Erfahrung trumpft auf
Lokaler Handel: Den Spieß einfach umdrehen!
Sie zahlen Steuern, sie schaffen Arbeitsplätze und sie bilden aus: Die Einzelhändler vor Ort sind wichtige Pfeiler für unsere Viertel und Gemeinden. Doch die Steigerung der Umsätze geht allein auf das Konto des Online-Handels. Hier verzerren Giganten wie Amazon und Zalando den Wettbewerb, denn sie flüchten in "Steueroasen" oder schöpfen Subventionen ab. In unserer vorigen Ausgabe haben wir die Stärken und die Bedeutung des Einzelhandels vor Ort aufgezeigt. Auch unsere "Trümpfe" erzählen, warum sie den "Laden nebenan" für unverzichtbar halten.
Ulrike Mascher: "Das Internet ist keine Alternative"
In den Läden eines Viertels finden sich mehr als die angebotenen Waren, hier entsteht auch eine menschliche Infrastruktur, die das Millionendorf München prägt, in dem auch immer mehr Ältere zu Hause sind. Es ist der Bäcker, der weiß, dass man die Brezen mit wenig Salz und trotzdem dunkel mag. Die Kassiererin im Supermarkt, die gelassen bleibt, wenn man etwas länger in der Börse nach dem Geld kramt. Der nette Grieche im Lottogeschäft, der jeden Freitag sagt, dass es diesmal sicherlich der Jackpot wird. Die zwei Herren, die jeden Tag beim Morgenkaffee am Kiosk darüber debattieren, ob Bayern oder Sechzig der beste Münchner Verein ist, während man seine Tageszeitung kauft. Die Buchhändlerin, die extra den neuesten Kluftinger-Krimi zurücklegt.
Senioren trifft es besonders hart
Und wer wie viele Ältere nicht mehr täglich in die Arbeit fährt, kein Auto mehr hat und vielleicht alleine lebt, schätzt dieses alltägliche Stück Zwischenmenschlichkeit beim täglichen Einkauf besonders. Die Verödung mancher Viertel, weil die Läden schließen, trifft Seniorinnen und Senioren deshalb besonders hart. Übers Internet einzukaufen, ist keine Alternative. Nicht weil Ältere das nicht mehr lernen können, sondern weil sie lieber den Händler um die Ecke unterstützen wollen als einen anonymen Versandhandel.
Clevere Händler setzen also auf eine ältere Kundschaft und investieren in eine generationenfreundliche Ausstattung ihrer Läden. So gewinnen sie treue und zuverlässige Kundinnen und Kunden, deren Kaufkraft auch nicht zu unterschätzen ist. Mein Rat an den städtischen Einzelhandel lautet also: Werden oder bleiben Sie attraktiv für diesen Kundenkreis – er wird es Ihnen danken.
Winfried Bürzle: "Der Mensch bleibt analog"
Plötzlich schwarze Mattscheibe! Gibt mein alter Röhrenfernseher doch glatt seinen Geist auf. Und das pünktlich vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika. Na bravo! Grad jetzt, da die Geräte teuer sind. Aber jammern hilft nicht.
Also gehe ich auf die Suche nach einem Ersatz. Nach über 20 Jahren „Röhre“ soll es was Modernes sein, ein Flachbildfernseher. Rein ins Internet, rein in die großen Elektronikmärkte, informieren, vergleichen, gut beraten lassen, entscheiden.
Und dann schlage ich zu. Nein, nicht im Netz und auch nicht im Elektronikmarkt. Bei meinem Elektro-Einzelhändler um die Ecke! Er macht mir auf Nachfrage denselben Preis wie der Großhändler oder das Internet. Liefert mir zu einem fairen Aufpreis das Gerät, schließt es an, stellt die Kanäle ein, entsorgt meine schwere alte „Kiste“.
Fürs Überleben sorgen
Wie oft hören wir die Geschichte vom „beraten lassen“ im Fachhandel und „zuschlagen“ im Internet? Ich habe den Spieß damals einfach umgedreht Nein, ich bin kein „Gutmensch“. Nur einer, der abwägt und sein Handeln ein wenig hinterfragt. Ich will, dass es auch weiterhin Geschäfte gibt, dass es Menschen gibt, die uns beraten, uns helfen. Dann muss ich auch dafür sorgen, dass sie überleben können.
Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Auch ich bestelle mal im Internet. Weil ich etwas Banales wie einen Vordruck brauche, aber keine Zeit und Lust habe, deswegen quer durch die Stadt zu fahren. Aber regelmäßige Einkäufe? Nein danke!
Macht geht zu weit
Es gibt viele Gründe: Da ist die zunehmende Monopolstellung weniger Online-Versandhändler, deren Macht mir zu weit geht. Die sich teilweise um die Steuer ebenso drücken wie um die Rechte ihrer Arbeitnehmer. Da ist das drohende Ende des Einzelhandels, der mich berät, der repariert, der junge Menschen ausbildet, der Umsatz- und Gewerbesteuer entrichtet. Da ist das Stadtbild, das öde wäre ohne die Vielzahl der Läden und Geschäfte, das keine Menschen mehr kennt, die durch die Straßen flanieren. Und: Da ist die sinnliche Erfahrung!
Einen Rechnungsblock muss ich vielleicht nicht „erfahren“. Den Kugelschreiber aber will ich testen. Schuhe will ich anprobieren, darin gehen, das weiche Leder spüren. In ein Sakko will ich schlüpfen, den Stoff anfassen, mich im Spiegel betrachten, von der Verkäuferin überzeugen lassen, dass mir das Blau besser steht als das Grau. Obst, Gemüse und Fleisch will ich an der Theke und nicht auf einer Hochglanz-Fotomontage sehen, will fühlen, anfassen, riechen, bevor ich mich zum Kauf entschließe.
Die sieben Sinne bewahren
Der Volksmund bezeichnet einen Menschen, der etwas verrückt, eigenartig oder unvernünftig ist als jemanden, der seine sieben Sinne nicht beisammen hat.
Bewahren wir uns unsere sieben Sinne. Bei allen angenehmen Seiten, die uns die virtuelle Welt beschert: Längst reden wir ja von der Welt 3.0. Mag sein. Der Mensch aber ist aus Fleisch und Blut. Er bleibt analog, er bleibt 1.0. Und das ist gut so!
Ingrid Appel: " Wir Älteren sind die Leidtragenden"
In unserem Wohn- und Ladenzentrum steht schon wieder ein Laden leer. Dies belastet uns Bewohner, insbesondere die älteren sehr. Nicht nur, dass wir dort nicht mehr spontan einkaufen können und den Einkauf gleich mit nach Hause nehmen können. Auch fehlt uns die Beratung, ob uns die Sachen stehen oder ob sie gekürzt oder verändert werden müssen, ob die Geschenke für Jung oder Alt geeignet sind und welche Qualität man für unser Geld bekommen kann. Man konnte die Ware selbst berühren und die Qualität vergleichen. Was nicht vorrätig war, wurde kurzfristig besorgt, Geschenke nett verpackt. Am Samstag oder am Feierabend traf man sich auf einen unverbindlichen Ratsch und überzeugte sich ohne Kaufzwang vom Angebot.
Kleingeräte gibt es auch nicht mehr, keiner kommt schnell in der Mittagspause oder nach Feierabend und schließt uns ein Gerät an oder programmiert es. Wir Älteren sind die Leidtragenden, weil wir kein Internet haben und die großen Verkaufshäuser kaum Service- und Beratungspersonal haben.
All die kleinen Läden geben auf, weil sie die Miete nicht mehr zahlen können. Der Gewinn ist eingebrochen, weil insbesondere die Jüngeren im Internet einkaufen. Natürlich ist dies für Berufstätige eine Erleichterung, aber das Hin- und Herschicken belastet nicht nur Verkehr und Luft.
Schlimm ist, dass sich viele in den Läden informieren und zeitintensiv beraten lassen, um dann im Internet zu kaufen. Dann sehen wir, besonders in der Weihnachtszeit die Paketbriefträger die riesigen Pakete schleppen. Der Verpackungswahnsinn ist ein weiteres Thema. Die Ware steckt in riesigen Paketen, obwohl eine kleine Verpackung ausreichend wäre, nur um das Stapeln beim Transport zu erleichtern.
Nun sind wir gespannt, wer diesen leeren Laden mietet. Es wird wohl wie meist ein Telekommunikationsladen sein.
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