Holpriger Neustart
Wir fragen nach: Funktioniert "Lernen zuhause" wirklich?
80 Prozent finden gar nicht statt: Das Kultusministerium hat zum Start des Unterrichts für Abschlussklassen erklärt, durch die Verkleinerung der Lerngruppen bzw. Klassenteilungen könne es zu "Abweichungen" im Stundenplan kommen. Ein sanftes Wort für eine gewaltige Lücke: In manchen Abschlussklassen finden derzeit von 38 Stunden gerade einmal acht oder von 34 nur zwölf wirklich statt, wie Eltern belegen. 80 bzw. 65 Prozent des Abschluss-Unterrichts werden in diesen Fällen also immer noch nicht abgehalten. (Foto: sch)
Seit Montag dürfen die Schüler von Abschlussklassen zeitweise wieder in die Schule gehen. Für 14 Prozent aller bayerischen Schüler soll damit wieder etwas Normalität einkehren. Der weitaus größere Teil aller Schüler (sechs von sieben!) wird weiterhin auf "Lernen zuhause" angewiesen bleiben.
"Vielleicht hat dabei nicht alles von Anfang an so funktioniert, wie es sich Eltern wünschen", räumte Kultusminister Michael Piazolo vergangene Woche ein. Lernen zuhause sei ja auch "kein Ersatzunterricht und Eltern keine Ersatzlehrer". Unter dem Strich zeigte er sich aber nicht unzufrieden: "Vieles hat gut funktioniert", sagte er. "Es ist großartig, was in den letzten Wochen geleistet wurde" und "die Schulleiter machen das sehr verantwortungsvoll und professionell". Die ganze Schulfamilie lobte er: "Viele haben hohe Flexibilität gezeigt!"
Lückenhaft und nervenaufreibend
Die wird weiter nötig bleiben: Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass es bei allem Einsatz engagierter Lehrer und Eltern und leistungsbereiter Schüler an vielen Stellen des "Homeschoolings" hapert: Nicht jeder Schüler hat zuhause die von seinen Lehrern geforderte technische Ausrüstung (Drucker, Scanner, Laptop). Gestellte Aufgaben können wegen fehlender Erklärungen nicht bearbeitet werden. Für bevorstehende Prüfungen relevanter Unterrichtsstoff wird nicht kommuniziert. Die Koordination des Austauschs von Unterlagen zwischen Lehrern und Schülern ist teils kompliziert und lückenhaft. Viele Eltern und Schüler berichten von derart nervenaufreibenden Dingen. Die kennt auch der Minister: So habe man zwar die technischen Kapazitäten verzehnfacht, sagte Piazolo, trotzdem sei die Lernplattform mebis auch nach den Osterferien stundenlang ausgefallen und nicht nutzbar gewesen.
Unterricht mit Brief und Telefon?
"Wir gehen davon aus, dass die übergroße Mehrheit der Schüler bzw. ihrer Erziehungsberechtigten über entsprechende Endgeräte verfügt", zeigt sich das Kultusministerium sorglos und verweist alle sich zuhause alleine durchschlagenden Schüler, die keinen PC oder Drucker haben, auf "Telefon und Briefversand". Im Freistaat Bayern stünden zudem "zahlreiche Notebooks und Tablets" für unterrichtliche Zwecke zur Verfügung, die man an Schüler ausleihen könne.
Das sei eine "pragmatische und einfache" Regelung, die dafür sorge, dass Kinder und Jugendliche auch beim Lernen zuhause möglichst faire Bildungschancen haben, glaubt Kultusminister Michael Piazolo. Der Weg zum Leihrechner ist indes nicht so einfach. Die Schule (nicht der Schüler) muss sich dazu an ihren "Schulaufwandsträger" wenden.
Viele offene Fragen
Wir haben den Minister daher gefragt, welche und wieviele Geräte betriebsbereit zur Verfügung stehen; ob Schüler beim Installieren zuhause und dem Verstehen der Software unterstützt werden; wie lange die Leihfristen sein werden und an wen sich ein betroffener Schüler, der ein Gerät braucht, wenden kann. Bisher ließ Michael Piazolo lediglich die Frage nach der Zuständigkeit beantworten: "Ansprechpartner für die Eltern ist die Schulleitung. Die Ausleihbedingungen bestimmt die Kommune, der die Geräte gehören."
"Es wird keine schnelle Rückkehr in die Normalität geben", so Piazolos Einschätzung bei der Pressekonferenz vergangenen Donnerstag. Weil diese virtuell abgehalten wurde, hat das Ministerium den Wochenanzeigern angeboten, Fragen dazu zu beantworten. Wir haben daher nachgefragt, wie der Kultusminister an den "hapernden Stellen" konkret nachbessern kann, um die Situation für die Schüler in den verbleibenden Schulwochen besser handhabbar zu gestalten. Eine Antwort blieb Piazolo auch hierzu bislang schuldig.
Das Ministerium fragte nach Redaktionsschluss unserer Printausgabe am Dienstag (28. April) nach unseren Fragen nach, um sie zu beantworten. Es verwies dabei auf die gegenwärtig große Zahl von Anfragen und dadurch verursachte Verzögerungen.
Wie sind Ihre Erfahrungen?
Wir bitten daher Eltern, Schüler, Lehrer um ihre Bewertung: Wie funktioniert das "Lernen zuhause"? Welche Erfahrungen machen Sie? Erste Rückmeldungen lesen Sie hier. Gerne können Sie uns weitere Beiträge an leser@muenchenweit.de schicken (bitte mit Namen, Schulart und betreffender Klassenstufe), die wir veröffentlichen.
"Digitale Spaltung wird sichtbar"
Das JFF – Institut für Medienpädagogik warnt vor der "digitalen Spaltung", die derzeit die Schüler zu spüren bekommen:
"Die aktuelle Verlagerung zahlreicher Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten in den Online-Bereich offenbart ein massives Problem in der Gesellschaft. Wenn Information, Bildung, Kommunikation und Interaktion hauptsächlich virtuell stattfinden, wird aktuell die digitale Spaltung sichtbarer denn je. "Soziale, kulturelle und ökonomische Teilhabe stehen leider immer noch in unmittelbarer Abhängigkeit zum sozio-ökonomischen Status von Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Inklusion, Integration und medienkompetentes Agieren erreichen nur einzelne Teile der Gesellschaft."
Wegen Corona bleibt keiner sitzen
Zur Schule erläutere Ministerpäsident Markus Söder vor dem Landtag:
"Wir haben die Zeit bisher ganz gut überbrückt, und in den Familien haben die meisten auch gut durchgehalten. Vielleicht war es in einigen Familien sogar besser als vorher. Bei anderen vielleicht eine echte Belastungsprobe. Ich bin mir mit dem Kultusminister einig, wenn wir sagen, dass es bisher kein normales Schuljahr war. Und ehrlich: Es wird auch kein normales Schuljahr mehr werden. Wir werden die Lehrpläne anpassen müssen, übrigens nicht nur für dieses, sondern auch für das nächste Jahr.
Wir wollen nicht, dass ein Schüler wegen Corona sitzen bleibt. Deswegen werden wir in der Frage der Versetzung auf Probe großzügig sein. Für Schüler, die für sich keine Chance sehen, in das nächste Schuljahr einzusteigen, soll die Nichtversetzung nicht angerechnet werden. Diese Sicherheit wollen wir den Schülerinnen und Schülern geben."
„Der Start ist reibungslos verlaufen“
Am Dienstag hat Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) den Start des Präsenzunterrichts in ersten Schulen bewertet: „Der Start ist reibungslos verlaufen. Es ist gut organisiert und in den Schulen hervorragend vorbereitet worden.“ Auch das bisherige „Lernen zuhause“, so der Minister, „hat gut funktioniert“. Die gesamte Schulfamilie habe sich in den letzten Wochen „hervorragend verhalten“.
Ab 11. Mai sollen weitere Jahrgangsstufen mit „echtem Unterricht“ in den Schulen folgen. Weil dieser „Präsenzunterricht“ nur langsam hochgefahren werde, bleiben Schüler und Eltern weiterhin auf Lernen zuhause und Notfallbetreuung angewiesen. „Es wird bis zum Sommer keine Normalität an den Schulen geben“, so Piazolo. Dazu gehört auch, das Unterricht nur in Kernfächern stattfinden wird: „Wir werden nicht den gesamten Lehrstoff vermitteln können“, räumt der Minister ein.
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH