Die Software entscheidet, nicht der politische Wille
Neue Technik erschwert öffentliche Debatten / Bürgergremium kapituliert vor "Hybrid"
Seit März können Tagungen von Gemeinderäten und Bezirksausschüssen in Form von "Hybridsitzungen stattfinden. Das bedeutet, dass nicht mehr alle Mandatsträger bei den Sitzungen vor Ort anwesend sein müssen, sondern sich auch über Laptop & Co. von Zuhause aus zuschalten können. So sollen in der Pandemie Menschen vor Ansteckung geschützt werden. Innenminister Joachim Herrmann sieht noch mehr Vorteile: „Mit dieser Änderung wollen wir gleichzeitig auch die Vereinbarkeit eines kommunalen Mandats mit Familie und Beruf verbessern", sagte er. Auch vor Ort hielt man dadurch mehr Teilhabe für möglich: Christina Hesse (Grüne) bewertete im Sendlinger Bezirksausschuss virtuelle Sitzungen wie z.B. über Livestream als Weg, trotz Familie oder schlechter Mobilität an den politischen Prozessen im Viertel teilzunehmen. Ein "Signal für die Digitalisierung" erhoffte sich Richard Panzer im Bezirksausschuss im Münchner Süden von virtuellen Sitzungen. Die nötigen digitalen Instrumente seien längst vorhanden, drängte Korbinan Werner (Grüne, Sendlinger Bezirksausschuss).
Technik schließt Bürger aus
Doch auch in der schönen neuen digitalen Welt steckt der Teufel im Detail: Als einer der ersten Bezirksausschüsse in München versuchte sich der BA Sendling-Westpark Anfang Juli an einer Hybridsitzung. Doch nicht einmal alle 27 BA-Mitglieder hätten von der virtuellen Zuschaltung profitieren können - und andere Sitzungsteilnehmer wie Bürger oder Vertreter von Vereinen, Polizei und Behörden (deren Gesundheit in der Pandemie gleichermaßen schützenswert ist) erst recht nicht.
Kameras zwacken Plätze ab
Günter Keller (Vorsitzender des Bezirksausschusses Sendling-Westpark, BA 7) erklärte vor dieser Pionier-Sitzung den Haken: "Eine der Regeln ist, dass die virtuell teilnehmende BA-Mitglieder sichtbar sein müssen. Im BA 7 sind wir 27 Mitglieder. Wenn im Saal eine Kamera zum Einsatz kommt, können nur noch 24 BA-Mitglieder virtuell dabei sein und wenn der BA vollzählig teilnimmt, müsste dann 3 BA-Mitglieder in Präsenz teilnehmen und von der einen Kamera aufgenommen werden. Es gibt da natürlich eine Vielzahl von möglichen Kombinationen, wenn zwei oder mehrere Kameras eingesetzt werden. Aber jede Kamera im Sitzungsaal zwackt einen Platz der virtuell verfügbaren Plätze ab."
Das Tool setzt die Grenzen
Die erhoffte breitere Teilhabe am politischen Geschehen im Viertel hat die digitale Technik also nicht gebracht. Stattdessen setzt ein US-amerikanisches Unternehmen den Münchner Bürgern engere Grenzen: "Die zahlenmäßige Begrenzung kommt von dem eingesetzten Tool (Webex) das derzeit gleichzeitig nur ein Raster von maximal 25 Personen darstellen kann", so Keller. Deshalb werde man im BA 7 bis auf weiteres nur BA-Mitglieder virtuell an Sitzungen teilnehmen lassen.
Öffentlichkeit ausgeklammert
Für die seit März geltenden Regelungen für Hybridsitzungen spielt die Öffentlichkeit ohnehin keine Rolle, erklärte Matthias Kristlbauer (Landeshauptstadt München). Der Landtag hat bei seinem Schritt in die digitale Welt nur die Mandatsträger mitgenommen: "Die gesetzlichen Bestimmungen regeln nur die audiovisuelle Sitzungsteilnahme der Gremienmitglieder", so Kristlbauer. "Sie treffen hingegen keine Aussage, unter welchen Voraussetzungen auch eine öffentliche Übertragung per Livestream möglich ist."
Während die Mandatsträger ihr Infektionsrisiko durch "Zuschalten von Zuhause" minimieren können, bleibt für "normale" Bürger nur der Weg, vor Ort an der öffentlichen Sitzungen teilzunehmen und sich darauf zu verlassen, dass dort alle alle Hygieneregeln einhalten.
Im selben Boot
In den meisten Bezirksausschüssen sitzen Mandatsträger, Gäste und Zuhörer aber nach wie vor im gleichen Boot - gemeinsam im Sitzungssaal vor Ort. Anders als der BA 7 lassen diese Bürgergremien die Finger von Hybridsitzungen. Sie schrecken auch vor der Abhängigkeit von der Technik zurück. "Ich wäre schon froh, wenn mein Beamer funktioniert", sagte der Vorsitzende eines Bezirksausschusses neulich dazu.
Kümmerliche Teilhabe
Gut funktioniert hat die Technik bei der ersten Hybridsitzung des Bezirksausschusses Sendling-Westpark. Vor Ort blieb das Interesse hingegen kümmerlich: Nur noch zwei Lokalpolitiker waren "in echt" gekommen, nur ein einziger Bürger aus dem Viertel nahm teil.
Ähnlich lückenhaft auch das Bild bei der Bürgerversammlung fürs Westend vor den Sommerferien: Sie war die erste, die als Livestream übertragen wurde. Vor Ort in den Circus Krone waren dazu nur noch gut drei Dutzend Menschen gekommen. Mehr Teilhabe als bei früheren Versammlungen brachte auch das Online-Zuschalten nicht: Gerade einmal 60 Zuschauer ließen das Geschehen über Bildschirme daheim mitflimmern.
Technik zwingt Bürger in die Knie
Ein echtes Desaster wurde die zweite Hybrid-Sitzung des Bezirksausschusses Sendling-Westpark: Als dieser Ende Juli öffentlich tagen wollte, zwang die virtuelle Technik das Bürgergremium in die Knie. Weil die extern zugeschalteten Mandatsträger ihre Kollegen vor Ort nicht hören konnten, wurde die Tagung nach knapp anderthalb Stunden abgebrochen. Das Bürgergremium kapitulierte vor den nicht in den Griff zu bekommenden technischen Problemen. Weil davon auch die zuvor getroffenen Entscheidungen (z.B. über ein neues Gerät am Spielplatz Fernpaßstraße) beeinträchtigt waren, muss nun geklärt werden, ob diese überhaupt rechtsgültig sind.
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