"Mach, was dir am meisten Erfüllung verspricht"
Wie verbringen Menschen ihre zwanziger Jahre und was heißt das für die Gesellschaft?
Die US-Amerikanerin Cassie De Pecol ist mit 27 Jahren der jüngste Mensch, der alle 196 Staaten der Welt bereist hat. Sie hat sich damit einen lange gehegten Wunsch erfüllt. Andere Werte, die in unserer Gesellschaft früher als sehr wichtig empfunden wurden, stehen für die junge Frau ganz klar hinter ihrer Selbstverwirklichung. Familie beispielsweise oder materieller Besitz. Man könnte sagen, De Pecol ist ein Paradebeispiel für die Individualisierung in der Bevölkerung. Individualisierung klingt ja immer so schön. Aber was steckt dahinter? Und haben die Menschen früher einfach alle nur ihre Rolle gespielt?
Die Bedürfnispyramide nach Maslow, die früher wie heute ein anerkanntes Modell darstellt, zeigt, dass wir zunächst unsere biologischen Grundbedürfnisse und sozialen Ressourcen gesichert wissen müssen, bevor die Verwirklichung der individuellen Sehnsüchte überhaupt in unseren Horizont gerät.
Warum aber lässt Cassie De Pecol in ihren 20ern alles stehen und liegen und riskiert eine ungesicherte Zukunft, nur um für eineinhalb Jahre Spaß zu haben? Ist das typisch für die heutige junge Generation, weil sie danach vor immens hohen Erwartungen seitens der Gesellschaft steht? Was sagen die Älteren zu diesem Trend der Individualisierung? Würden sie ihre eigene junge Erwachsenenphase als individuell ausgelebt beschreiben?
"Das Beste aus seinen 'besten Jahre' herausholen"
Die alte Generation: Christine Brey, pensionierte Bürokauffrau, 67 J.
Ich habe meine 20er Jahre als eine alleinerziehende Mutter verbracht. Mit knapp 20 Jahren bekam ich eine Tochter und bin dann für ein paar Jahre wieder ins Haus meiner Eltern gezogen. Anfangs arbeitete ich halbtags weiter und später dann ganztags. Meine Tante hat auf meine Tochter aufgepasst, als wir dann zu ihr gezogen sind. In dem Haus lebe ich bis heute.
Ob alles anders gelaufen wäre, wenn ich nicht schon mit 20 ein Kind gehabt hätte? Hm, bestimmt, aber so ist es eben nicht. Wenn ich die jungen Leute ansehe, zum Beispiel meine Enkel, die viel am Reisen sind oder irgendetwas Interessantes studieren, denke ich mir, dass ich eben meine Erfüllung in meiner Tochter hatte. Ich unterstütze meine Enkel natürlich in allem, was sie tun, aber ich sehe diesen Trend weg vom klassischen Lebenslauf mit Kinder Kriegen, Heiraten und Hausbau schon etwas problematisch. Ich bekomme meine Rente ja noch, aber wie sieht es in der Generation meiner Tochter aus, wenn die jungen Leute keine Kinder mehr bekommen? Trotzdem möchte ich betonen, dass ich es eigentlich schon gut finde, dass es so viele Möglichkeiten gibt, aus seinen "besten Jahre" auch das Beste herauszuholen. Für manche mag das eine Familie sein, für andere eben nicht. Es sollte einfach jeder das tun, was für ihn persönlich am meisten Erfüllung verspricht und man kann ja auch mit Anfang dreißig noch eine Familie gründen, nachdem man sich selbst verwirklicht hat.
"Die wilden Ideen ausleben, solange man jung ist"
Die mittlere Generation: Edith Hofer, Reiseverkehrskauffrau, 47 J.
In meinen 20er Jahren war sehr viel los. Ich hatte bereits meine Ausbildung fertig und habe dann beschlossen, möglichst viel zu reisen. Ich war also viel alleine unterwegs, unter anderem in Australien, Neuseeland und Südostasien. Die Liebe durchkreuzte mein Vorhaben, dauerhaft nach Australien zu gehen und so blieb ich dann doch Zuhause. Ich habe also, bevor ich dreißig war, viel von der Welt gesehen und meinen eigenen Kopf durchgesetzt, habe aber auch geheiratet und eine Familie gegründet.
Damals war das mit dem Reisen noch gar nicht so üblich und auch nicht so einfach. Die Leute zu Hause hatten keine Vorstellungen, wie es am anderen Ende der Welt so ist. Es war also schon ein ganz mutiger Schritt, dort einfach alleine hinzufliegen.
Ich sehe diese Zeit immer noch als eine sehr wichtige Erfahrung, denn sie hat mein Leben maßgeblich geprägt. Sonst hätte ich wohl nie als Quereinsteigerin ein Reisebüro aufgemacht. Ich versuche, meinen Kindern alles zu ermöglichen, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man seine wilden Ideen am besten auslebt, wenn man jung und ungebunden ist. Ich finde es also gut, wenn die jungen Leute nach der Schule, dem Studium oder der Ausbildung erst einmal tun, wonach ihnen ist. Sie haben danach immer noch genug Zeit, sich in das System unsrer Leistungsgesellschaft einzugliedern und bis zur Rente zu arbeiten.
"Man lernt, sich selbst einzuschätzen"
Die junge Generation: Laura Wenzl, angehende Studentin, 21 J.
Ich bin ja erst 21 Jahre alt, kann aber schon ein bisschen was zur Gestaltung meiner frühen Erwachsenenjahre erzählen. Nach der Realschule machte ich einige mehrmonatige Praktika im Ausland, während ich die Berufsfachschule für Hotel- und Tourismusmanagement besuchte. Nachdem ich dort meine Ausbildung und mein Fachabitur absolviert hatte, ging ich für eine Wintersaison zum Arbeiten in die Schweiz, danach für zwei Monate nach Schweden. Jetzt werde ich im September ein duales Studium beginnen.
Die Erwartungen der Gesellschaft, möglichst früh ins Berufsleben einzusteigen und keine Zeit „auf der Strecke zu lassen“, habe ich wohl nicht erfüllt. Trotzdem ist es für mich wichtig, eine gute Ausbildung und gute Zukunftschancen zu haben, weshalb ich auch Abitur gemacht habe und bald studieren werde. Auf der anderen Seite war und ist es mir auch wichtig, andere Kulturen kennenzulernen undet was von der Welt zu sehen, bevor ich in die Berufswelt starte.
Ich sehe den Trend der Individualisierung also eher als Chance. Man wird selbstständiger und lernt, sich selbst einzuschätzen, wovon man im späteren Leben profitiert. Ebenfalls sollte man aber auch nicht den Absprung verpassen, um das zu tun, was einem wirklich wichtig ist in der Zukunft und auch langfristig Erfüllung verspricht.
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