„Lernen braucht Zeit“
Im Lehr- und Lernhaus Sendling sind in der Altenpflege-Ausbildung Theorie und Praxis eng verknüpft
Seit einem Jahr gibt es eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Evangelischen Pflegezentrum in Sendling und der benachbarte Evangelischen PflegeAkademie: Die Einrichtungen bieten 15 Auszubildenden eine überdurchschnittliche berufspädagogische (Praxis-) Betreuung, um die künftigen Pflegefachleute noch besser auf ihren Beruf vorzubereiten. Dazu gehören Gruppenanleitungen, sogenannte Lernkorridore, Einführungs- und Auszubildendentage sowie Unterstützung für die Praxisanleitenden. „Lernen braucht Zeit“, sagt Gertraud Mayer. Sie leitet seit Mai 2017 das Projekt „Lehr- und Lernhaus Sendling“
Die Zukunft sichern
„Dass es zu wenige Pflegekräfte gibt, wissen wir alle“, erklärt Einrichtungsleiter Florian Walter. „Wir wollen sowohl den Beruf als auch die Ausbildung attraktiver machen.“ Es sei eine Art der Zukunftssicherung und ein Gewinn, wenn die Auszubildenden merken, dass sie in der Praxis gut begleitet werden. „Dann bleiben sie auch nach der Ausbildung bei uns. Das ist für uns natürlich toll, wenn das so funktioniert“, sagt er. Die Idee für das Lehr- und Lernhaus ist 2016 entstanden. Bei der Projektentwicklung war auch die benachbarte Evangelische PflegeAkademie von Anfang an eng eingebunden.
An der Schnittstelle
Als Projektleiterin sitzt Gertraud Mayer nun an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Die 42-Jährige betreut die Auszubildenden, leitet sie an – und sorgt für eine gute Kommunikation zwischen den Lehrkräften der PflegeAkademie und den Praxisanleitenden in den einzelnen Wohnbereichen des Pflegezentrums. „Das ist nichts, was man alleine schafft“, sagt sie. „Für die Umsetzung braucht man viele Verbündete – die habe ich auf allen Ebenen.“
Wissen im Alltag umsetzen
Das theoretische Wissen in der Praxis umzusetzen – das sei immer die größte Herausforderung für die Auszubildenden, hat Mayer festgestellt. Zum Beispiel bei einer perkutanen endoskopische Gastrostomie. Dieser Zugang zur künstlichen Ernährung wird durch Haut und Bauchwand gelegt; wenn der Verband darüber gewechselt werden muss, tauchen oft Fragen zur Hygiene auf. Dann recherchiert Mayer vorab: Was muss man aus fachlicher Sicht berücksichtigen? Was gibt es für Hausstandards dazu? Und sie nutzt die Nähe zur PflegeAkademie: „In solchen Fällen gehe ich auch direkt zu den Pädagogen und erkundige mich, wie das Thema dort gelehrt wird, damit Theorie und Praxis gut zusammenkommen.“
Intensiver Austausch
Auch Katharina Matic, stellvertretende Leiterin der PflegeAkademie, schätzt die Nähe zum Pflegezentrum – und den engen Kontakt mit Gertraud Mayer und den Praxisanleitenden, die die Auszubildenden auf den Stationen begleiten: „Dadurch ist der Austausch viel intensiver“, sagt sie. Das sei gewinnbringend für beide Seiten: „Die Praxisanleitenden haben einen direkten Einblick, was die Auszubildenden lernen. Ich wiederum sehe, wo die Umsetzung des Stoffes im Alltag problematisch sein kann.“ So seien, zum Beispiel, schon Praxisanleitende zu einer Kurzfortbildung in Kinästhetik in die PflegeAkademie gekommen. Matic: „Es ist sehr positiv, dass das neue Modell den Theorie-Praxis-Transfer sicherstellt.“
Auszubildende lernen
Auch die Auszubildenden Uyen Nguyen und Renata Kümmler finden das Konzept des Lehr- und Lernhauses sinnvoll. Vor allem, dass sie in Gertraud Mayer eine Ansprechpartnerin haben, die ausschließlich für die Auszubildenden da ist. „Sie hat immer ein offenes Ohr, beschäftigt sich mit unseren Fragen und klärt das auch in der Schule“, sagt Kümmler.
An den Gruppenanleitungen nehmen – so wie Nguyen und Kümmler – meist zwei Auszubildende teil. Es geht dann zum Beispiel um Pflegetechniken, biographieorientierte Beschäftigung, aktivierende Körperpflege, aber auch um Dekubitus- oder Pneumonie-Prophylaxe. Nach einem Vorgespräch gibt es zu Beginn der Anleitung eine kurze Übergabe zum Bewohner oder zur Bewohnerin: Sie sprechen unter anderem über die Biographie, die Diagnosen und die Medikamente, die diese nehmen. Denn die Kunst der Pflege ist, Pflegemaßnahmen mit lebenslanger Beziehungsarbeit zu verknüpfen.
Was kann mn noch besser machen?
Dann führen die Auszubildenden die geplante Maßnahme – unter Anleitung – in der direkten, individuellen Pflegesituation durch; hinterher reflektieren sie gemeinsam. „Das ist ein ganz wichtiger Punkt“, erklärt Mayer. „Die Schüler sollen über sich selbst und die Pflegesituation nachdenken.“ War fachlich alles richtig? Wie ging es dem Bewohner dabei? Was kann man eventuell noch besser machen?
Es sei ganz wichtig, genügend Zeit und Raum für das Lernen zu haben, sagt die Pflegepädagogin. Beides bieten die neu eingeführten Lernkorridore: Innerhalb der Arbeitszeit haben die Auszubildenden jeden Tag eine halbe Stunde lang Lernzeit. Sie können im Internet oder in der kleinen Fachbibliothek recherchieren und sich über Themengebiete austauschen.
Uyen Nguyen, Auszubildende im dritten Lehrjahr, findet die Lernkorridore sehr sinnvoll. „Wenn ich in der Praxis auf ein Problem stoße, wir das Thema in der Schule aber noch nicht gelernt haben, dann möchte ich das sofort nachschauen.“ Zum Beispiel, wenn jemand unter Spastiken leidet. Auch ihre Kollegin, Renata Kümmler aus Ungarn, nutzt die halbe Stunde. „Ich schaue immer etwas nach, mal die Nebenwirkungen von Medikamenten, oder etwas für die Prüfungsvorbereitungen“, sagt die 44-Jährige.
Alles bleibt in Bewegung
Schon in ihrer Heimat Vietnam hat Uyen Nguyen überlegt, in Deutschland Altenpflegerin zu werden. „Die Leute denken, bei älteren Menschen geht es nur ums Waschen und Essen, aber das ist nicht so“, sagt die 44-Jährige. „Wir lernen noch so viel anderes, zum Beispiel verschiedene Krankheitsbilder und Psychologie.“ Auch Fächer wie Lebenszeit- und Lebensraumgestaltung stehen auf dem Stundenplan. Trotz der anstrengenden Arbeit wisse sie, dass es sinnvoll ist, was sie tut, sagt Nguyen, und deswegen könne sie gut damit umgehen.
Die Schüler und die Praxisanleitenden sind im ganzen Haus und auf alle Bereiche verteilt. Und so profitieren nicht nur die Auszubildenden vom Projekt „Lehr- und Lernhaus Sendling“, sondern auch alle anderen Mitarbeitenden: „Es war uns sehr wichtig, dass das Wissen aus der Pflegeschule im ganzen Haus ankommt“, sagt Florian Walter. „So bleibt alles in Bewegung: Durch das frische pflegerische Wissen vermeiden wir, dass sich schlechte Gewohnheiten einschleichen.“
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