"Setzen wir Akzente, anstatt nur abzuwarten!"
Den Fachkräftemangel umschiffen: So wollen Politik und Wirtschaft die berufliche Bildung stärken
Wer als junge Frau oder Mann die Schule hinter sich lässt, findet sich an einer Weggabelung wieder, von der aus eine unüberschaubare Zahl von Pfaden in die eigene Zukunft führt: Wir haben in Deutschland mehr als 350 Ausbildungsberufe, dazu kommen 17.000 Studiengänge: Noch nie war das Angebot so groß – aber eben auch die Desorientierung der Jugendlichen, die in diesem Wirrwarr einen Beruf finden müssen, wie MdL Isabell Zacharias meint. So kommt es, dass 40 Prozent aller Schulabgänger keinen konkreten Ausbildungswunsch benennen können, wie Ralf Keckeis (ALDI SÜD) beobachtet hat.
"Dieses Überangebot ist ein Problem", meint Andreas Vaerst (Arbeitsagentur München) und erklärt: "Wenn ich im Supermarkt vor einem Regal mit 20 Sorten Marmelade stehe, gehe ich, ohne eine einzige zu kaufen." Wie finden Jugendliche die richtige "Marmelade"? Und wie kommen Betriebe an die immer rarer werdenden Fachkräfte? Darüber tauschten sich beim Round-Table-Gespräch der Münchner Wochenanzeiger im Landtag Vertreter aus Politik und Wirtschaft aus.
Zu wenig Fachkräfte rücken nach
Über einen erheblichen Nachwuchsmangel klagt Lothar Semper: Allein im Handwerk in München und Oberbayern blieben heuer 1.400 bis 1.500 Stellen unbesetzt. Von insgesamt 10.000 freien Ausbildungsplätzen in Bayern (Stand: September 2014) spricht Hubert Schöffmann (IHK). Auszubildende sind die Fachkräfte von morgen - und der Kampf um die jungen Talente hat längst begonnen.
Daher richtet sich der Blick verstärkt auf die, die es bisher schwer hatten, Ausbildungsplätze und Arbeitsstellen zu finden: Frauen sollen die entstehenden Lücken schließen, Behinderte, Migranten und "bildungsferne" oder "schwierige" Auszubildende.
"Kein Kind wird talentfrei geboren", sagt Hubert Schöffmann und Andreas Vaerst ergänzt: "Jeder hat eine Stärke - uns sollte es nicht darum gehen, Defizite zu beseitigen, sondern Stärken zu stärken!"
"Wir brauchen alle - sonst verlieren wir"
"Ich denke, wir verschenken immer noch zu viele Potentiale", hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Integrationsgipfel Anfang Dezember mit Blick auf die Zuwanderer gesagt.
Genau dasselbe denken Politiker und Wirtschaftsvertreter in Bezug auf die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen. "Wir brauchen alle, wir verlieren sonst viel Potential!" unterstreicht Isabell Zacharias. Sie weist gängige Vorstellungen zurück: "Wer die Flucht hierher schafft, stammt oft aus Familien mit hohem Bildungsrgrad." Falsch sei auch, dass alle Flüchtlinge "im System bleiben" - stattdessen kehren viele in ihre Heimat zurück.
"Flüchtlinge als Chance begreifen"
"Wir sehen in jungen Flüchtlingen eine enorme Zielgruppe, denn sie sind hochmotiviert und gebildet", ergänzt Lothar Semper. "Wir müssen Flüchtlinge als Chance begreifen", bekräftigt Hubert Schöffmann. Kehren Flüchtlinge - nach einer Ausbildung in Deutschland - in ihre Heimat zurück, seien sie "unsere besten Botschafter", betont Isabell Zacharias - eine "Win-win-Situation" auch für Lothar Semper.
Eher mit Skepsis sieht Bernd Ohlmann (Handelsverband) den Zugriff auf Flüchtlinge als künftige Fachkräfte: "In einer beratungsintensiven Branche ist es verdammt schwierig, weil Sie die Sprache beherrschen müssen, wenn Sie mit Kunden in Kontakt sind."
"3 plus 2" gäbe die nötige Sicherheit
Doch es gibt noch ganz andere Probleme: Lothar Semper beklagt die fehlende Rechtssicherheit für Betriebe, die Flüchtlinge beschäftigen. Ihre Investition in den Nachwuchs müsse sich lohnen. Seine Forderung lautet daher "3 plus 2", sprich: Jugendliche müssen nicht nur ihre Ausbildung (drei Jahre) zu Ende führen können, sondern im Anschluss mindestens zwei Jahre als Fachkraft arbeiten dürfen.
Auf das "3 plus 2"-Modell setzt auch Hubert Schöffmann: "Wir brauchen für beide Seiten Rechts- und Planungssicherheit! Es kann nicht sein, dass mitten in der Ausbildung eines Jugendlichen die Abschiebung droht."
Vom Lehrer zum Pizzabäcker?
Nachbesserungsbedarf sieht Isabell Zacharias daneben bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Die bewege sich momentan lediglich im Promillebereich, bedauert sie. So kommt es, dass z.B. türkische Lehrer oder polnische Krankenschwestern - Fachkräfte, die wir bräuchten - als Taxifahrer oder Reiningungspersonal arbeiten müssen und ihre Qualifikation schließlich verlieren. "Es kann nicht in unserem Interesse sein, dass diese Menschen unter ihrer Qualifikation arbeiten müssen", sagt Andreas Vaerst. Isabell Zacharias spricht sich für die teilweise Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen aus. Lothar Semper bremst da: "Wir befürchten, damit wird die ganzheitliche berufliche Qualifikation ausgehöhlt. Wir wollen nicht, dass die Berufsausbildung modularisiert wird!"
"Die berufliche Bildung kann nicht der Versorger für alle Mühseligen und Beladenen sein", fügt Hubert Schöffmann an. Zustimmung bei Lothar Semper: Das Handwerk könne die Probleme nicht alleine lösen. "Wir brauchen für Flüchtlinge ein Konzept zur Rundumbetreuung und Menschen, die sie an der Hand nehmen." Das gelte insbesondere für minderjährige Flüchtlinge: "Wir können sie nicht alleine lassen!"
"Man sollte junge Flüchtlinge gleich in die Betriebe lassen, anstatt sie in irgendwelche Einrichtungen abzuschieben", rät Semper als besten Weg der Integration.
Der Königsweg: "Früh ran!"
Im Grunde gilt dieser Rat für alle jungen Leute: Ralf Keckeis (ALDI SÜD) legt allen ans Herz, die Nähe von Schulen und Betrieben zu stärken. Schüler sollten frühzeitig Praktika machen und Betriebe besichtigen - Betriebe sollten frühzeitig in die Schulen gehen. "Früh ran!" fasst Keckeis seine Überzeugung zusammen und bietet an, die Bildungspartnerschaften mit Schulen zu forcieren. Die Unmenge an Berufsmöglichkeiten gaukle eine Sicherheit vor, die es so nicht gebe. Schüler müssten so früh wie möglich praktische Erfahrungen sammeln, um sich später bei der Berufswahl leichter zu tun. "Sich um die Jungen zu kümmern, muss unser aller Herzensangelegenheit sein", fordert Keckeis die Runde auf.
Pubertät muss sein dürfen
Diesen Weg hält auch Robert Schurer (AOK) für entscheidend: "Die Hinführung in die Arbeitswelt der Erwachsenen fehlt", bemängelt er, "viele lebenspraktische Fähigkeiten werden nicht vermittelt." Bernd Ohlmann weist auf die Klagen vieler Händler über mangelnde Verlässlichkeit und Pünktlichkeit bei ihren Auszubildenden hin. Viele junge Leute seien nicht teamfähig. Isabell Zacharias mildert diese Einschätzung ab. "Das hören wir seit Jahrzehnten über die Jugend. Ich denke, wir sollten das zu den Akten legen - das gehört zur Pubertät und das gab es schon immer."
"Roter Teppich" statt lamentieren
Auch Thorsten Beier (ALDI SÜD) hält es für wichtig, die soziale Kompetenz von Jugendlichen zu stärken. Entscheidend sei aber, dass die Jugendlichen an den Schulen eher ihren Weg finden. Wie das geht, zeigt ALDI SÜD seit Jahren erfolgreich: "Wir suchen für uns die Besten aus dem Bewerbermarkt", sagt er - und den "roten Teppich" für künftige Fachkräfte rollt ALDI SÜD bereits an den Schulen aus; Studienabbrecher erhalten eine zweite Chance im Einzelhandel, indem ALDI SÜD seit zwei Jahren das Abiturientenprogramm zum geprüften Handelsfachwirt inkl. des Abschlusses zum Einzelhandelskaufmann und den Erwerb des Ausbilderscheines innerhalb von 36 Monaten eingeführt hat; seit 2014 zahlt ALDI SÜD im Landkreis und im Stadtgebiet München eine Ballungsraumzulage. "Unsere Anstrengungen für das Recruiting sind sehr gestiegen", erklärt Beier den Erfolg. Das betrifft nicht nur personelle Kapazitäten. Seit 2010 hat das Unternehmen in seinem Zuständigkeitsgebiet die finanziellen Ausgaben dafür verdreifacht.
Ralf Keckeis hält daher nichts von Lamentieren. "Setzen wir Akzente", ruft er die Runde auf, "anstatt immer nur abzuwarten und auf Entwicklungen zu reagieren!"
"Wir brauchen mehr Praxis"
"Wir brauchen mehr Praxis, um früher in den Ausbildungsberuf hineinzukommen", ist Isabell Zacharias überzeugt (und macht daher demnächst selbst ein Praktikum bei ALDI SÜD). Sie glaubt: "Vielen Akademikerfamilien täte es gut, früher mit dem richtigen Leben in Kontakt zu kommen." Damit rennt sie bei Hubert Schöffmann offene Türen ein, der die hohe Akademikerquote ausgesprochen kritisch sieht: "Für manch einen wäre die berufliche Bildung die bessere Option, der erfolgreichere Weg." Der Stellenwert der beruflichen Bildung gehe unter. Zahlen aus Münchner Stadtvierteln wie Obermenzing, in denen die Übertrittsquote ans Gymnasium die 100-Prozent-Spitze erreicht, scheinen ihm Recht zu geben.
"Berufliche Bildung wird nicht anerkannt"
"Der Stellenwert der beruflichen Bildung wird nicht anerkannt", stellt Schöffmann fest, „in der Gesellschaft ist es noch nicht angekommen, dass berufliche Erfüllung und Karriere nicht nur über den akademischen Weg erreichbar sind." Diese Balance zwischen Studium und beruflicher Ausbildung müsse wieder gefunden werden. Die Frage, was uns berufliche Bildung wert ist, lässt sich vielleicht über die Geschmacksnerven am einfachsten beantworten: "Wollen Sie lieber eine von Ihrem Bäcker gemachte Semmel essen oder eine Industriesemmel?" fragt Schöffmann.
"Der Fachkräftemangel", prognostiziert Georg Eisenreich (Bildungsministerium), "wird bei der beruflichen Bildung größer sein als bei Akademikern". Die von Schöffmann und den andern geforderte Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Ausbildung sei "das Zentrum unserer Bildungspolitik".
Dass Bayern nur eine verschwindend kleine Jugendarbeistlosigkeit habe, bestätige den Erfolg dieses Ansatzes. "In unserem Land gibt es Perspektiven", freut sich Eisenreich - in Nachbarländern kämpfe man dagegen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit.
"Man muss gut sein - nicht studieren"
Am Ende, so Eisenreich, werden Angebot und Nachfrage den Preis von Leistungen bestimmen - und damit die Verdienstmöglichkeiten künftiger Fachkräfte: Ein guter Handwerker werde mehr verdienen können als mancher Akademiker. "Man muss gut sein in dem, was man tut", sagt Eisenreich, "aber man muss nicht studieren!"
"Wir brauchen jeden!"
Für mehr Gelassenheit bei der Schul- und Berufswahl plädiert Isabell Zacharias: "Wir müssen den Schülern und ihren Familien klar machen, dass man mit der Frage nach Schule oder Ausbildungsplatz keine unumkehrbare Lebensentscheidung trifft." Dieses Gefühl der Elterngeneration habe seine Gültigkeit inzwischen verloren. Eine bessere Berufsorientierung helfe allerdings, manche "Schleife" zu vermeiden, schließt sich Georg Eisenreich der Keckeis-Forderung "Früh ran!" an. Die Schule könne das jedoch nicht allein. Daher sei die Zusammenarbeit von Schulen, IHK, Handwerkskammern und Unternehmen unverzichtbar. "Egal, was unsere Wünsche sind: Wir müssen die Leute da abholen, wo sie stehen", meint Eisenreich und ist sich mit der Runde einig: "Wir brauchen jeden!"
Unsere Gäste im Landtag
Bei unserem Gespräch diskutierten:
Thorsten Beier
(ALDI SÜD, Regionalgesellschaft Eichenau)
Georg Eisenreich, MdL
(Staatssekretär im bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, CSU)
Ralf Keckeis
(ALDI SÜD, Regionalgesellschaft Eichenau)
Bernd Ohlmann
(Handelsverband Bayern, Geschäftsführer)
Hubert Schöffmann
(IHK für München und Oberbayern, stv. Bereichsleiter Berufsbildung)
Robert Schurer
(AOK München, Direktor)
Lothar Semper
(Handwerkskammer für München und Oberbayern, Hauptgeschäftsführer)
Andreas Vaerst
(Arbeitsagentur München, Geschäftsführer Operativ)
Isabell Zacharias, MdL
(stv. Vorsitzende der SPD München).
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