"Wir müssen uns dem Thema stellen"
Schlaganfall und Demenz sind eine wachsende Herausforderung für alle
Schlaganfälle und Demenz zählen weltweit zu häufigsten Erkrankungen und zu den drängendsten gesundheitlichen Herausforderungen in alternden Gesellschaften. Jeder wird in irgendeiner Form betroffen sein – entweder selbst oder als Angehöriger.
"Ich will, dass der Arzt mit mir spricht"
„Demenz ist nicht nur eine Krankheit der Alten“, betont Helga Rohra, die selbst Demenz hat. „Die Zahl der Jüngeren nimmt zu. Nach Angaben der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft leben allein in Deutschland 64.000 Menschen mit Demenz, die nicht älter als 50 Jahre sind.“ Die 61-Jährgie beschreibt sich selbst als „Demenzaktivistin“. Die Diagnose sei für sie selbst der Anfang eines neuen Lebens gewesen. Das war 2007. Seitdem tritt sie aus dem Schatten, spricht für die Frühbetroffenen und geht als positives Beispiel voran. „Ich möchte zeigen, dass man sein Leben selbst in den Hand nehmen kann, obwohl man die Diagnose Demenz bekommen hat.“ Das sei auch beim Arztbesuch wichtig. „Gerade wir jüngeren Demenzpatienten müssen mehr fordern. Ich will, dass der Arzt mit mir spricht – und nicht mit meinem Angehörigen über mich.“ Wichtig sei, die Menschen für das Thema zu sensibilisieren.
Rohra, die schon ein Buch über Demenz geschrieben hat, engagiert sich weltweit. „Wir haben 2012 eine europaweite Arbeitsgruppe gegründet, die sogenannte European Working Group, deren Leitern ich bin. Da kommen Menschen aus 22 Ländern zusammen. Wir arbeiten eng mit den Pharmakonzernen und mit den Politikern zusammen“, erzählt sie. „Seit neuestem bin ich zusammen mit einer Dame aus Australien Advisery Member der WHO.“ Für ihre Arbeit ist sie mit dem Deutschen sowie dem Internationalen Engagementpreis ausgezeichnet worden.
Bei Leistungsstörungen früh handeln
Doch wie merkt man, ob man von Demenz betroffen ist? Und was tut man dann? Entscheidend ist eine frühzeitige Diagnose. Das bestätigt Dr. Katharina Bürger. Sie ist Oberärztin am Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung (ISD) am Klinikum der Universität München. „Es ist ganz wichtig zu wissen, dass es Vor- und Frühstadien sowie leichtgradige Stadien der Erkrankung gibt, in denen man sehr gut selbstbestimmt leben kann. Um das zu erkennen, ist die Information extrem wichtig.“
Bürger weißt zudem darauf hin, dass es nicht nur eine, sondern verschiedene Art der Demenzerkrankung gibt. Am häufigsten trete Alzheimer auf. Handeln sollten die Menschen dann, wenn ihnen eine sogenannte Leistungsstörung auffällt. „Das können Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen oder Unsicherheiten in der räumlichen Orientierungsfähigkeit sein“, sagt die Ärztin, die auch Vorsitzende der Alzheimer-Gesellschaft ist. „Eine akut einsetzende Demenz gibt es in der Regel nicht, das sind meist schleichende Prozesse. Lieber einmal mehr hinschauen lassen als einmal zu wenig.“ Bei Auffälligkeiten rät Bürger dazu, in eine Memory Klink, sprich in eine Gedächtnisambulanz, zu gehen. Die Leistungen der Gedächtnisambulanz werden von der Krankenkasse übernommen.
"Thema wird kollektiv verdrängt"
Insgesamt werde das Thema Demenz in der Gesellschaft nach Ansicht der Oberärztin noch kollektiv verdrängt. „Ich glaube, das liegt vor allem daran, dass beim Wort Demenz jeder denkt, da ist man pflegebedürftig, da ist man abgeschrieben. Die Gesellschaft setzt oft nicht die richtigen Zeichen.“ Beim Schlaganfall sei die Öffentlichkeit weitaus besser sensibilisiert. Das sieht auch Dr. Christian Lechner so. „Die deutsche Gesellschaft ist mittlerweile bei einem Schlaganfall gut vorbereitet. Das war vor zehn Jahren noch ganz anders“, erklärt der Neurologe. „80 bis 90 Prozent der Patienten werden heute schon in Schlaganfalleinheiten versorgt.“
Diese Schlaganfalleinheiten heißen Stroke Units. „Es sind Spezialeinheit zur Schlaganfalldiagnostik und zur Frühtherapie“, betont Lechner. München und das Umland haben nach Einschätzung des Arztes in diesem Bereich schon sehr intensiv reagiert. „Das ist in anderen Regionen noch lange nicht so. Die Rettungsdienste dürfen zum Beispiel bei Verdacht auf Schlaganfall nur noch Stroke Units anfahren.“ Denn auch beim Schlaganfall sei eine rechtzeitige Erkennung und Therapie entscheidend.
"Das muss durch alle Kreise gehen"
„Stroke Units sind darauf ausgerichtet, die Patienten möglichst schnell zu diagnostizieren. Es gibt rund um die Uhr einen spezialisierten Arzt, entweder vor Ort oder sie sind per Telemedizin an spezialisierte Zentren angebunden, so dass man innerhalb von 20 Minuten entscheiden kann, welche Therapie notwendig ist“, sagt Lechner. „Das ist deswegen wichtig, weil in der ersten Stunden viele Nervenzellen kaputt gehen. Je früher eine Therapie beginnt, desto höher ist die Erholungs- beziehungsweise die Heilungsrate.“ Wichtig sei auch beim Thema Schlaganfall die regelmäßige Information der Menschen, „und natürlich die Prävention“, betont der Chefarzt. „Die Kliniken selbst sind sehr gut organisiert und arbeiten alle auf sehr hohem Niveau. Wenn die Patienten allerdings nicht rechtzeitig kommen und Zeit verlieren, wird es schwieriger.“
Claus Fussek, einer der bekanntesten Pflegeexperten Deutschlands, ist der Meinung, dass beide Themen noch kollektiv verdrängt werden. „Die meisten Menschen reagieren dann, wenn sie in der Familie irgendjemanden haben, der an Demenz erkrankt ist oder einen Schlaganfall hatte“, sagt Fussek. „Aufgabe ist es, das Ganze bei jeder Gelegenheit zu thematisieren und die Leute dafür zu sensibilisieren. Das muss durch alle Kreise gehen. Wir müssen uns alle diesem Thema stellen. Es muss uns gelingen, dieses Thema zur Schicksalsfrage der Nation zu machen.“ Es sei faszinierend, dass über Themen wie die Maut ganze Wahlkämpfe geführt würden. „Beim Thema Pflege besteht dagegen bei allen Parteien ein kollektives Desinteresse. Das ist absurd, denn bei dem Thema kann es ja keine Gegner geben.“
"Demenz ist ein Milliardengeschäft"
Der Mitbegründer des Forums zur Verbesserung der Situation Pflegebedürftiger e.V. betont zudem, dass er es irritierend finde, „wie es gelingt, die Themen immer wieder vor sich herzuschieben.“ Es gebe eine Studie, eine Untersuchung nach der anderen, „doch das brauchen wir nicht. Das Krankheitsbild ist klar. Was wir brauchen, sind geriatrische Ärzte und Fachleute.“ Und die Familien müssen nach Ansicht Fusseks entlastet werden. „Wir wissen alle, dass 70 bis 80 Prozent der Betroffenen zu Hause versorgt werden. Wie es da zum Teil abgeht, wollen wir überhaupt nicht wissen. Das Thema Überforderung und Gewalt in der häuslichen Pflege ist ein absolutes Tabu.“ Wenn darüber überhaupt geredet werde, gehe es um Alten- und Pflegeheime. Grundsätzlich müsse man festhalten, betont Fussek weiter, dass es beim Thema Pflege immer um sehr viel Geld gehe. „Pflege ist teuer. Demenz ist ein Milliardengeschäft.“
"Beruf ist nervenaufreibend"
Zudem werden hängeringend gut ausgebildete Pflegekräfte gesucht. Allerdings hat der Job nicht den besten Ruf: Pflegekräfte gelten als unterbezahlt, die Arbeit ist körperlich und seelisch anstrengend. „Dieser Beruf ist wahnsinnig nervenaufreibend“, sagt Gloria Meyer. Sie ist ausgebildete Kunsttherapeutin und hat über 15 Jahre in der Pflege gearbeitet. „Ich war in der sozialen Begleitung und habe die gesamte Problematik mitbekommen.“ Ihrer Ansicht nach müsse endlich mehr getan werden müsse. „Ich habe vor drei Monaten aufgehört, weil ich am Ende meiner Kräfte war. Es herrscht hoher Zeitdruck. Man bräuchte aber viel mehr Zeit für die Demenzkranken.“ Zudem müsse mehr Verständnis sowie Anerkennung und Wertschätzung für das Pflegepersonal gezeigt werden. Claus Fussek schlägt vor, dass sich die Pflegekräfte gemeinsam solidarisieren. „Das ist eine Forderung, kein Appell. Würden sich Pflegekräfte und Angehörigen zusammen tun, dann wären sie mächtiger wie alle Lokomotivführer und Piloten in diesem Land zusammen.“
"Wir sind auf einem guten Weg"
Dass Pflegekräfte nicht die allerbeste Lobby haben, weiß auch Marlies Braun. „Aber es tut sich viel. Inhaltlich hat sich in der Ausbildung von Pflegekräften viel bewegt. Wir müssen schauen, wie wir das weiterbringen“, erklärt die Lehrerin für Pflegeberufe an der Berufsfachschule für Krankenpflege Maria Regina. „Wir haben sehr viele engagierte junge Leute und die brauchen wir ganz dringend. Ich glaube, dass wir grundsätzlich auf einem guten Weg sind.“ Die Berufsfachschule habe zudem die Möglichkeit, zusammen mit der Fachhochschule den Dualen Studiengang zu begleiten. „Unsere Schüler machen also während ihres Studiums auch eine integrierte Ausbildung mit Schwerpunkt Gerontologie, Geriatrie und Gerontopsychiatrie“, erklärt Braun. „Sie werden in Kliniken und Altenheimen eingesetzt. Davon profitieren die Schüler und Studierenden sehr, weil sie verschiedene Arbeitsfeldern kennenlernen.“
"Wir haben nichts, wofür man sich schämen müsste"
Einen ganz besonderen Weg mit ihrer Krankheit umzugehe,n verfolgen Marion Bergmann und Angelika Lindenmüller. Beide sind Mitglieder der bayerischen Kabarettgruppe „Westkreuzblosn“ und beide hatten vor wenigen Jahren einen Schlaganfall. „Wir meistern das Ganze lachend. Und wenn wir weinen, dann lassen wir niemanden zuschauen“, erzählt Angelika Lindenmüller, Theaterleiterin der „Westkreuzblosn“. „Grundsätzlich machen wir aus unserer Krankheit keinen Hehl.“ Und Marion Bergmann ergänzt: „Wir haben nichts, wofür man sich schämen müsste. Es ist, wie es ist. Auch wir möchten zeigen, dass das Leben trotzdem positiv weitergeht.“
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Marion Bergmann ("Westkreuzblosn", Vorstand)
Marlies Braun (Lehrerin für Pflegeberufe an der Berufsfachschule für Krankenpflege Maria Regina)
Dr. Katharina Buerger (Oberärztin Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung, ISD, Klinikum der Universität München)
Claus Fussek (Dipl. Sozialpädag. FH, pflegender Angehöriger, Vereinigung Integrationsförderung e.V. VIF)
Dr. Christian Lechner (Chefarzt Neurologie und Klinische Neurophysiologie Helios-Klinikum München West)
Angelika Lindenmüller ("Westkreuzblosn", Theaterleiterin)
Gloria Meyer (ehemalige Altenpflegerin)
Helga Rohra (Autorin, Betroffene, „Demenzaktivistin“)
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