"Nicht ausreichend an die Hand genommen"
Die Qual der Wahl: Wie finden junge Menschen ihren Beruf?
Bei traumhaftem Biergartenwetter, das dem Anlass "Sommergespräch" mehr als gerecht wurde, trafen acht geladenen Gäste aus Politik, Wirtschaft und Schule im Königlichen Hirschgarten aufeinander, um sich auszutauschen über erschwerte Berufsfindung bei einem übergroßen Angebot von 17.437 Studiengängen und 328 Ausbildungsberufen. Außerdem diskutierten sie über Qualitätssicherung von Ausbildungen, Fachkräftemangel und auch das Thema "unbegleitete Flüchtlinge und Ausbildung". Die am Ende der Gesprächsrunde von jedem Gesprächsteilnehmer geäußerten Wünsche, brachten auf den Punkt, was allen unter den Nägeln brennt.
Abschluss. Und dann?
Luka Fischer von der StadtschülerInnen-Vertretung München, besucht die 12. Klasse des Gymnasiums und berichtete Eingangs von ihren eigenen Schwierigkeiten, sich zu orientieren. "Ich habe Vermutungen, wo es nach dem Abitur einmal hingehen könnte. Die eine Richtung, Jura, ist mir aber durch die Schule und durch Erfahrungsberichte von Jurastudenten eher verleidet worden", so Fischer, die ihr persönliches Beispiel als repräsentativ einschätzt. „Viele Schüler finden sich durch die Schule im Hinblick auf eine spätere Berufsfindung nicht ausreichend an die Hand genommen. In der neunten Klasse hatten wir ein einwöchiges Praktikum." Diese kurze Zeit reiche nicht aus, um echte Einblicke in ein Unternehmen zu bekommen.
Mehr Praktika
Auch Hubert Schöffmann von der IHK, Gerhard Plomitzer von den Aktivsenioren Bayern e.V., Andreas Vaerst von der Arbeitsagentur und der Präsident der Handwerkskammer, Georg Schlagbauer, stimmten Fischer zu, dass es insbesondere an Gymnasien und Realschulen noch viel Nachholbedarf gebe in Sachen Praxisbezug und Vorbereitung auf das Arbeitsleben. Das Gymnasium dürfe nicht „per se nur auf das Studium vorbereiten“, so Schöffmann, der auch Eltern und Lehrern die modernen Berufsbilder und deren Perspektiven nahe bringen möchte. Man war sich einig darüber, dass die Eltern neben den staatlichen Angeboten die Hauptansprechpartner der Schüler seien in Sachen Jobfindung.
Jobbörsen, Netzwerke, Mentoring
Bessere Kommunikation zwischen Schulen und Ausbildungsstätten wurde von Florian Bär, dem Rektor der Mittelschule Walliser Straße, gewünscht. Es gebe viele gute Ansätze, aber wenn die Schulen konkret den Schülern bei der Berufswahl helfen wollen, ist es immer noch schwierig, den richtigen Ansprechpartner zu finden und die Schüler über die Menge an Möglichkeiten strukturiert zu informieren, so Bär. Als ein Instrument, um besseren Überblick und auch ein Gefühl zu bestimmten Berufsrichtungen zu bekommen, nannte Bär die Jobrallye, die Anfang des Jahres an seiner Schule stattgefunden hat und bei der insgesamt zwölf Betriebe einen Berufswahlparkour anboten. „Im konkreten Ausprobieren und Austausch sehen die Schüler, was in dem ein oder anderen Bereich auf sie zukommt“, lautete Bärs positives Fazit.
Ein anderes Instrument seien Jobbörsen, meldete sich Andreas Vaerst zu Wort, der es als eine zentrale Aufgabe der Arbeitsagentur sieht, "Übersicht in die Unübersichtlichkeit des großen Angebots an Studien - und Ausbildungsrichtungen" zu bringen. Insgesamt habe die Arbeitsagentur im letzten Jahr zwei große Jobbörsen angeboten, so Vaerst. "Hier werden junge Menschen, die einen Beruf ergreifen wollen und Betriebe, die Facharbeiter benötigen, zusammen gebracht." Ein großer Vorteil der Jobbörsen sei auch, dass schwächere Schüler, die mit einer bloßen Bewerbung keine großen Chancen hätten, im direkten Gespräch punkten können.
„Wertvolle Tipps und Unterstützung sollte von den Älteren an die Jungen weitergeben werden“, richtete Kajetan Brandstätter vom Business Club Bavaria (BCB) in diesem Zusammenhang auch den Fokus auf „Netzwerken“ und „Mentoring“. "Direkte Kontakte zwischen Geschäftspartnern sind krisensicher und wertvoll", findet er. Dem stimmte insbesondere auch Plomitzer zu, der an Schulen genau das tut, was Brandstätter empfiehlt: er steht jungen Menschen mit Erfahrung und Tipps zur Seite und bringt diese auch mit Betrieben in Kontakt.
"Duales Wunder"
Ein weiteres großes Anliegen, das insbesondere zweiter Bürgermeister Josef Schmid, Georg Schlagbauer, Hubert Schöffmann und Gerhard Plomitzer erörterten, sind die immer noch unterschätzten Chancen einer dualen Berufsausbildung. Man müsse diese in der Gesellschaft besser darstellen, stellten die Gesprächspartner übereinstimmend fest. Unberechtigte Vorurteile gegenüber Ausbildungsberufen seien immer noch ein großes Problem, zumal gerade die dringend benötigten Facharbeiter aus vorwiegend dieser Richtung kommen. "Aber sogar an den Mittelschulen ziehen es die meisten vor, nach Schulabschluss nicht direkt in eine Ausbildung zu gehen", stellt Bär fest. Warum das so ist? Schöffmann lieferte eine Erklärung: "In den Medien wird oft nur das Bild des 'bösen' Unternehmers gezeigt. Im Tatort ist er der Umweltverschmutzer oder er macht faule Geschäfte." Und Schlagbauer nannte ein Beispiel aus der Praxis anhand des Berufsbilds Metzger: „Viele haben immer noch den typischen Metzger der 80iger Jahre im Kopf – dick, mit blutverschmierter Schürze. Führt man die Jugendlichen aber in einen modernen Betrieb, zeigt sich ihnen dort ein völlig anderes Bild: junge, attraktive Männer, die ab 11 Uhr die Produktion beenden und dann mit Partyservice weitermachen.“ Unzureichenden Informationen über moderne Berufe und dem Nicht-Wissen um die hohe Qualitäten der dualen Ausbildungen, so waren sich alle einig, müsse man entgegenwirken.
Auch im Hinblick auf jugendliche Migranten wurde dieses Thema diskutiert. In anderen Ländern gibt es keine Berufsschulen, die mit einer Ausbildung an Betriebe gekoppelt sind und so herrscht laut Plomitzer immer noch unter den Eltern der Migranten die gängige Meinung, dass ihr Kind bei einer Ausbildung nur Arbeitsabläufe kennenlernt und nicht weitergebildet wird. "Die duale Berufsausbildung ist eine deutsche Besonderheit", erklärte Schmid und Schöffmann bestätigte, dass der Aufschwung der deutschen Wirtschaft so kurz nach dem Krieg eigentlich ein "duales Wunder" sei und die hohe Qualität dieses Ausbildungsweges in der Gesellschaft noch besser kommuniziert werden müsse. "Wir haben einen jährlich wachsenden Beschäftigungsaufbau", so Schmid, der aufzeigte, dass es im Ballungsraum München für jeden alle Chancen gäbe und die Politik durchaus auch die "Schattenseiten", wie z.B. zu teuren Wohnraum für Auszubildende, im Auge habe und bereits Maßnahmen ergreife, um Abhilfe zu schaffen. Auch die besondere Fürsorgepflicht, die die Stadt gegenüber unbegleiteten Flüchtlingen habe, wurde am runden Tisch rege diskutiert. Schlagbauer wies darauf hin, dass man nicht an Dauer und Qualität der Ausbildung rütteln solle, sondern denen, die aufgrund ihres speziellen Lebenshintergrundes Startschwierigkeiten haben, für das erste halbe Jahr einen Betreuer an die Seite stellen sollte.
Eltern einbinden
Josef Schmid, der ebenfalls Leiter des Wirtschaftsreferats ist, und auch Andreas Vaerst von der Arbeitsagentur, gingen bei der Beantwortung der Frage, wie ein Heranwachsender vorurteilsfrei alle Chancen für sich erkennen und nutzen kann, noch einen Schritt weiter und äußerten den Wunsch, dass Eltern bereits ab Einschulung ihrer Kinder die Durchlässigkeit und Vielfalt des bayerischen Schulsystems nahe gebracht werden müsse. "Der Mensch beginnt nicht erst beim Gymnasium", stellte Schmid fest, der keinen Unterschied macht zwischen einem, der sich "im Lernen leicht tut" und einem, der praktisch begabt ist.
Luka Fischer wünschte sich am Ende der Gesprächsrunde, dass den Schülern keine Standardpakete angeboten werden. Prämisse der schulischen Bildung sollte die Förderung der Schüler in ihren Begabungen sein. Zumde sollte mehr Wert darauf gelegt werden, Schülern Einblick in die eigenen Interessen zu geben und sie darin zu bestärken, diese auch zu verfolgen. Das würde dann auch die Berufswahl erleichtern.
Akademisierung stoppen
Wenn es in der Bevölkerung noch mehr das Bewusstsein gäbe, dass es jenseits der akademischen Laufbahn sehr viele attraktive und moderne Ausbildungswege gibt, die mitunter sogar ein besseres Einkommen ermöglichen als das vielleicht ein Doktortitel mit sich brächte, dann gäbe es weniger frustrierte Studienabbrecher und mehr Facharbeiter, die dringend benötigt werden. Das ist ein Fazit, das gezogen werden kann aus der intensiven Gesprächsrunde. Ein anderes sei Kajetan Brandstätter aus dem Mund genommen: "Wenn man seine(n) Beruf(ung) gefunden hat, muss man nie wieder in die Arbeit gehen!"
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Florian Bär (Rektor Mittelschule Walliser Str.)
Kajetan Brandstätter (Business Club Bavaria BCB)
Luka Fischer (StadtschülerInnen-Vertretung München)
Gerhard Plomitzer (Aktivsenioren Bayern e.V.)
Georg Schlagbauer (Präsident der Handwerkskammer für München und Oberbayern)
Josef Schmid (zweiter Bürgermeister München und Leiter des Wirtschaftsreferats)
Hubert Schöffmann (bildungspolitischer Sprecher der bayerischen Industrie- und Handelskammern)
Andreas Vaerst (Agentur für Arbeit, Geschäftsführer operativ)
Was denken Sie?
Welche Meinung vertreten Sie? Diskutieren Sie mit! Schreiben Sie uns: Münchner Wochenanzeiger, Redaktion, Fürstenrieder Str. 5-9, 80687 München, leser@muenchenweit.de. Wir veröffentlichen Ihren Standpunkt.
So geht's weiter
Lesen Sie weitere Sommergespräche in Sendlinger Anzeiger / Werbe-Spiegel bzw. Samstagsblatt (bereits erschienene Beiträge finden Sie online):
"Ich denke täglich an den Spender"
Organspende und Typisierungen
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 74531)
"Wir müssen uns dem Thema stellen"
Demenz und Schlaganfall: Was kommt da auf mich zu?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 74532)
Junge Lehrer: Start ohne Perspektiven?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 74533)
"Man verliert schnell den Überblick"
Wie schick sind Schulden?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 74534)
"Wir brauchen unverplante Zeit"
Ist Zeit wirklich Geld?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 74535)
"Wir stoßen häufig an unsere Grenzen"
MiTa und Ganztag: Wem gehört mein Kind?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 74536)
"Sie machen das Hundertfache daraus"
Flüchtlingshilfe in Sportvereinen
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 74537)
Brüche im Leben - und wie man damit umgehen kann
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 74539)
„Die Menschen möchten wissen, was drin ist“
Bewusste Ernährung: Was lassen wir uns Essen kosten?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 74540)
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH