„Es ist wirklich fünf nach zwölf“
Bessere Bezahlung und Imagewandel für die Sozialberufe gefordert
Sie werden händeringend gesucht – ausgebildete Fachkräfte in der Pflege, aber auch Erzieher und andere Vertreter der Gesundheits- und Sozialberufe. Doch der Markt ist leergefegt und die Stellen können oft nur unter großen Anstrengungen besetzt werden. Dabei soll der Bedarf an dieser Berufsgruppe sogar noch steigen. In der Pflege beispielsweise gehen Studien davon aus, dass wegen des demographischen Wandels in den nächsten Jahren in München zehntausende Pflegekräfte fehlen werden. Trotzdem entscheiden sich viel zu wenige Menschen für eine Ausbildung in den Sozialberufen und Fachkräfte steigen bereits nach wenigen Berufsjahren aus. Hier Abhilfe zu schaffen, sahen die Gesprächspartner des Sommergesprächs im Hirschgarten als eine der größten Herausforderungen für die Gesellschaft an. Warum die Situation so ist und wie man sie verbessern könnte, darüber haben die Münchner Wochenanzeiger mit Doris Löhr, Einrichtungsleitung des neuen Evangelischen Pflegezentrums Sendling, Krankenschwester Veronika Simon, ehemalige Krankenschwester und Journalistin Anna Haugg, Krankenpflegerin mit Schwerpunkt Demenz, Angelika Porch und den Politikern Dr. Manuela Olhausen, Referentin im Gesundheitswesen und CSU-Stadträtin, Landtagskandidat Daniel Föst, Vorsitzender der FDP München sowie Bezirksrat und Florian von Brunn, SPD-Landtagskandidat und IT-Berater diskutiert.
„Es ist wirklich fünf nach zwölf“, erklärte die Einrichtungsleiterin des neuen Evangelischen Pflegezentrums Sendling, Doris Löhr. „Unser größtes Problem ist der Pflegenotstand." Angesichts dieser Situation freute sie sich, dass bei unserem Sommergespräch im Hirschgarten „endlich einmal“ das Thema der fehlenden Fachkräfte in den Gesundheits- und Sozialberufen in die Öffentlichkeit gerückt wird. Krankenschwester Veronika Simon arbeitet seit 30 Jahren in diesem Beruf. Derzeit ist sie in der ambulanten Pflege tätig. „Ich könnte mir keinen anderen Beruf vorstellen. Der Umgang mit Menschen macht mir Spaß und gerade in der ambulanten Pflege hat man große Freiräume, um die Arbeit selbst zu gestalten“, erklärt sie. Das sieht Angelika Porch, Krankenpflegerin, die sich um Demenzkranke und deren Angehörige kümmert, ebenso.
Breites Berufsfeld
Beide haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass der Beruf in der Gesellschaft keinen hohen Stellenwert habe. Wenn die Pflegekräfte erzählen, dass sie in der Altenpflege tätig sind, bekämen sie oft die mitleidige Antwort zu hören: „Ach Gott, Hintern wischen“. Veronika Simon bedauert, dass viele glaubten, dass dies die Hauptaufgabe in der Pflege sei. „Sicher gehört das dazu, aber das ist doch nicht alles, sonst würde ich selber auch nicht in diesem Beruf arbeiten." In der Öffentlichkeit sei nicht ausreichend bekannt, dass es sich bei den Sozial- und Gesundheitsberufen um anspruchsvolle Tätigkeiten mit Perspektiven und einem breiten Berufsfeld handele. „Du kannst Intensivschwester werden, OP-Schwester, Pflegedienstleiterin und auch studieren“, zählte Dr. Manuela Olhausen (CSU) auf.
Viel Idealismus
Dem angeblich negativen Image des Berufs setzten die Politiker am Biergartentisch andere Erfahrungen entgegen. SPD-Landtagskandidat Florian von Brunn: „Bei Kommunalwahlen erleben wir aber, dass die Menschen, die Krankenschwester, Altenpfleger oder Kindergärtner sind, immer Superergebnisse haben“ und FDP-Landtagskandidat Daniel Föst bestätigte: „Da muss ich Florian von Brunn recht geben. Ich glaube, dass Sozialberufe nach oben gehäufelt werden, weil die Wähler einen enormen Respekt gegenüber diesen Berufen haben“. Auf der einen Seite erkenne man an, dass etwas geleistet wird, auf der anderen Seite weiß man, dass das ein Beruf ist, der einen hart beansprucht und schlecht bezahlt wird, folgerte Brunn. Das sah Simon genauso. „Man muss viel Idealismus mitbringen, denn der finanzielle Aspekt des Berufs ist nicht so gut."
Bezahlung ist schlechter geworden
Das war auch mit ein Grund für Anna Haugg, dass sie vor über 20 Jahren ihren Beruf aufgegeben hat. „Ich habe gemerkt, dass ich in diesem Beruf nicht ein ganzes Leben lang arbeiten kann und will und mit dem Einkommen in München nicht leben kann." Die finanzielle Situation in der Pflege habe sich seit dem sogar verschlechtert. Haugg: „Mitte der 80er Jahre hatte es geheißen, wenn keiner die Pflege macht, dann müssen sich die Konditionen der Bezahlung ändern. Die haben sich auch geändert, aber zum Schlechten." Früher wurde nach „BAT“ (Bundesangestelltentarif) bezahlt. „Nach zehn Berufsjahren hatte man ein paar 100 Euro mehr in der Tasche“. Mit dem neuen TVöD (Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst) habe sich die Bezahlung massiv verschlechtert. Jedes Mal, wenn man den Arbeitgeber wechselt, fange man praktisch beim Einsteigerlohn wieder an. Brunn fügte hinzu, dass in vielen Bereichen „ordentliche Arbeitsbedingungen fehlten“. Scheinselbstständigkeit sei inzwischen Standard.
Finanzielle Anreize für Mangelberufe
Das Phänomen, dass Fachkräfte in den Sozialberufen nicht bis zum Rentenalter ihren Beruf ausüben, ist verbreitet. Löhr nannte der Tischrunde die Gründe: „Das ist eine körperlich schwere und psychisch belastende Arbeit. Dann noch die Schichtarbeit, der ständige Wechsel, das ständige Einspringen. Das hält man keine 40 Jahre aus." Für Krankenpflegerin Porch ist der Grund, dass viele vorzeitig aus dem Beruf aussteigen, dass oft nicht hinterfragt werde, warum man sich für diesen Beruf entscheidet. „Ich erinnere nur an Schlecker, hier sollten die arbeitslosen Frauen Erzieherin werden. In den Sozialberufen sind viele zum Beruf gekommen wie die Henne zum Ei. Einfach weil sie in den Beruf hineingeredet wurden, um einen Mangel auszugleichen."
Es sei durchaus sinnvoll, finanzielle Anreize für die Berufe zu geben, in denen großer Personalmangel herrsche, meinte Föst. Einig war sich die Hirschgartenrunde, dass ausgebildete Fachkräfte in ihrem Beruf gehalten werden müssten. Wie man das erreichen könne, darüber herrschten allerdings unterschiedliche Auffassungen. „Wenn die Bezahlung stimmt, dann steigt das Selbstbewusstsein und die Leute reden in ganz anderer Weise über ihren Beruf. Wenn ich überlastet und schlecht bezahlt bin, habe ich ein geringeres Selbstbewusstsein“, mutmaßte Brunn. Um Geld ins System zu bekommen, forderte er eine Bürgerversicherung, in die alle einzahlen sollten. „Wir haben derzeit das Problem, dass immer mehr nicht einzahlen und aus den Sozialversicherungssystemen rausfallen.“
Für Föst ist die derzeitige Pflegeversicherung „eine Art Teilkaskoversicherung“. Er forderte, dass die private Vorsorge gestärkt werde. „Wir werden nicht darum kommen den Pflegesatz anzuheben." Olhausen regte an, beispielsweise für die Pflegekräfte eine Pflegekammer einzurichten, „um ihnen eine Stimme zu geben“. So könnten sie sich besser bei Tarifverhandlungen behaupten. Sinnvoll wäre es auch den Flächentarifvertrag aufzuweichen. „Wenn man in Schwerin davon gut leben kann, kann man davon in München noch lange nicht leben. Sie forderte für München Konzepte, um das Problem der teuren Mieten zu lösen. „Wir müssen Personalwohnungen fördern." Vertreter von Sozialberufen würden häufig aus der Stadt ziehen, weil sie sich in München nicht über Wasser halten könnten. Ob Tarifverhandlungen das Problem lösen könnten, bezweifelte Vöst: „Man sieht doch bei den großen Tarifverträgen, dass da die kleineren Gruppen hinten runter fallen. Ich halte betriebliche Vereinbarungen für viel wichtiger."
Bürokratie um 50 Prozent zurückfahren
Einig war sich die Tischrunde dagegen, dass Sozialberuflern ihr Beruf erleichtert werden könnte, durch den Abbau der Bürokratie. „Wer einen Sozialberuf hat, möchte schließlich mit Menschen arbeiten. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir die Bürokratie zurückfahren müssen“, mahnte Vöst. Es komme vor, dass man für 21 Minuten Pflege 15 Minuten für die Dokumentation brauche. „Das ist doch absurd. Die Ergebnisse müssen schon kontrolliert werden, aber nicht indem tonnenweise Papier produziert wird." Simon stimmte zu: „Das ist Energieverschwendung, die könnte man sinnvoller verwenden." Löhr forderte, dass die Dokumentation „um mindestens 50 Prozent“ reduziert werden müsste. Man sehe es den Bewohnern doch an, ob sie gut gepflegt seien, sagte Löhr. „Da kann man die Fingernägel anschauen, die Hautfarbe, das Gewicht und auch noch das Zimmer."
Keine Ausbildung „Pflege light“
Heftig diskutierte die Tischgruppe über die Situation, dass zunehmend Fachkräfte aus dem Ausland akquiriert werden, um den Fachkräftemangel auszugleichen. Brunn gab zu bedenken, dass die Abschlüsse und Qualifizierungen der deutschen Pflegekräfte nicht durch eine „Ausbildung Pflege light“ abgewertet werden dürften. Außerdem drohe die Gefahr einer Billigkonkurrenz auf dem Pflegemarkt. Es könne nicht die Lösung sein, dass osteuropäische Kräfte den Personalmangel ausgleichen, meinte Olhausen. Schließlich würden diese Kräfte dann in ihrer Heimat fehlen. Außerdem hätten sie oft schlechte Deutschkenntnisse. „Gerade wenn man mit Menschen zu tun hat, ist Sprache besonders wichtig.“
Grundsätzlich sei es aber richtig, dass bürokratische Hürden abgebaut werden sollten. Das beginne bereits bei der Ausbildung. Vöst: „Wir müssen die Eintrittsbarrieren in diesen Beruf möglichst niedrig halten." Ein richtiger Ansatz sei gewesen, dass zum neuen Schuljahr das Schulgeld für Pflegeakademien abgeschafft worden ist.
Ob eine Akademisierung oder Weiterqualifizierungen dem Image der Sozialberufe nützen würde, fragten die Münchner Wochenanzeiger. Für die Erzieher treffe dies zu, meinte Brunn. Das hätten die skandinavischen Länder gezeigt, die mehr in Fachhochschulen ausbilden würden. „Insgesamt haben sie geschafft, dass diese Berufe nicht nur besser bezahlt werden, sondern auch anerkannt werden." Für Olhausen bedeutet eine Akademisierung vor allem, „dass sie mehr Geld bringt“. Es sei „ein Witz“ was Erzieher mit ihrer fünf Jahre dauernden Ausbildung verdienten. Doris Löhr beurteilte eine Akademisierung dagegen skeptisch: „Unser Grundprobleme sind die Fachkräfte am Bett, die unsere Senioren betreuen. Ich kann kein Pflegeheim halten mit nur Führungskräften."
Mit 30 Kindern durch München
Unsere obligatorische Frage am Schluss: „Sie haben die Aufgabe eine Schulklasse mit 30 Kindern durch München zu führen. Mit welchem der Anwesenden könnten Sie sich das vorstellen?“ Löhr: „Ich kenne alle zuwenig." Haugg: „Ich habe mit Kindern keine Erfahrung, deswegen würde ich eine Mutter mitnehmen und zwar die Frau Simon." Simon: „Und ich würde aus einem Bauchgefühl heraus die Frau Haugg mitnehmen." Sowohl Vöst als auch Olhausen möchten Doris Löhr mitnehmen. Beide würden dann mit den Kindern auch deren Pflegeeinrichtung besichtigen. Vöst: „Man sollte die Kinder frühzeitig für das Thema sensibilisieren." Olhausen: „Es schadet nicht, wenn die Kinder erleben wie eine Pflegeeinrichtung ausschaut." Brunn äußerte grundsätzliche Vorbehalte gegenüber der Aufgabe: „Eine Klasse mit 30 Schülern, ist viel zu groß und deswegen würde ich Herrn Vöst und Frau Olhausen mitnehmen, damit sie erleben, dass wir in Bayern viel kleinere Klassen brauchen." Angelika Porch hätte gerne die beiden Männer der Tischrunde dabei, „damit es geschlechtlich gut aufgeteilt ist“. Vöst versprach daraufhin ordentlich mitanzupacken: „Ich kann fünf Kinder gleichzeitig tragen."
Statement Margarete Bause, Spitzenkandidatin der Bayerischen Grünen
"Gute und menschenwürdige Pflege ist eine der großen Aufgaben unserer Gesellschaft. Die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte, ihre gesellschaftliche Anerkennung und Entlohnung müssen entscheidend verbessert werden. Nichtärztliche Berufsbilder wollen wir aufwerten und pflegende Angehörige z.B. durch den Ausbau von flexibleren Betreuungsangeboten unterstützen. Damit gute Pflege für alle finanzierbar ist, fordern wir eine „Pflege-Bürgerversicherung", die alle Einkommensarten an der Finanzierung der Pflege beteiligt."
Was denken Sie?
Was denken Sie über die Entwicklung im Gesundheitswesen und Sozialbereich? Schreiben Sie uns Ihre Meinung per Mail an leser@muenchenweit.de oder per Post an Wochenanzeiger Medien GmbH, Redaktion, Fürstenrieder Str. 11, 80687 München.
Unser nächstes Sommergespräch
Das geflügelte Wort "Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau" lässt sich andersherum leider nicht anwenden. Was haben erfolgreiche Frauen für ein Erfolgsrezept? Sind weibliche Führungskräfte anders als ihre männlichen Kollegen? Erfolgreiche Frauen sind die Gäste bei unserem nächsten Sommergespräch. Lesen Sie mehr im Samstagsblatt.
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH