"Es muss immer wieder jemanden geben, der neugierig ist und etwas wagt"
Dr. Richard Musil erklärt, wie Bindung und Grenzen unser Sicherheitsgefühl beeinflussen

"Es scheint, dass wir Menschen in unserer Entwicklung einen Vorteil hatten, weil wir Sachen ausprobiert und besser oder schlauer gemacht haben als die Wesen um uns herum." Dr. Richard Musil, Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU. (Foto: job)
Wer wagt, gewinnt? Über Risiken und Sicherheit sprach Johannes Beetz mit Dr. Richard Musil, Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU.
Bindung macht Kinder sicher
Warum gehen manche Menschen ohne viel nachzudenken große Risiken ein, während andere sich selbst bei banalen Dingen nur schwer entscheiden können?
Richard Musil: Das hängt von vielen Faktoren ab: Alter, Geschlecht, genetische Faktoren, familiäres und soziales Umfeld. Wenn wir durch unsere Eltern eine sichere Bindung haben, können wir uns mehr zutrauen und entwickeln eine größere Bereitschaft, Dinge auszuprobieren. Gelingt diese Bindung nicht so gut, sind wir vielleicht eher ängstlich und zurückhaltend. Klappt sie gar nicht, kann es sein, dass man sich ständig ausprobieren muss und man eher in extremem Maß waghalsig wird.
Frauen: "Besser vorbereitet"
"Frauen sind besser vorbereitet und überschätzen sich nicht so schnell. Sie überprüfen ihre Fähigkeiten und erreichen die Ziele, die sie sich vornehmen", meinte der Bergsteiger Ralf Dujmovits nach dem Tod von elf Kletterern einer Himalaya-Expedition 2008. In solchen Extremsituationen verlieren – relativ – mehr Männer als Frauen ihr Leben. Sie haben ebenfalls angesprochen, dass Frauen und Männer unterschiedlich mit Risiken umgehen.
Richard Musil: Diesen Unterschied gibt es auf jeden Fall. Studien zeigen durchgehend, was Verkehrsunfälle, Drogen, Alkohol, gesundheitsgefährdentes Verhalten angeht: Männer sind immer einen Tick risikobereiter. Die Frauen haben zumindest hier im Westen stärker aufgeholt, aber die Männer sind in ihrem Verhalten immer ein bisschen riskanter.
Männer: "Immer noch einen Schritt weiter"
Kann man das erklären?
Richard Musil: Das kann man nicht wirklich in einem Satz. Es gibt hormonelle Einflüsse und das hat Auswirkungen auf das Temperament, was eine wesentliche Rolle spielt. Es gibt sozial typisch männliches und typisch weibliches Verhalten. Männer wollen oder müssen sich in ihrer Peer Group vielleicht anders beweisen, sie haben mehr Imponiergehabe und versuchen, immer noch einen Schritt weiter zu gehen - um zu zeigen, wer im Endeffekt der Tollste, der Stärkste ist. Ich denke, das ist evolutionär und gesellschaftlich bedingt.
"Wir wollen unsere Grenzen kennenlernen"
Und wie wirkt sich das Alter aus? Sind Jugendliche tatsächlicher risikiofreudiger als Erwachsene, wie es Unfallzahlen nahelegen?
Richard Musil: Jugendliche sind gefährdeter. Die meisten Studien dazu gibt es zum Straßenverkehr und da müssen junge Erwachsene ja auch ganz andere Versicherungsprämien zahlen. Sie sind zum einen noch nicht so erfahren, aber eben auch nochmal risikofreudiger.
Wir wollen und wir müssen uns in unserer Entwicklung ja erst einmal ausprobieren: Wir wollen in unserer Kindheit und Jugend unsere Grenzen kennenlernen. Mit zunehmendem Alter wissen wir, wo sie liegen, und können uns entspannter verhalten.
"Scheitern" hängt von der Bewertung ab
Gewisse Wagnisse einzugehen ist also unverzichtbar für unsere Entwicklung - müssen wir dabei auch scheitern dürfen?
Richard Musil: Es scheint, dass wir Menschen in unserer Entwicklung einen Vorteil hatten, weil wir Sachen ausprobiert und besser oder schlauer gemacht haben als die Wesen um uns herum. Es gab immer einen, der etwas Neues gewagt und so Neues erschlossen hat. Wäre Kolumbus nicht bereit gewesen, über das Meer zu fahren, hätten wir Amerika nicht "entdeckt".
Es muss immer wieder jemanden geben, der neugierig ist und etwas wagt, damit wir uns weiterentwickeln können. Damit kann natürlich auch ein Scheitern einhergehen. Es muss aber nicht gleich ein Scheitern sein, wenn ich etwas versuche und es nicht sofort klappt.
Hier spielt die jeweilige Bewertung eine große Rolle: Vermittelt das Umfeld gerade in der Kindheit, dass es nicht so schlimm ist, wenn etwas nicht gelingt, dann sind wir eher bereit, etwas auszuprobieren. Erhält ein Kind dagegen die Rückmeldung, "das war ein wirklich tiefes Scheitern", kann es verunsichert werden und wird weniger Neues wagen.
Grenzen setzen - realistisch sein können
Manchmal sagt man, mit Risikobereitschaft versuchen Menschen, andere Dinge zu kompensieren. Stimmt das?
Richard Musil: Sehen Sie sich kleine Kinder an: Die sind wahnsinnig neugierig, wollen überall hin, klettern überall hoch. Sie können Gefahren überhaupt nicht einschätzen. Sie sollten gesunde Grenzen gesetzt bekommen. Klappt das gut, schätzen sie später ihre Grenzen insgesamt realistisch ein. Es ist also ganz wichtig, dass Eltern Kindern Grenzen setzen und ihnen Anleitungen geben, damit Kinder ein realistisches und gesundes Maß für sich entdecken können.
Klappt das nicht gut, kann ein extremer Kick entstehen - oder Lust am Abenteuer, die woanders gefehlt hat, weil sich Selbstwertgefühl und Bindung nicht gut entwickelt haben. Dann kann es sein, dass Menschen über ihre Grenzen hinausgehen und nicht auf sich achten. Dann ist ihnen vieles egal, sie trinken übermäßig oder gehen in riskante Situationen hinein - um sich oder der Gruppe zu beweisen: "Ich kann etwas!"
"Aufmerksamkeit richtig fokussieren"
Wie riskant ist Routine? Sind wir gar besonders gefährdet, wenn wir uns gerade richtig sicher fühlen?
Richard Musil: Das scheint so zu sein. Wir brauchen Routine, denn wir können nicht bei allen Aufgaben ständig so aufmerksam sein wie beim ersten Mal. Es ist toll, dass wir "automatisch" gehen oder autofahren können. Ohne Routine würde man vieles gar nicht schaffen.
Es ist wichtig, einzuschätzen, wo Aufmerksamkeit gefordert ist und wo potentzielle Gefahr droht. Aufmerksamkeit muss auf die richtigen Stellen fokussiert sein. Viele Unfälle im Straßenverkehr ereignen sich zum Beispiel kurz vor dem Ziel. Da ist man gedanklich bereits angekommen, steht aber noch nicht - und schon ist es passiert.
"Auf die eigenen Kräfte vertrauen"
Den meisten von uns geht es ziemlich gut – zugleich sehen wir überall Gefahren und werden unsicherer. Beispiel Familie: Seit annähernd zwei Millionen Jahren gelingt es uns, Kinder zu erziehen, ohne dass allzu viel schief läuft. Trotzdem scheinen wir Massen von Erziehungsratgebern zu brauchen. Sind wir zu vorsichtig geworden?
Richard Musil: Aufgrund unserer informationstechnologischen Möglichkeiten stehen wir an einer neuen Stelle. Wir können uns über alles in der Welt informieren; wir können längerfristige und globale Risiken dadurch besser abschätzen. Das kann aber auch zum Eindruck führen, jederzeit könne etwas Schlimmes passieren. Leider wird immer mehr von Katastrophen und Gefahren berichtet als von Einzelschicksalen, wo etwas wunderbar geklappt hat. So entsteht der Eindruck, dass überall Gefahren lauern und wir für noch mehr Sicherheit sorgen müssen.
Ich glaube, wir brauchen vielleicht eine neue Einstellung: Wir müssen neues Vertrauen in unsere Kräfte entwickeln!
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH