man nicht haben, es ist kein Rätsel, das entschlüsselt werden muss“, sagt Daniel Geiger. „Der Sinn muss nicht eindeutig sein.“ Es gehe mehr um die Wirkung: Kann sich ein Dialog zwischen Betrachter und Werk entwickeln, oder nicht? Es reiche also, an die Kunstwerke irgendwie anzudocken, hakt Simone Berger nach. „Viele Leute können nicht damit umgehen, dass etwas offenbleibt, es macht sie unruhig“, hat Holger Pils beobachtet. Die Mehrdeutigkeit sei nicht immer leicht zu akzeptieren. Dass Dichter ihre Texte mit voller Absicht so sehr verrätseln, damit sie niemand mehr verstehen kann , glaubt er indes nicht. Aber dass Gedichte manchmal sehr komplex sein können, schon. „Dann gibt es halt verschiedene Sinnebenen“, hilft er weiter. „Mal ganz ehrlich: das Leben ist ja auch sehr komplex.“

Kunst lässt keinen kalt

Kunst kann viel, das wird nach diesem Gespräch klar. Sie kann anrühren, anregen, aufrütteln, heilen Menschen ins Gespräch bringen oder einfach Freude bereiten. Manchmal ist sie rätselhaft und schwierig. Aber sie lässt keinen kalt.

Unsere Sommer-Frage

Welches Gedicht mögen Sie besonders gern? Können Sie eines auswendig? Unsere Gäste antworten:

Simone Berger: Mir war das Aufsagen von Gedichten vor der ganzen Klasse immer peinlich und es endete oft in einem Lachanfall. Der „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ mit den Birnen war für mich aber ein Gedicht, an das ich mich mit allen Sinnen erinnere. Das ist ein Geruch, ein Windhauch, eine Farbe.

Willi Boneberger: In der Schule haben wir den Erlkönig gelernt. Auswendig kann ich ihn aber nicht mehr. Gut fand ich, wenn mal was Modernes wie „Blowin‘ in the Wind“ und Politisch-Kritisches im Musikbuch drin war.

Daniel Geiger: Was aus der Schulzeit noch bleibt, sind einzelne Verse, oder eine Stimmung. Ich bin aber seitdem immer wieder auf sehr starke Texte gestoßen. Wie zum Beispiel von Rilke: „Und keiner sieht die klaffende Grimasse, zu der das Lächeln einer zarten Rasse, in namenlosen Nächten sich entstellt“. Rilke hat da das Säbelrasseln vor dem Ersten Weltkrieg beschrieben, das hat eine ganz böse Aktualität.

Prof. Dr. Nicolai Scherle: Auswendiglernen ist der falsche Weg. Damit sich Freude an dieser Literaturform entwickeln kann, ist es viel wichtiger, über Gedichte zu reden.

Dr. Elisabeth Sorger: Ich kann noch viele ungarische Gedichte auswendig, habe sie immer gerne gelernt, nicht nur in der Schule. Sie geben mir etwas. Schade, dass das heute nicht mehr so gefördert wird. Bei deutschen Dichtern mag ich Goethe gern.

Dr. Holger Pils: Durch meine Arbeit lerne ich jeden Tag neue Gedichte kennen. Viele sind großartig, aber ich auswendig lerne ich sie nicht. Ein paar Schulklassiker kann ich aber noch hersagen, wie „John Maynard“ oder „Die Bürgschaft“.

 

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Simone Berger, Starnberger Kulturtafel (Caritasverband Starnberg e.V.)

Willi Boneberger, Obermeister Bäcker-Innung Starnberg

Daniel Geiger, Künstler, Kursleiter für kunst- und kulturpädagogische Projekte an Schulen

Prof. Nicolai Scherle, FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Intercultural Management & Diversity

Dr. Elisabeth Sorger, Münchener Künstlergenossenschaft königl. priv. 1868

Dr. Holger Pils, Geschäftsführender Vorstand Stiftung Lyrik Kabinett

 

Respekt zeigen

Respekt meint nichts anderes als guten Willen: Aushalten, dass es andere Bewertungen und Erfahrungen neben den eigenen gibt. Die unmittelbare Folge daraus ist, Mitgefühl empfinden zu können. Jedes familiäre, jedes soziale und politische Problem lässt sich durch das Maß an Mitgefühl definieren, das wir füreinander aufbringen oder eben nicht. Welchen Menschen und Einrichtungen, welchen Leistungen, Fähigkeiten und Tätigkeiten begegnen wir mit Respekt?


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