"Ich darf Fehler machen"
Brüche im Leben - und wie man damit umgehen kann
"Alles was du im Kopf hast, kann dir niemand wegnehmen, das gehört dir allein. Mit dieser Botschaft gehe ich in Schulen und Flüchtlingsheime und versuche junge Leute auf einen guten Weg zu bringen. Ich erzähle ihnen meine Lebensgeschichte, sie hören zu und bisher habe ich ganz gute Erfolge damit." Jimmy Hartwig ist seit zwei Jahren als Integrationsbotschafter des Deutschen Fußballbundes unterwegs. Seit zehn Jahren arbeitet der gelernte Maschinenbauschlosser als Schauspieler, davor war er Fußballnationalspieler und hat erfolgreich gegen schwere Krebserkrankungen gekämpft. Als Sohn eines afroamerikanischen GIs und einer deutschen Mutter, mit einem Opa im Gepäck, der – wie er selbst sagt – Nazi und Gauleiter war, hat er keine leichte Kindheit gehabt. Sein Leben ist alles andere als gradlinig verlaufen. Gerade deshalb ist Jimmy Hartwig aber auch ein Paradebeispiel dafür, dass man mit Willen, Einsatzvermögen und manchmal auch Unterstützung von außen neue Perspektiven erschließen, neue Möglichkeiten ergreifen und eine positive Wende schaffen kann.
Dass zum einen diese Unterstützung von außen breit gefächert ist und von arbeitsbegleitenden bis hin zu medizinischen Maßnahmen ein breites Spektrum abdeckt und dass zum anderen die eigene Lebenseinstellung eine wichtige Rolle spielt, wurde bei unserem Sommergespräch "Brüche als Chancen: Muss ich scheitern können dürfen?" deutlich.
Zweite Chance
Gleich zu Beginn verwies VdK-Präsidentin Ulrike Mascher auf die Berufsförderungswerke, in denen man zum Beispiel nach einem Unfall oder nach einer chronischen Krankheit die Möglichkeit erhält, einen neuen Beruf zu erlernen. "Das ist eine zweite Chance", betonte sie. Der VdK sei an zwei Berufsförderungswerken beteiligt und sie sei von der Arbeit dort "schwer beeindruckt". Seit einigen Jahren würden dort auch gezielt Menschen mit psychischen Erkrankungen gefördert und es gelinge, etwas über 50 Prozent wieder in eine dauerhafte Erwerbstätigkeit zu vermitteln. Und bei den Menschen mit körperlichen Einschränkungen nach einem Unfall oder dergleichen seien es sogar 80 Prozent.
"Ganz weit unten"
Alleinerziehende Mütter ohne Beruf erhalten Hilfe bei IBPro e.V., Zentrum Beruf & Familie. Die 1990 gegründete gemeinnützige Dienstleistungs- und Beratungseinrichtung führt Qualifizierungsmaßnahmen durch. Die Frauen, die zu Annette Reisch kommen, haben oft einen Migrationshintergrund, bisweilen auch eine Flucht hinter sich. Sie stehen mit den Kindern alleine da und müssen meist mit Hartz IV auskommen. Aber auch von den hier lebenden Frauen, die ins Zentrum Beruf & Familie kommen, sind viele bereits in der Schule oder der Berufsausbildung – manchmal auch mehrmals – auf der Strecke geblieben. "Sie haben harte Brüche hinter sich. Aber irgendwann sind sie an dem Punkt, an dem sie sagen: Ich will da raus, ich will meinen Kindern eine Zukunft bieten und ihnen ein gutes Vorbild sein", berichtete Annette Reisch.
Das Zentrum versucht, das Selbstwertgefühl der Frauen zu stärken und berufliche Perspektiven zu entwickeln. Eine Teilnehmerin habe ihr mal gesagt: "Ich habe immer gedacht, ich bin nichts. Ich bin nur eine Mutter." Das sei der Stand mit dem die Frauen zu ihnen kämen, stellte Reisch fest: "Ganz weit unten." Sie seien sich gar nicht der Fähigkeiten und Kompetenzen bewusst, die sie erworben haben, als sie versuchten, ihre Familien mit irgendwelchen Hilfsarbeiten über Wasser zu halten.
Abbrecher-Quote reduziert
Mit Berufsabbrechern hat auch Berufsschulleiter Hans Bauer, der im Berufsschulzentrum Thomas Wimmer vier Schulen im Bereich Farbe und Gestaltung leitet, immer wieder zu tun. Als er vor 17 Jahren die Schulleitung übernommen hatte, habe er zwei Drittel Abbrecher gehabt. Sein Ziel sei es gewesen, diese Quote auf ein Drittel zu reduzieren. Jetzt stünde sie sogar noch ein wenig tiefer, erklärte er. Geschafft habe man dies auch durch externe Unterstützung. Man habe eineinhalb Stellen für Berufsschul-Sozialarbeit geschaffen. Immer wenn ein Problem auftauche, werde der Sozialarbeiter eingeschalten. Dieser versuche zu moderieren und zu kitten.
"Junge Leute definieren sich über ihr erstes selbstverdientes Geld", konstatierte Hans Bauer. Wenn sie in den ersten sechs Monaten ihrer Berufsausbildung, also in der Probezeit, ohne Angabe von Gründen gekündigt würden, so sei dies ein Drama und könne bis zur Berufsverweigerung führen. Ein weiterer Punkt, der Probleme bereite, sei das schlechte gesellschaftliche Ansehen des Maler- und Lackierer-Berufes.
Impulse von außen
"Mir ist wichtig, dass die Schule kein geschlossenes System ist, sondern auch Impulse von außen kommen", betonte der Schulleiter – ein Punkt, dem alle Diskussionsteilnehmer zustimmten, wobei sie sich einen möglichst frühen Beginn der Förderung, Unterstützung und des Herausarbeitens von Stärken innerhalb des Schulsystems wünschten.
Semir Fersadi, der bei der Industrie- und Handelskammer das Referat Gründung, Finanzierung und Krisenmanagement leitet, berichtete, dass die IHK das Thema "Wirtschaft macht Schule" entdeckt habe. Man wolle das Unternehmerische in die Schulen bringen, auch das Thema Startups ansprechen und den Schülern aufzeigen, dass etwas mehr zum "Unternehmer sein" gehöre als nur eine gute Idee. "Viele Unternehmer sind keine Unternehmer. Die können viel besser unterm Lkw liegen und schrauben als ein Unternehmen führen", erklärte Fersadi. "Du musst als Geschäftsführer eines Handwerksbetriebs nicht schnitzen und hämmern, du musst die kaufmännischen Dinge im Kopf haben, du musst wissen, was verdiene ich an dem Auftrag." Das gehe auch bei Gründungen oft in die Hose.
"Man muss wissen, was man will"
"Jeder muss für sein Leben einen Weg haben", meinte Fersadi. "Man muss wissen, was man will." Vielen Untenehmern fehle auch der Plan für den Tag danach, hat der IHK-Berater festgestellt. Sie fielen mit dem Ruhestand in ein tiefes Loch. Jimmy Hartwig sah hier Parallelen zum Profisport. Als Profifußballer werde man jahrelang gehypt. Man stehe im Licht der Öffentlichkeit. Dann sei man plötzlich 36 und man frage sich, wie geht es weiter. "Ich weiß, worüber ich rede. Ich habe es selber erlebt", sagte Hartwig. Er habe in dieser Zeit einen Bruch erlebt, allerdings sei Scheitern dafür das falsche Wort, denn er sei immer wieder aufgestanden, weil er immer einen Plan gehabt habe.
"Ich darf Fehler machen"
Man bräuchte in der Presse mehr Geschichten von Leuten, für die es nach einem Scheitern positiv weitergegangen sei, merkte Oberarzt Dr. Richard Musil an. "Wenn sie zu uns kommen, können wir Unterstützung bieten." Das Problem sei, dass viele nicht kämen. Der gesellschaftliche Druck sei manchmal schon enorm groß. In den vergangenen Jahren habe es viele Suizide von Topmanagern gegeben.
Wenn man den Begriff Scheitern nenne, dann sei das Kind schon in den Brunnen gefallen, erklärte er weiter. "Davor kommt: Ich darf Fehler machen. Und die muss man sich auch zugestehen." Hier fange es an und hier müsse man schauen, wo die Chancen liegen. Den Begriff "Kognitive Umstrukturierung" (Umstrukturierung der gedanklichen Lebenskonzepte, Anm. d.Red.) warf er in diesem Zusammenhang in die Runde.
"Der Rest ist Beiwerk"
"Wenn ich einen Plan, einen Lebensentwurf habe, der unabhängig von den äußeren Bedingungen ist, wenn ich das schaffe, dann kann mir eigentlich nichts passieren", konstatierte er. "Der Rest ist Beiwerk. Wir leben allerdings in einer Gesellschaft, die viel Wert auf das Beiwerk legt und wenn man das nicht mehr hat – meine Frau, mein Auto mein Haus – dann ist Scheitern interpretatorisch vorprogrammiert."
Ulrike Mascher warnte davor, alle Bereiche unseres Lebens ökonomisieren zu wollen. Der Wettbewerb im Gesundheitsbereich sei verheerend und gehe in eine völlig falsche Richtung. Ähnlich sei es in der Schule, wenn es nur darum gehe, was später verwertbar sei und nicht darum, dass den Schülern eine eigene Haltung beigebracht werde.
Sich als Team verstehen
Annette Reisch wiederum wünschte sich die Aufwertung von Familienzeiten, damit sie keinen Bruch mehr sondern eine Bereicherung im Lebenslauf darstellen und Jimmy Hartwig brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die junge Generation sich als weniger egoistisch zeigen und sich mehr auf die Stärken besinnen werde, die man als Team erreichen könne.
"Wir machen viel. Gesellschaftlich sind wir auf dem richtigen Weg. Aber wir könnten noch mehr tun", resümierte Hartwig. "Scheitern kann man nur an seiner eigenen Person", betonte er. "Und nur aufgeben heißt für mich scheitern. Wer nicht aufgibt, ist nicht gescheitert."
"Bewusst durchs Leben gehen"
"Scheitern gehört für mich zum Leben. Jedes Scheitern ist auch eine Chance, um daran zu wachsen", äußerte Annette Reisch. "Die Gesellschaft sollte das begreifen und den Menschen die Zeit zugestehen, sich zu erholen und neu anzufangen." Hans Bauer verwies darauf, wie wichtig es sei, Rückzugsstrategien – zum Beispiel eine stabile Familie – zu haben, wenn es mal nicht so gut laufe, und auch Ulrike Mascher sprach den hohen Stellenwert eines funktionierenden Umfeldes an, das aufmerksam sei, genau hinhöre und den Betroffenen ermutige – auch dazu ermutige, sich Hilfe zu holen.
"Man darf nicht nur Fehler machen, man darf sich auch Hilfe holen", lautete das Fazit von Dr. Richard Musil. Es gebe viel Unterstützung in München, man müsse sich nur ein bisschen trauen. "Ich zolle jedem Respekt, der diesen Schritt tut." Und Semir Fersadi wünschte sich, dass die Menschen nicht nur funktionieren in der Gesellschaft sondern auch agieren. "Krankheiten sind Mitteilungen und Botschaften", sage er. "Man muss jeden Tag aufwachen und bewusst durchs Leben gehen."
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Hans Bauer (Leiter Städt. Berufliches Schulzentrum Thomas Wimmer / bis 2014 Vorsitzender des Bezirksausschusses 19)
Semir Fersadi (IHK für München und Oberbayern, Leiter Referat Gründung, Finanzierung und Krisenmanagement)
Jimmy Hartwig (ehem. Bundesliga-Fußballspieler)
Ulrike Mascher (Präsidentin des VdK)
Dr. Richard Musil (Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU)
Annette Reisch (IBPro e.V., Zentrum Beruf & Familie)
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