"Wir brauchen uns, um zu leben"
Verliert der Nachbarschaft an Bedeutung?
Kein Mensch ist so reich, dass er nicht seinen Nachbarn brauchte? Heutzutage leben wir in einer schnellen Realität, in der man sehr oft den Satz hören kann: „Ich habe leider keine Zeit.” Keine Zeit auf das Aufräumen, auf die Kinderspiele, auf die Entspannung, auf die Nachbarn … Ausreden oder traurige Wirklichkeit?
Egal, wie die einzelne Antworten lauten, die Tatsache steht fest: Wir beschäftigen uns heutzutage sehr wenig mit der Pflege der Beziehungen in unserer Nachbarschaft, mit den Nachbarn verbringen wir viel weniger (oder gar keine) Zeit und im Vergleich zu den früheren Zeiten gibt es immer mehr Personen, deren Aussagen „Ich kenne meine Nachbarn gar nicht" dieses Thema einfach immer mehr ausschließen.
Früher waren gute und langfristige Beziehungen und die gemeinsame Unterstützung zwischen den Nachbarn sehr wichtig. Die Nachbarn trafen sich regelmäßig beim Grillen, bezeichnete sich als „eine große Familie” und wussten auch generell sehr viel übereinander. Oft sind die Freunden aus der Nachbarschaft sogar zusammen in den Urlaub gefahren. Und wenn es um die Haushalt ging, waren die Nachbarn immer als die erste Hilfe eingesetzt! Kein Wunder: Mehl, Schere oder Sitzbank konnte sich man immer bei „der nächsten Türe” holen. Nicht um sonst sagt man oft: „Kein Mensch ist so reich, dass er nicht seinen Nachbarn brauchte.”
Ähnlich hat das hunderte Jahren funktioniert. Wieso ist es in unserer Zeit nicht mehr so und was könnte denn diesen Zustand ändern?
Sind unser Lebensstil, Massenmedien oder Onlinekommunikation der jungen Gesellschaft dafür verantwortlich oder hängt es einfach mit der Bewegungsunruhe der jungen Menschen, dem Arbeiten und den Anforderungen der Arbeitgebern zusammen? Und inwiefern kann die die Kultur und die Traditionen der Gesellschaft beeinflussen?
"Das war damals ja ganz anders"
Die alte Generation: Drahuša Popovič, Rentnerin, 68 J.
Ach … das war damals ja ganz anders. Wir haben mit den Nachbarn eigentlich zusammen als eine große Familie gelebt - klar, es gab Konflikte und Probleme. Aber auch Lösungen - so wie in jeder Familie. Ich kann mich noch sehr gut an unsere gemeinsame Nachmittage erinnern. Die Frauen haben gequatscht, die Männern haben Karten gespielt oder getrunken und die Kindern sind immer hin- und hergerannt. Die ganze Gegend hat dann nach Grillen gerochen, wir hatten Spaß und die lange Sommernächte sind dadurch zu unvergesslichen geworden.
Das waren Zeiten! Dann sind unsere Kindern erwachsen geworden und ausgezogen und jetzt bin ich und mein Man in Rente und wir mussten unser Haus verkaufen und in die kleinere Wohnung einziehen, die für uns bezahlbar war. Jetzt machen wir mit den Nachbarn gar nichts - wieso auch? In so einer Wohnung kann man nicht grillen und in der Umgebung leben nur junge Familien, die eigene Sorgen haben. Wen würden schon zwei alte Menschen und ihre Lust aufs Grillen interessieren? Ich glaube, dass die junge Generation viel mehr Sorgen als wir damals hat. Heute ist allesein bisschen schneller. Es ist kein Wunder, dass wir auf das Grillen verzichten. Niemand darf heutzutage Zeit verlieren - und das ist schade. Damals waren die Menschen offener, vertrauensvoller und ruhiger.
Und wie wird es sich weiter entwickeln? Früher oder später wird man sich an so schöne Sommerabende gar nicht mehr erinnern. Wir finden andere Beschäftigungen - eher in kleineren Gruppen, unter einer Familie oder nur zu zweit. Vielleicht werden wir geschlossener oder introvertiert, aber die menschliche Empathie wird nie verloren gehen. Von daher habe ich keine Angst, dass die Menschen aufeinander verzichten. Wir brauchen uns, um zu leben. Von daher nicht: „Kein Mensch ist so reich, dass er nicht seinen Nachbarn brauchte”, sondern „Kein Mensch ist so reich, dass er nicht seinen Nächsten brauchte.”
"Die Anforderungen haben sich geändert"
Die mittlere Generation: Guido Beckert, Architekt, 55 J.
Das direkte Umfeld mit den Menschen in unmittelbarer Nähe ist individuell mehr oder weniger entscheidend für das Wohlgefühl am Wohnort und jedenfalls für eine intakte Sozialstruktur unverzichtbar, so wie es in historischen Siedlungsgebieten schon immer war; damit wird erwiesenermaßen die Gesundheit gefördert und Kriminalität eingeschränkt. Die Beziehungen in der Nachbarschaft sind meiner Meinung nach deswegen sehr wichtig. Für die Bewegungsunruhe ist aber ein anderer Grund verantwortlich.
Die heutigen Anforderungen der Menschen, wenn es um das Wohnwesen, die Suche nach einer neuen Wohnung geht, haben sich mittlerweile geändert, was bestimmt auch ein von mehreren Gründen ist, wieso sich die Bewegungsunruhe der jungen Menschen in den letzten Jahren erhöht hat. Den jungen Leuten geht es um „mehr” als um gute Nachbarbeziehungen. Entweder suchen sie einfach nach einem bezahlbaren Wohnraum mit intelligenten Raumkonzepten, die wenig Platz verbrauchen und dadurch günstige Mietpreise auch in Ballungszentren ermöglichen, oder sie haben den Wunsch nach Großzügigkeit mit beispielsweise einen gemeinsamen Wohn-Koch-Ess-Gästebereich mit Transparenz nach Außen und andererseits einer Ruhezone mit Schlaf-Bad-Ankleide-Welness-Funktion.
"Wir ziehen einfach oft um"
Die junge Generation: Agnes Bader, Studentin, 18 J.
Heute haben sich die Beziehungen zwischen den Nachbarn, die sich schon seit hunderten Jahren geähnelt haben, meiner Meinung nach geändert. Klar, die alte Generation wird bestimmt eine ganz andere Meinung zu dem Thema im Vergleich zu den Jungen haben. Wahrscheinlich würden die älteren Menschen wieder sagen: „Früher war alles besser- jetzt ist es nicht mehr so … Das Leben hat sich durch Internet und Handys verändert, wir reden miteinander nicht mehr so sehr wie damals und deswegen wurden auch die Kontakte nicht mehr gepflegt.”
Ich glaube aber, dass es nicht an den Massenmedien oder Onlinekommunikation der jüngeren Generation liegt. Es hat viel mehr etwas mit dem neuen Lebensstill zu tun - mit der Bewegungsunruhe der jungen Menschen und den Anforderungen des Arbeitsalltags. Wir - die jüngeren Menschen - ziehen einfach oft um, meistens in die größere Städte, wegen Studium und Karriere. Für die Pflege der besonderen oder langfristigen Beziehungen bleibt leider keine Zeit. Früher, als ich noch Nachbarn in meiner Altersgruppe hatte, habe ich mit ihnen öfter gespielt und es war, schön Freunde gleich nebenan zu haben. Dann sind sie aber alle wegen des Studiums weggezogen und die Älteren sind noch dort - inzwischen bin ich selbst auch ausgezogen.
Es ist sehr schade, dass wir mit den Nachbarn nicht mehr so viel zu tun haben, aber ich denke nicht, dass es die Gesellschaft oder die Traditionen der Gesellschaft stark beeinflusst. Man kann ja die Traditionen auch pflegen, ohne dass man mit den Nachbarn ständig was unternimmt, obwohl das natürlich etwas Schönes ist.
Ich glaube, wenn ich älter wäre und meine eigenen Kindern hatte, würde ich gerne wollen, dass sie mit den Kindern von meinen Nachbarn spielen. Wenn sie bei den Nachbarn sind, dann sind sie nebenan und spielen und sie sind zwar nicht da, aber sie sind auch nicht weg. Auch so können sich die Nachbarn gegenseitig helfen und auch die Eltern lernen sich durch die Kinder vielleicht wieder gegenseitig kennen.
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