„Alle Generationen mitnehmen“
Gelingt Alt und Jung der Zusammenhalt im Zeitenlauf?
Den demographischen Wandel spüren zuerst die alten Menschen: Ihre Zahl wächst genauso wie die Zahl derer, die sich von ihrer Rente ihre Wohnung nicht mehr leisten können, für die es nicht genügend Pflegekräfte gibt, die nach einem langen Berufsleben oder Kindererziehung in die Altersarmut rutschen. Das Altern sei gerade für die Pflege ein hochinteressantes Thema, wie Marcus Huppertz betont. „Das betrifft sowohl die Patienten als auch die Mitarbeiter. Wir können uns im Pflegemanagement die Arroganz nicht mehr leisten, auf die älteren Menschen als Arbeitnehmer zu verzichten“, so der der Pflegedirektor im Klinikum der LMU. „Von unseren älteren Mitarbeitern wird ein unfassbarer Sprung erwartet, wenn man sich anschaut, was an Dokumentation im heutigen Pflegedienst gefordert wird. Sie kommen zum Teil aus einer ganz anderen Zeit, in der nur in Papierform dokumentiert wurde. Da wird von den Älteren eine Compliance und Flexibilität erwartet, die enorm ist.“ Jedoch könne man gerade von den jüngeren Mitarbeitern in der Pflege eine ganz Menge lernen, „unter anderem nämlich wie sie auf ihre Work-Life-Balance achten. Unsere Aufgabe insgesamt ist es, alle Generationen mitzunehmen.“
"Höchste Zeit für ein Umdenken"
In der Arbeitswelt wird generell oft darüber diskutiert, ab wann man zu alt zum Arbeiten sei. „Neulich habe ich gehört, dass jemanden, der 55 Jahre als ist und dem die Arbeitslosigkeit drohte, gesagt wurde, er sei zu alt, um noch zu arbeiten“, erzählt Münchens zweiter Bürgermeister Josef Schmid. „Das verstehe ich bei unserem Arbeitsmarkt einfach nicht, denn wir haben in München Vollbeschäftigung. Hier ist es höchste Zeit für ein Umdenken.“ Nach Ansicht des Leiters des Referats für Arbeit und Wirtschaft der Landeshauptstadt braucht man mehr Miteinander von Alt und Jung. „Vielleicht würde der heutigen Zeit etwas mehr Bescheidenheit anstehen – und vor allem etwas mehr Zuversicht. Jede Generation hat ihre eigenen Probleme und ich bin sicher, dass wir sie auch lösen werden, wenn tatsächlich alle miteinander an einem Strang ziehen.“
"Die Zeit vergeht schöner"
Kein Problem mit dem Alter hat die Autorin Gisela Forster. „Die Zeit vergeht nicht schneller, wenn man älter wird. Sie ist nur unglaublich viel schöner. Das Alter ist schöner als alles zuvor. Man hat im Grunde einen gewissen Wohlstand“, meint die Altersphilosophin. Das will Josef Schmid so nicht stehen lassen, denn seiner Ansicht nach komme das Ganze auf die Lebensumstände der einzelnen Person an. „Als ich 2008 für den Oberbürgermeister kandidiert habe, hatten wir 8.000 Senioren in München, die SGB12-Bezug bekommen haben, also aufzahlende Sozialhilfe, weil die Rente nicht gereicht hat. Heute sind es 16.000.“ Auch die Tafeln, nicht nur in München sondern in ganz Deutschland, würden Hochkonjunktur verzeichnen. „Ich freue mich sehr über das Gros der Senioren, die viel gearbeitet und deshalb eine gute Rente haben. Aber es gibt auch viele, die durch das Raster fallen.“ Dies führe dazu, dass die Menschen zu Bittstellern werden, meint der CSU-Landtagskandidat. „Das ist oft auch ein psychologisches Problem. Da bricht die Würde weg.“
„Früher ums Alter kümmern“
Das sieht Klaus Gerosa, Vorstand der Herrligkofferstiftung, ähnlich. Als langjähriges Mitglied im Bundesvorstand des größten Trennungs- und Scheidungsvereins habe er erlebt, wie reihenweise Biographien zerbrochen seien, teilweise auch unverschuldet. Es gebe zu große Unterschiede, an denen die Gesellschaft zerbrechen könne, meint er. Junge Menschen müssten sich nicht nur um ihre Aus- und Weiterbildung kümmern, sondern irgendwann auch um die Kindererziehung sowie die Pflege ihrer Eltern. „Und fürs Alter sollen sie auch noch vorsorgen. Das ist für junge Leute doch eine Katastrophe. Da frage ich mich ernsthaft, welche Rechenbeispiele wir in der Politik und bei den Sozialträgern haben“, erklärt Klaus Gerosa. Dagegen ist Gisela Forster der Ansicht, dass die Lebensplanung der Menschen das Grundproblem sei. „Die Leute müssen viel früher anfangen, sich ums Alter zu kümmern, aber das machen sie nicht. Und später merken sie, wie viel sie versäumt haben.“
"Zeit wird wieder langsamer"
Es gebe Untersuchungen, führt Bettina Schubarth vom Sozialverband VdK aus, die belegen, dass die Zeit zwischen 0 und 20 Jahren für Menschen langsamer vergehe als von 20 bis 60. Danach werde es wieder langsamer. Dies liege unter anderem daran, dass man unterschiedliche Eindrücke in den verschiedenen Lebensabschnitten sammle. „Das subjektive Zeitempfinden ist ein anderes. Plötzlich stehen die Leute dann vor ihrem eigenen Alter und überlegen erst jetzt, was auf sie zukommt“, so die VdK-Sprecherin. „Aber es wird in diesen Untersuchungen auch immer wieder festgestellt, dass die Lebenszufriedenheit im Alter gar nicht so schlecht ist.“ Für sie stellt eher die Vereinsamung älterer Menschen, gerade in einer Stadtgesellschaft wie München, das Problem dar. „Wer einsam ist, für den wird die Zeit lang“, sagt Bettina Schubarth.
"Man hat keinen Bezug zueinander"
„Das ist ein spannender Punkt, denn die Frage ist doch, was es grundsätzlich braucht, um Partizipieren zu können, sowohl wenn man jung, aber natürlich auch wenn man alt ist“, findet Tina Scheigenpflug, die Bereichsleiterin von „BALU43“, die in der Kinder- und Jugendhilfe tätig ist. „Ich habe das Gefühl, dass man gerade in Städten keinen Bezug mehr zueinander hat. Oft kennen sich ja nicht mal mehr die Nachbarn. Es ist doch etwas Schönes, im Alter seine Zeit auch nutzen zu können. Und da kommt für mich das Gemeinsame ins Spiel.“ Für die 33-Jährige rast die Zeit aktuell nach eigenen Angaben. „Das war mit 20 noch anders. Es ist wichtig, dass man das Ganze selbst steuern kann, auch wenn es von vielen Faktoren abhängt – sei es der Arbeit, der Familie oder anderen Verpflichtungen, denen man nachkommen muss.“ Und auch privat setze sie sich oft mit dem Thema Älter werden auseinander. „Ich bin glückliche Enkelin zweier Großeltern mit 89 Jahren. Sie pflegen sehr stark den Zusammenhalt der Familie und sind wahnsinnig offen und mit der Zeit gegangen. Für mich ist es wertvoll, wenn meine Großeltern mir Geschichten von früher erzählen. Sie lassen uns Enkeln und Urenkeln aber auch viel eigenen Raum.“
Mehr Solidarität
Um die Verbindung der Generationen besser zu vernetzen, plädiert Klaus Gerosa für mehr Solidarität. „Mir tut es leid, dass wir keine Verpflichtung mehr für die jungen Leute haben, in einem gewissen Zeitraum für die Gesellschaft da sein zu müssen. Das wäre ein hoher integrativer Faktor, den man, je nach Neigung, differenzieren könnte – vom Umwelt- bis zum Sozialdienst. Damit lernen die Jungen wieder soziale Kompetenz und solidarisch zu sein.“ Die Solidarität und Mitmenschlichkeit sei in den letzen Jahren zugunsten eines Hedonismus und Egotrips aufgefasert worden. „Wir haben keine moralischen Richtwerte mehr“, so Klaus Gerosa weiter. Deshalb falle die Gesellschaft auseinander. „Durch eine Verpflichtung bekommen die Jungen ganz andere Impulse vermittelt, so dass die gesellschaftliche Klammer wieder zusammengefügt wird. Das wäre für den Staat sehr zielführend, weil auch der Generationenzusammenhalt gefördert werden würde.“
"Das kann ich nur unterstützen"
Dieser Idee kann Bettina Schubarth gar nichts abgewinnen. „Ich bin vollkommen gegen etwas Verpflichtendes. Man kann die Probleme nicht damit lösen, Menschen zu etwas zu verpflichten“, meint sie. Gisela Forster hingegen gefällt der Gedanke. „Man könnte den jungen Leuten dann zum Beispiel auch eine Art Studienbonus geben“, schlägt die Autorin vor. In Deutschland lebe man in einem Sozialstaat, der den Menschen sehr viel biete, betont Marcus Huppertz. „Ich würde es vielleicht nicht unbedingt Verpflichtung nennen, aber diesen Solidaritätsgedanken an sich finde ich faszinierend. Das kann ich nur unterstützen.“ Man habe früher erheblich mehr Zulauf aufgrund des Zivildienstes gehabt. „Das Ganze sollte mit dem Bundesfreiwilligendienst kompensiert werden, der jedoch ist ein totes Pferd“, erklärt der Pflegedirektor im Klinikum der LMU. „Aber durch einen solchen Solidaritätsgedanken könnten wir sicher eine deutliche Entlastung herstellen. Wir werden in den nächsten Jahren erheblich viel Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen brauchen.“
Diesen Gedanken greift auch Josef Schmid auf. „Wenn wir einen Pflegenotstand haben, dann müssen wir vielleicht auch Notmaßnahmen ergreifen“, so der Bürgermeister der Landeshauptstadt. „Und das könnte eine Verpflichtung sein. Es ist ja jedem von uns gerade in der Jugend so gegangen, dass man Sachen tun musste, die man nicht machen wollte. Aber trotzdem hat es uns im Nachhinein etwas gebracht und man hat in der Regel auch etwas gelernt. Deshalb denke ich mir, dass man sich politisch dahingehend schon etwas einfallen lassen könnte. Junge Menschen würden so auch etwas für ihr Leben mitnehmen.“
Unsere Sommer-Frage
Welchen Rat würden Sie gerne Ihren Enkeln mitgeben? Unsere Gäste antworten:
Dr. Gisela Forster: "Ich sage meinen Enkeln: Liebe Deine Großeltern, denn sie sind kostbar, und stecke sie nie in ein Heim. Und lerne das Rechnen. Man muss wissen, wann Plus und Minus auf dem Konto ist. Und sie sollen das Geld für ihr Alter frühzeitig planen, um es finanziell auch gestalten zu können."
Klaus Gerosa: "Die Welt ist eine wunderbare Möglichkeit sich von Jugend auf einzubringen und zu engagieren. Ich würde meinen Enkeln empfehlen, sich immer wieder mit den ethischen Grundlagen, die für unsere Kultur absolut wichtig sind, auseinanderzusetzen – auch kritisch."
Marcus Huppertz: "Ich würde als Wert das solidarische Denken und das Erleben von Rechtsstaat und sozialer Gemeinschaft mitgeben. Dabei geht es auch darum, gut zu seinen Mitmenschen zu sein."
Bettina Schubarth: "Mein Rat lautet: Verschiebe nichts auf morgen. Man darf sich gewisse Dinge nicht einflüstern lassen, sollte immer seine eigene Meinung haben. Zudem sollte man der Gesellschaft dankbar sein und sich beispielsweise auch ehrenamtlich einbringen."
Josef Schmid: "Ich würde jungen Menschen raten, die Chancen, die unser Bildungssystem bietet, mitzunehmen. Sie sollen sich nicht von Moden, Zeitströmungen oder allein wirtschaftlichen Aspekten leiten lassen und die Zeit sinnvoll nutzen. Und sie sollen offen und flexibel bleiben, weil sich die Zeiten tatsächlich immer schneller zu verändern scheint."
Tina Scheigenpflug: "Ich würde meinen Enkeln mitgeben, dass sie die Zeit mit ihren Großeltern und mit ihrer Familie nutzen sollten, auch wenn es nicht immer reibungslos ist. Es ist auch wichtig, sich ein Netzwerk aufzubauen, damit man am Ende nicht alleine dasteht. Meine Lebenseinstellung ist, das Große im Kleinen zu sehen – das würde ich meinen Enkeln mitgeben wollen."
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Dr. Gisela Forster (Autorin und Altersphilosophin)
Klaus Gerosa (Vorstand Herrligkofferstiftung, Deutsches Institut für Auslandsforschung)
Marcus Huppertz (neuer Pflegedirektor im Klinikum der LMU)
Bettina Schubarth (VdK Bayern)
Josef Schmid (Zweiter Bürgermeister Landeshauptstadt München)
Tina Scheigenpflug (Bereichsleitung BALU gGmbH)
Unsere Zeit und wir
Ehrenamtliche schenken Zeit, Kinder brauchen Zeit und Erwachsenen fehlt sie häufig: Unser redaktionelles Schwerpunktthema 2018 mit vielen Beiträgen dazu ist „Zeit“. Auch alle unsere Sommergespräche beschäftigen sich mit einem Aspekt der Zeit: Damit hat sich bereits Goethe beschäftigt. Seine Erkenntnis: „Man kann die Erfahrung nicht früh genug machen, wie entbehrlich man in der Welt ist."
Alle unsere Gespräche
Lesen Sie hier alle unsere Sommergespräche:
Wann machen Veränderungen Angst?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2599)
Wie wählen wir Worte?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2586)
„Eine Entschuldigung ist keine leere Floskel“
Wie gelingt Versöhnung?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2587)
"Wir bedeutet füreinander da zu sein"
Wer ist "Wir"?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2588)
Nehmen wir uns Zeit zum Zuhören?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2589)
"Zur Kreativität gehört Leerlauf"
Lassen wir Kindern genug Zeit zum Kindsein?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2593)
"Man gibt etwas und bekommt viel zurück"
Warum übernehmen Menschen Ehrenämter?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2591)
Wie treffen wir Entscheidungen?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2592)
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