„Ein klein Stück Brot“
Ehemalige Zwangsarbeiterin besucht Lager
„ Gib mir ein Kartoffel oder ein klein Stück Brot“, diesen deutschen Satz kann Anna Wladimirnowna auch nach vielen Jahrzehnten noch ohne Überlegen aufsagen. Die 86-Jährige ist eine der letzten bekannten Zeitzeuginnen des Zwangsarbeiterlagers in Neuaubing. Das NS-Dokumentationszentrum München hatte die heute in Riga lebende Dame mit ihrer Tochter an den Ort eingeladen, an dem sie als junges Mädchen Zwangsarbeit leisten musste, um von ihr mehr über die Zeit im Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) in Neuaubing zu erfahren. Von 1944 bis 1945 war die 1931 in Russland Geborene mit ihrer Mutter und zwei Schwestern im Zwangsarbeiterlager untergebracht.
Nach all den Jahren sind die Erinnerungen an vieles zwar verblasst, an einiges konnte sich die Dame bei ihrem Rundgang durch das Lager aber noch sehr gut erinnern. 1943 wurde die kleine Anna mit ihrer Familie in Güterwaggons nach Deutschland verschleppt. In einem Interview, das bereits in Riga geführt worden war, hatte sich die Zeitzeugin erinnert: "Man trieb man uns über die Landstraße, in großen Kolonnen liefen wir. Die Wachleute schrien, dass wir schneller laufen sollten, dass niemand trödeln sollte. Aber ich kann mich nur erinnern, dass ich langsamer war als meine Mutter und der Wachmann schlug mich dann."
Die 13-Jährige kam in die Ehrenbürgstraße, in eines der damals 400 über ganz München verteilten Lagerunterkünfte. Es sollte das einzige bleiben, das heute noch existiert. 70 Jahre später haben sich die Gebäude des einzigen noch erhaltenen Barackenlagers in Süddeutschland kaum verändert. Die bedrückende Atmosphäre des Arbeitslagers ist jedoch einer kreativen Leichtigkeit gewichen. Künstler haben in den Baracken ihre Ateliers eingerichtet, in einem ist ein Kindergarten untergebracht und seit einigen Monaten ist auch die letzte leerstehende Baracke 5 von der Stadt renoviert worden. Hier soll spätestens 2019 ein „Erinnerungsort“, als Dependance des NS-Dokumentationszentrums entstehen. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter sollen im Mittelpunkt der künftigen Ausstellung stehen.
Hunger und harte Arbeit
1942 war das Zwangsarbeiterlager von der Reichsbahn am Rande des Stadtteils Neuaubing errichtet. Der Alltag war hart. Anna Wladimirnowna hatte immer großen Hunger. Ab und zu schlüpfte das Mädchen mit einem Freund unter dem Zaun hindurch. In den benachbarten Wohnhäusern gingen sie zum Betteln. Oft hätten sie auch etwas bekommen.
Die 86-Jährige erinnert sich noch gut an ihre müden Hände. Sie war an der Werkbank eingesetzt und musste Draht einspannen und zerschneiden sowie große Metallteile feilen. Während des Zweiten Weltkriegs gab es etwa 1.000 Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, Polen, Italien, den Niederlanden, Frankreich und Tschechien, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche. Sie verrichteten im wenige Gehminuten entfernten Ausbesserungswerk der Reichsbahn schwerste körperliche Arbeit. Nach der Befreiung starb die Mutter in Germering an den Folgen der harten Jahre und das Mädchen kehrte als Waise zurück in die Heimat.
Weitere Zeitzeugen gesucht
Für die Ausstellung sucht das NS-Dokumentationszentrum weitere Zeitzeugen. Bisher besteht Kontakt zu 50 Familien, die Informationen zu ehemaligen Zwangsarbeitern geben konnten. Neben Anna Wladimirnowna konnten noch zwei Russinnen und zwei Italiener als ehemalige Bewohner des RAW-Lagers ausfindig gemacht werden. Biografien wurden ermittelt, Audio- und Fiminterviews geführt. Die Verantwortlichen hoffen aber auf weitere Informationen der Aubinger, die dazu beitragen könnten, Schicksale aufzuklären und an die damalige Zeit zu erinnern.
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