"Ich mittendrin dabei"
Philipp von der Wippel lernte alle Seiten des Politikerdaseins kennen
Der Pfiff des Schaffners ertönt, der Regen bahnt sich am Fenster des ICE 78 in Schlangenlinien seinen Weg und der Zug setzt sich in Bewegung: Quer durch die Republik – von München nach Berlin. Das auf dem Tisch liegende Kuvert bestätigt es: Vier aufregende Tage und das wirklichkeitsgetreue Eintauchen in politische Szene Berlins stehen bevor. Erst jetzt realisiere ich: Jugend und Parlament nähert sich mit jedem Kilometer!
Aus allen Himmelsrichtungen strömen die über 300 neuen "Abgeordneten" herbei: Ich mittendrin dabei! Bereits in der Schlange zur Ausweiskontrolle tritt das südlichste Bundesland der Republik ohne Zurückhaltung in den Vordergrund, als dessen Delegierte, durch dem Dialekt würdige Zurufe, ihre Freude über die gemeinsame Heimat kundtun. Die große Eingangshalle dieses hohen Hauses ist der Ort, an dem die echte Identität in das befristete Politikerdasein übergeht: Philipp von der Wippel wird zu Martin Armbruster. Es ist der Ort, an dem die CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne und Linke zu CVP, LRP, ADP, ÖSP und PSG werden. Und es ist der Ort, an dem Schüler für vier Tage zu den Machern der Politik und der Meinungsbildung von 82 Millionen Menschen werden.
Debatten auf reichstagsblauen Stühlen
Von Respekt und Ehrfurcht vor dem Platz der Entscheidungen, an dem Merkel, Steinbrück und Co ihre Runden drehen, ist schnell nichts mehr zu spüren: Die anfangs nur von leisem Flüstern gestörte Ruhe verwandelt sich in ein Diskutieren, das dem Betrieb einer Markthalle gleicht. Die manchmal schüchternen Blicke der Ankömmlinge räumen dem konzentrierten Mustern der Parteikollegen den Platz. Und der Smalltalk über Herkunft, Fußballclub und Berufswunsch findet sein Ende beim Empfangsbuffet in kontroversen Debatten über die Position der Fraktion. Auch die sonst bei Touristen als Highlight geltende Hausführung durch den Bundestag setzt unserem rhetorischen Warmlaufen kein Ende. Erst das Betreten des Plenarsaals lässt das frisch konstituierte Parlament verstummen: Quer durch die Bank ein vorsichtiges Herunterklappen der reichstagsblauen Stühle, auf denen an den restlichen 361 Tagen nicht einmal Staatsgäste Platz nehmen dürfen. Mit dem Vorgeschmack auf das Highlight des letzten Tages geht es spätabends in die erste Sitzung der LRP (Liberale Reformpartei). Während sich der Tag mit einem glitzernden Abendrot über dem Kanzleramt verabschiedet, läutet die 40 Personen starke Fraktion die neue Legislaturperiode ein.
Knallharte Politik auch im Spiel
Ein Zug an jungen Menschen bahnt sich mit rollenden Koffern an der Spree den Weg zum Hostel. Gerade erst zwei Stunden Besitzer eines blauen Reichstagsstuhl liegt der Machtkampf um Posten bereits in der Luft. Eines ist schon am ersten Abend bewiesen: Jugend und Parlament mag nach außen ein Planspiel sein, tatsächlich aber ist der spielerische Charakter der knallharten Politik gewichen.
9.00 Uhr, Fraktionsebene, 1. Tagesordnungspunkt „Wahl des Fraktionsvorsitzes“: „Es war getan, fast eh gedacht“ (Goethe) nahm ich gegenüber von meinen Fraktionsfreunden Platz, von wo aus Rainer Brüderle gewöhnlich seine Appelle an die Kollegen richtet. Sogleich wird die Arbeit an den Gesetzesentwürfen aufgenommen. Kleingruppen erarbeiten Haare raufend die Positionen zu den Themen Wahlpflicht, PKW-Maut, Pflegefreistellung und anonymisierte Bewerbung. Unter Druck des Mittagessens und unter Einsatz aller vermittelnden Fähigkeiten verabschiedet die LRP magenknurrend die Positionspapiere.
Die entspannte Mittagspause mit Blick auf die Spree ist mehr als verdient – nicht jedoch für den Vorsitz: Das erste Koalitionsgespräch mit dem größeren Bruder der CVP steht auf dem Programm. Beim Thema Wahlpflicht und PKW-Maut ist wenig Diskussionsbedarf. Doch Pflegefreistellung und anonymisierte Bewerbung entpuppt sich kniffliger als vermutet. Während die konservative CVP den Schutz der Familie betont, sieht die liberale LRP das Wohlergehen der Unternehmer in akuter Gefahr.
Gefundenes Fressen und Bauchpinseleien
Die erste Pressekonferenz der Legislatur steht auf dem Programm. Auf dem Weg zur „Berliner Runde“, an den wartenden Reportern vorbei, werden die Statements festgelegt – bloß die Opposition keine Keile zwischen die Koalition treiben lassen. Den ersten starken Auftritt hat die PSG, als sie vollzählig den Raum verlässt, nachdem der Moderator den Parteivorsitz auffordert, die Strategie der Doppelspitze für den Moment ruhen zu lassen. Ein gefundenes Fressen für die Koalition, um die Harmonie der Koalition zum besten zu geben und sich mit Wertschätzungen, die einer Liebeserklärung gleichen, den Bauch zu pinseln.
In der Fraktionssitzung warten die Proteste der Parteifreunde darauf, abgeholt zu werden: „Das war nicht beschlossene Sache“, „wir lassen uns vom Koalitionspartner nicht erpressen“, „das ist gegen unsere liberalen Werte“ usw. prasselt auf uns nieder. Mein Blick wandert zur Uhr und kündigt mir vier Stunden an, bis der endgültige Standpunkt der Partei im Einklang mit der CVP stehen muss. Das Arbeitsklima beschleunigt sich, die Debatten werden hitziger und die Atmosphäre angespannter. Nach einem Moment des Durchatmens kommt bereits die nächste Aufregung: Die Überzeugung meiner Liberalen kratzen unübersehbar an den Nerven der Koalition. Je weiter wir in der Tagesordnung fortschreiten, desto mehr verdichten sich die Unterredungen unter den Fraktionsvorsitzenden.
An Schlaf ist kaum zu denken
Einerseits Gelassenheit unter den Parteifreunden bewahren, andererseits unmissverständlich Druck auf den Koalitionspartner ausüben – keine leichte Aufgabe im viertelstündigen Rhythmus. In verschwitztem Anzug und mit wehender Krawatte eilen wir hin und her. Eine letzte Forderung steht auf meinem Notizzettel, doch der Kragen platzt: Die Drohung eines Koalitionsbruches wird offen ausgesprochen. Durchatmen, auf das Wesentliche konzentrieren und sachlich bleiben – das ist jetzt die Devise. In letzter Minute kann die Katastrophe mit Betonung der Gemeinsamkeiten und Herunterspielen der Differenzen verhindert werden. Mit einer der Rebellion nahen Fraktion und einer beleidigten Koalition beenden wir den ersten Sitzungstag am Platz der Republik. Hinter den Kulissen im Hostel wird sich in der Koalition bis vier Uhr nachts weiter nach Konsens bemüht. Geeinigt über das weitere Vorgehen holt sich auch der Vorsitz bei Morgendämmerung eine Mütze voll Schlaf.
Der zweite Tag ist den Ausschüssen der einzelnen Gesetzesentwürfen gewidmet. Bevor aber die Vertreter der Parteien sich die Argumenten des Vortages um die Ohren hauen, finden sich alle Parlamentier im Plenarsaal zusammen, um der ersten Lesung der potenziellen Gesetze beizuwohnen. Im Grunde beginnt erst jetzt die offizielle Beschäftigung mit den eingebrachten Vorschlägen. Der ganze gestrige Tumult diente allein dem Glätten der Wogen, um das Schiff nicht heute in die völlig falschen Richtung steuern zu lassen.
In der Höhle des tobenden Löwen
Um einmal Tacheles zu reden: Die einzige Aufgabe der Regierungsparteien ist es, Argumente der Opposition zu entkräften, eventuell an der Fraktionsdisziplin der anderen zu rütteln und eisern auf den Abmachungen des Vorabends zu beharren. Gesagt, getan. Ohne größere Aufreger wandere ich von einem Ausschuss in den nächsten, um das Gesamtbild der Debatten im Auge zu behalten und die Argumente unter den Parteikollegen auszutauschen. Eine trügerische Ruhe macht sich breit, bis der Kessel in der abendlichen Fraktionssitzung noch einmal richtig hochkocht: Der Koalitionspartner realisiert, dass der Gesetzesentwurf durch das Austauschen eines kleinen Wortes unsererseits zwecklos ist. Der Koalitionsbruch steht abermals auf Messers Scheide. Um der Empörung direkt ins Auge zu sehen, wagen wir uns in die Höhle des Löwen, in der eine tobende CVP auf uns wartet: Mit vereinten Kräften lässt sich das Vertrauen der aufgebrachten Delegierten zurückgewinnen. Punkt Mitternacht schreiten wir aus dem Haupteingang des Reichstags hinaus. Arbeit getan für heute? - Noch lange nicht, das Schreiben der Rede für morgen Früh im Plenarsaal steht noch aus! Wer möchte schon blank vor dem Deutschen Bundestag stehen?
Beide LRP, beide Redner, beide über das Thema anonymisierte Bewerbung: Patrick und ich sitzen in Zimmer 981 und brüten über unserer Rede. Alles andere als ernst und seriös: Immer noch bessere Seitenhiebe gegen die Parteien der Oppositionen fallen uns ein. Krümmend vor Lachen steht der Humor unserer Ansprachen, bevor wir uns über den Inhalt Gedanken machen. Das Morgengrauen begrüßend fallen wir mit dem Gefühl in unsere Betten, eine ausgefeilte Rede in der Tasche zu haben.
Phänomenaler Abschluss
6.30 Uhr, zwei Stunden Schlaf, Puls auf 180: Auf ins Plenum! Der phänomenale Abschluss dieser verrückten Tage steht bevor. Der Gong erschallt, alles erhebt sich, der Bundestagspräsident tritt ein. Die Rednerliste rast hinunter: „Nächster Redner, der Kollege Martin Armbruster“. Keine Aufregung, kein Lampenfieber, kein Zittern. Alle Vorstellungen dieses Moments verfliegen. Ich fühle mich nicht anders als während den Ansprachen all die Tage zuvor. Viel mehr verleiht das Ambiente und der Startschuss des Präsidenten „Herr Kollege, Sie haben das Wort“ einen gewaltigen Stoß, nochmal alles zu geben.
Unter dem Strich: Alle vier Gesetzesentwürfe nach eigenen Interessen entschieden, alle Seiten des Politikerdaseins kennengelernt und Freundschaften mit inspirierenden Menschen geknüpft, die alle verändern und gestalten wollen – und auch werden. Wehe dem, der das Unwort „Politikverdrossenheit“ noch einmal verwendet"
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