Und morgen sind es Sie und ich!
Winfried Bürzle: "Ich empfinde es als Geschenk"
Ich halte sanft ihre Hand, flüstere ihr liebevolle Worte zu. Seit Stunden hat sie die Augen geschlossen, den Mund halb geöffnet. Sie kämpft um jeden Atemzug. Dann werden die Züge schwächer. Plötzlich ist alles still. Totenstill. Meine Mama ist gegangen. Ich empfinde es bis heute als ein Geschenk und eine tiefe Gnade, dass ich meine Mutter bei ihrem letzten Weg aus diesem Leben begleiten durfte. Dass ich es noch rechtzeitig von meinem heutigen Wohnort zu meinem Elternhaus auf dem Land geschafft habe.
Dass meine Mutter zuhause sterben konnte, das verdanke ich meinen Geschwistern mit Frauen, Männern, Kindern und Kindeskindern, die sich um meine Mutter gekümmert haben. Sie besucht, mit ihr gekocht, gelacht, Geschichten erzählt und gehört haben, mit ihr spazieren gegangen sind, Karten gespielt haben und eben auch oft nachts zu ihr kamen, wenn sie Hilfe gebraucht hat.
Der Tod gehört zum Leben
Der Tod gehört zum Leben. Diese Erkenntnis war für die Menschen in früheren Jahrzehnten eine selbstverständliche. Zu Zeiten, als noch drei oder gar vier Generationen unter einem Dach gelebt haben. Zuhause sterben war der Normalfall. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Familienstrukturen bröckeln. Wenn man sich vor Augen hält, dass allein in der bayerischen Landeshauptstadt die Hälfte der Haushalte Single-Haushalte sind, dann ist das der beste Beleg dafür.
Jeder einzelne ist gefragt
Es geht nicht darum, die Uhr zurückzudrehen. Es geht darum, den Herausforderungen der heutigen Zeit ins Auge zu sehen und entsprechend zu handeln. Immer weniger Kinder, immer mehr Ältere, Alleinlebende. Ja, die Politik ist gefragt mit neuen Konzepten wie z.B. Mehrgenerationenhäusern, menschenwürdigen Heimen. Aber ich will uns nicht aus der Verantwortung entlassen. Es geht darum, dass sich jeder einzelne von uns fragt, was er tun kann. Sich fragt, ob es nicht doch eine andere Lösung gibt, als seine Angehörigen dem „Schicksal“ zu überlassen.
Wie ein Tier im Stall
Oft gibt es gute Gründe, warum eine Pflege zuhause nicht (mehr) möglich ist. Was aber nicht geht, dass die Menschen in Pflegeheime „abgeschoben“ werden wie alte Maschinen, die ausgemustert werden. Ich höre und lese von alten Menschen, die jahrelang keinen einzigen Besuch eines Angehörigen bekommen haben. Von Menschen, die mit Medikamenten „ruhig“ gestellt und im Bett „fixiert“ werden (zu deutsch: angebunden wie ein Tier im Stall!). Gut, manchmal aus Fürsorge, oft genug aber einfach aus Last, weil keine Zeit ist, weil zu wenige Pfleger da sind, weil sich keiner kümmern kann oder will.
Wir alle versagen
Die Pflegerinnen und Pfleger leisten oft Unmenschliches. Aber sie stoßen an Grenzen. Nicht, weil sie versagen, sondern weil das System versagt, weil wir alle versagen. Es geht um Geld, Ausbildung, Zeit, mehr Personal, Willen, Zuwendung. Es geht um unsere Mamas, Papas, Omas und Opas. Um Menschen, die uns jahrzehntelang geholfen haben. Um Menschen, die jetzt selbst Hilfe brauchen. Und morgen sind es Sie und ich!
Ingrid Appel: "Wollen wir unser Dasein so beenden?"
Meine Mutter durfte ich die letzten Jahre ihres Lebens begleiten. Ich habe keinen Tag, obwohl es emotional nicht einfach war, bereut. Zunächst erfolgte die Pflege, besser die Betreuung, in ihrer eigenen Wohnung, später habe ich sie zu mir genommen. Mit Hilfe eines Pflegedienstes konnte ich die reine Pflege bewältigen. Was aber für Sonderausgaben nötig war, dafür musste man sehr kämpfen und vieles wurde abgelehnt. So z.B. der Umbau der Badewanne in eine Dusche; das bekam ich nicht, weil ich der Mieter war und deshalb auch davon profitiert hätte. Schwierig ist es, wenn man niemand hat, der für einen spricht und kämpfen kann.
Einfach nicht mehr angesprochen
Aus dem Familien- und Freundeskreis habe ich viel erlebt, die Pflege kümmert sich nur um die nötigste Hygiene, Medikamente und Wundversorgung. Die Pflegekräfte haben keine Zeit, sich mal hinzusetzen und den Geschichten aus der Vergangenheit zu zuhören, die den Senioren so wichtig sind. Keine Zeit für ein persönliches Gespräch. Meine Tante, die in einem Heim untergebracht war, hörte schlecht, da hat man sie einfach nicht mehr angesprochen. Nicht mal zum 103. Geburtstag wurde ihr gratuliert, das Streicheln der Wange oder der Hände hätte ihr schon Freude gemacht.
Wie schmeckt eine Mango?
Die Pflegekräfte, und dies gilt auch für die meisten Heime, haben oft nicht mal Zeit, beim Essen zu helfen, dieses wird oft einfach hingestellt. Auch ist das Essen oft langweilig, man denkt nicht daran, dass im Alter auch der Geschmacksinn gelitten hat. Einmal bin ich von einer Seniorin gefragt worden: "Wie schmeckt eine Mango?" Sie hatte dies im Fernsehen bei einer Tierparksendung gesehen. Nicht mal Kirschen hatte sie im Heim bekommen!
Einem Nachbarn wurde vom Medizinischen Dienst die Pflegestufe aberkannt, weil die Pflege angeblich nur 27 Minuten betragen würde, dies bei der Diagnose Parkinson! Dies mag nicht für alle Pflegeeinrichtungen zutreffen, eventuell habe ich aber auch das ein oder andere nicht erwähnt. Fakt jedoch ist, es muss sich bei der Pflege etwas ändern.
Oft genügt schon wenig
Es ist ein Hohn und ein Skandal, wie wir unsere älteren und kranken Mitmenschen am Ende ihres Lebens behandeln. Es kann nicht sein, dass man sie einfach „liegen lässt“! Wollen wir unser Dasein so beenden?
Einsamkeit und Ausgrenzung sind schrecklich, dazu kommt meistens noch finanzielle Not.
Wenn wir in Würde unser Leben beenden wollen, müssen wir uns rechtzeitig um ein soziales Netz bemühen, wenn Familie und Freunde nicht mehr da sind. Oft genügt es schon, wenn ein Nachbar zum "Mensch ärgere dich nicht"-Spielen oder einfach zum Plaudern kommt.
Mischen Sie sich ein!
Als meine Mutter 97-jährig im Krankenhaus starb, informierte man mich nicht, dass es zu Ende gehen würde, obwohl ich bis abends spät an ihrem Bette saß. Noch heute nach Jahren tut es mir weh, dass ich nicht bei ihr sein konnte und ihre Hand halten durfte. Ich vermute, ich hätte den Krankenhausablauf gestört. Helfen Sie mit und mischen Sie sich ein bei der Diskussionen über die geplante Neufassung der Pflegeversicherung. Es geht uns alle an!
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