"Die Leute kaufen wieder bewusster ein"
Von lebendigen Geschäften in der Nachbarschaft haben alle etwas
Der Extrabonbon für den Kleinen, das Stück Gelbwurst beim Metzger, der kurze Ratsch mit der Verkäuferin: Das gehörte zum Einkaufen mal dazu. Wie sieht die Zukunft aus? Hetzen Schwärme von anonymen Paketzustellern durch die Straßen, weil es keine Geschäfte mehr in der Nachbarschaft gibt? (Foto: I. Rasche / pixelio.de)
Der Einzelhandel ist in einem tiefgreifenden Wandel. Zuwächse werden nur noch online erzielt. Lokale Händler fürchten um ihre Existenz, Verbraucher um die Nahversorgung im Viertel. Doch gibt es den Konflikt zwischen „lokal“ und „online“ im Handel tatsächlich? „Das war gerade am Anfang durchaus der Fall“, sagt Dr. Martin Aigner. Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Bayern HBE ist der Meinung, dass sich heutzutage jeder mit dem Thema Internet auseinandersetzen müsse. „Daran führt kein Weg vorbei. Viele Einzelhändler sind so nicht nur stationär vor Ort, sondern eben auch online auffindbar.“ Seinen Angaben nach verfügen rund 80 Prozent der Einzelhändler in Deutschland über eine eigene Website. „Darüber hinaus muss jeder selbst überlegen, ob er auch über das Internet verkaufen will. Das machen derzeit noch nicht so viele, es sind ungefähr 30 Prozent. Dabei wird entweder über den eigenen Webshop oder über Plattformen wie Ebay verkauft.“
Die Bedeutung des Online-Handels unterstreicht auch Christian Lüttin. „Für uns ist das Thema Internet eher Chance als Risiko“, erklärt der Geschäftsführer der Galeria Kaufhof am Rotkreuzplatz. „Wir stellen fest, dass immer mehr Umsätze online erzielt werden.“ Natürlich sei es gerade für die kleineren Einzelhandelsgeschäfte bisweilen schwierig, „weil sie oft nicht die Ressourcen und Kapazitäten sowie die finanziellen Möglichkeiten haben, eine Homepage oder sogar einen eigenen Webshop aufzubauen. Das kostet extrem viel Geld und bindet viele Personen.“
"Wir präsentieren uns gemeinschaftlich"
Um unter anderem genau diesem Problem entgegenzuwirken, gibt es in dem einzelnen Stadtviertel immer mehr Zusammenschlüsse von Einzelhändlern, Dienstleistern und Handwerken. „Das mit der eigenen Website kann ich bestätigten“, erklärt Stefanie Hofmann-Lund vom Verein „Wir Sollner“, einer Interessensgemeinschaft, die heuer bereits ihr 20-jähriges Bestehen gefeiert hat. „Über die Homepage versuchen wir die Sollner Einzelhändler zu binden, damit sie online wahrgenommen werden.“ Auf dem Internetauftritt des gemeinnützigen Vereins könne sich jedes der insgesamt 60 Mitglieder darstellen. Als Einzelhändler sei es wichtig, sich auf die neuen Herausforderungen einzustellen. „Unser Ansatz ist es deshalb, auf kurzem Weg auffindbar zu sein“, sagt Stefanie Hofmann-Lund. „Auch die Kunden haben so die Möglichkeit, dass zu finden, was sie für ihren täglichen Bedarf brauchen. Es ist wichtig, dass wir uns gemeinschaftlich präsentieren.“
"In den Viertel muss es urbanes Leben geben"
Dass lokale Betriebe eine große Bedeutung für die Kommunen und auch für die Nachbarschaft haben, ist unbestritten. Sie sorgen für Steuereinnahmen, bieten Ausbildungs- und wohnortnahe Arbeitsplätze und kümmern sich unter anderem auch um das Vereinssponsoring. Umso bedeutsamer scheint es, dass gerade Kommunen wie die Landeshauptstadt München eine lebendige Struktur in den Vierteln unterstützen. „Die Qualität in den Stadtviertel und die direkte Nachbarschaft, die durch eine Nahversorgung entsteht, ist wichtig“, betont Stadtbaurätin Elisabeth Merk. „Das sind Treffpunkte, an denen man sich unkompliziert begegnen kann. Ich bin mir sicher, dass diese Orte zukünftig noch weiter an Bedeutung gewinnen werden.“
Das bestätigt auch Christian Lüttin: „In den Vierteln muss es urbanes Leben geben. Nehmen wir zum Beispiel den Rotkreuzplatz: er ist tatsächlich der Marktplatz von Neuhausen-Nymphenburg.“ Der Geschäftsführer der Galeria Kaufhof verkennt aber auch die Probleme nicht. „In der Donnersberger Straße stehen momentan drei oder vier Geschäfte leer. Da kommt wohl auch nichts mehr nach, weil die Mieten sehr teuer sind.“ Damit der Stadtteil lebenswert bleibe, sei es dennoch wichtig, dort kleine Händler anzusiedeln. Christian Lüttin ist sich sicher, dass die umliegenden Geschäfte von der Galeria Kaufhof am Rotkreuzplatz profitieren. „Es ist wichtig, das Lokale miteinander zu verbinden. Davon haben alle etwas.“
Für Ingeborg Staudenmeyer, die langjährige Vorsitzende des Bezirksausschusses Neuhausen-Nymphenburg (BA 9), liegt das Problem der leerstehenden Geschäfte vor allem in den hohen Mieten begründet. „Diese Gier nach mehr Geld nimmt immer weiter überhand. Das ist unmöglich“, erklärt die Vorsitzende des Münchner Seniorenbeirats. „Es scheitert doch meist am Geld, wenn sich Einzelhändler nicht halten können. Gerade die Mieten in den Altbauten wie etwa in der Donnersberger Straße werden immer teurer.“
"Das ist oft ein harter Kampf"
Um die Einzelhandelsstrukturen in den Stadtteilen zu unterstützen gibt es in München laut Elisabeth Merk unter anderem die sogenannten Zentrenkonzepte. „Aber wir brauchen zusätzlich noch sehr viel kleinteiligere Strukturen in den Vierteln. Und das ist oft ein harter Kampf.“ Die Landeshauptstadt versuche zwar mit den ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten und Maßnahmen zu steuern und zu unterstützen. „Wir brauchen aber auch die privaten Akteure“, weiß die Stadtbaurätin. „Wir können dem Eigentümer eines Hauses, in dem im Erdgeschoss ein Laden war, nicht vorschreiben, wie er weiter mit der Immobilie verfahren will.“ In einigen Stadtteilen, etwa in Pasing, gibt es zudem ein Stadtteilmanagement. „Das zu etablieren war nicht einfach, doch mittlerweile funktioniert es gut.“ Wichtig sei eben das Engagement der Akteure vor Ort. „Wir unterstützen es, wenn sich Initiativen in den Quartieren bilden.“ Insgesamt sei es gerade in einer Stadt wie München aber schwierig, in der Planung die Balance zwischen den übergeordneten Zentrenbelangen wie in der Innenstadt und den kleinteiligen Strukturen in den einzelnen Stadtteilen zu halten.
Hohe Hürden für den Einzelhandel
Wenn der Einzelhandel gestärkt werden soll, dürfe auch das Thema Verkehr nicht ausgespart werden, meint Martin Aigner. „Im Grunde geht es doch darum, wie gestaltet man eine Stadt so, dass der Kunde gerne in die Stadt fährt. Und da können die Kommunen sehr viel tun“, betont der HBE-Geschäftsführer. „Auf der einen Seite gibt es den ÖPNV und hier ist München ganz gut aufgestellt, auch wenn man sich sicherlich einen anderen Takt überlegen könnte. Auf der anderen Seite gibt es im Straßenverkehr sehr viele Baustellen.“ Dies sei in anderen Städten nicht der Fall. Auch die Diskussion um eine blaue Plakette, die Sperrung ganzer Straßen als Einkaufsstraßen oder eine City-Maut findet Martin Aigner kontraproduktiv. „Kann sein, dass das für die Leute, die dort jeweils wohnen, gut ist. Wir Einzelhändler empfinden das ganze alles andere als gut. Je höher die Hürden für den Einzelhandel werden, desto mehr entscheiden sich kleine Händler, ihr Geschäft nicht mehr zu übergeben oder es weiter zu betreiben. Diese Situation haben wir doch jetzt schon.“
Von Seiten der Landeshauptstadt München verkenne man die Probleme nicht. „Mir ist bewusst, dass wir Lösungen finden müssen und dass die Kommunen gefordert sind“, betont Elisabeth Merk. „Aber es kann nicht sein, dass wir in den Quartieren, in denen wir mühsam dafür kämpfen, dass der öffentliche Raum eine Aufenthaltsqualität hat, zum Beispiel großartige Parkplatzanlagen bauen“, so die Stadtbaurätin weiter. „Nur damit alle mit dem Auto in die Zentren fahren können.“
"Das darf nicht verloren gehen"
Planung hin oder her, hat sich nicht aber auch das Einkaufsverhalten und das Bewusstsein der Verbraucher geändert? „Mein Kaufverhalten ist eher produktabhängig anders geworden“, sagt Volksschauspieler und Autor Andreas M. Bräu. „Beim Online-Einkauf versuche ich auch auf regionale Produkte zu achten.“ Dafür seien Initiativen wie „Wir Sollner“ sehr wichtig. „Sie präsentieren sich im Internet und ich als Kunden finde dann einen Laden vor Ort, bei dem ich bewusst einkaufen kann. Oder eben am Rotkreuzplatz: das ist eine schöne lokale Verbindung aus Flagship-Store und vielen kleinen Geschäften drum herum.“ Dem Gymnasiallehrer ist es nach wie vor wichtig, dass Einkaufen auch ein Erlebnis ist. „Und das bieten nur die Geschäfte in den Vierteln. Ich möchte zudem nicht nur den Bezug zu einem regionalen Produkt haben, sondern auch zum Produzenten“, betont Andreas M. Bräu. „Regional einkaufen hat für mich sehr viel mit dem Hersteller zu tun.“
Wie wichtig es ist, Einkaufsmöglichkeiten direkt vor der Haustür zu haben und welchen Stellenwert Produkte aus der Region beziehungsweise der Heimat haben bestätigt auch Leserin Ingrid Fölsl. „Mein Mann und ich kaufen am liebsten vor Ort in den Läden ein. Grundsätzlich ist es so, dass ich das in unserem Viertel auch immer mehr beobachte. Die Leute kaufen wieder bewusster ein. Auch regionale Produkte werden immer mehr gekauft. Das finde ich sehr gut. Es ist ja so: Wer kocht, braucht erstklassige Zutaten. Dann kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Das habe ich auch meinen Kindern immer gesagt.“ Dass jedoch vor kurzem ein Supermarkt in ihrer direkten Nachbarschaft schließen musste, findet sie schade. „Wir sind zwar, was Einkaufsmöglichkeiten betrifft, im Viertel gut aufgestellt, aber der Supermarkt war sehr beliebt – gerade bei den älteren Menschen“, erzählt Ingrid Fölsl. „Da haben die alten Leute ihr Geld zum Teil noch an die Kasse hingelegt und zur Kassiererin gesagt, nehmen sie sich raus, was sie brauchen. Wo gibt es das denn heutzutage noch?“
„Es ist doch eine schöne Vertrauensbasis, wenn man das Geld noch an die Kasse legen kann, damit es sich die Verkäuferin selber nimmt“, findet deshalb Andreas M. Bräu. „Das Gleiche gilt auch, wenn man im Laden vor Ort an der Theke probieren kann, das Kind bekommt das berühmte Radl Gelbwurst, man muss die Klamotten nicht zurückschicken, die ich mir in die Filiale bestellt habe, sondern kann sie im Laden anprobieren und auch zurückgeben. Oder ich gehe in einen Buchladen und weiß noch gar nicht, was ich lesen will. Vor Ort bekomme ich dann einen tollen Tipp von einer lesenden Buchhändlerin.“ Dies dürfe auf keinen Fall verloren gehen.
„Viele Rentner können sich das nicht leisten“
Beim Thema Senioren ist es vor allem Ingeborg Staudenmeyer wichtig, das Thema Altersarmut nicht auszusparen. „Natürlich ist es toll, wenn man sich vor Ort mit regionalen und Bio-Produkten eindecken kann. Aber eins darf man nicht vergessen: Viele Rentner können sich das finanziell schlichtweg nicht leisten“, betont die Vorsitzende des Seniorenbeirats. „Die Altersarmut in München ist enorm und nimmt immer mehr zu.“ Das sieht auch Elisabeth Merk so: „Es gibt Bevölkerungsgruppen, die eine relativ große Möglichkeit haben, gerade auch finanziell selbst zu entscheiden“, sagt die Stadtbaurätin. „In einer reichen, teuren Stadt wie München ist man nicht nur arm, wenn man Sozialhilfeempfänger im klassischen Sinn ist. Die Lebenshaltungskosten sind einfach sehr hoch – auch für ganz normale Menschen im mittleren Segment, die Familie und Jobs haben.“ Deshalb sei es wichtig, verstärkt darüber nachzudenken, wie sich zum Beispiel ältere Menschen gut in ihren Quartieren versorgen können.
Unsere Sommer-Frage
Woher kommen Ihre Tomaten? Unsere Gäste antworteten:
Dr. Martin Aigner: „Bei mir in der Nähe gibt es einen Markt. Dort kaufe ich ein und der Bauer sagt, die Tomaten kommen aus Franken.“
Andreas M. Bräu: „Ich habe sogar welche mitgebracht, und zwar aus dem Garten von der Mama. Idealerweise kommen meine Tomaten aus dem Garten, aber zu oft kommen sie aus dem Supermarkt.“
Ingrid Fölsl: „Meine Tomaten kommen aus möglichst nahen Gegenden und dann auch noch bio. Im Winter kaufe ich eher wenige Tomaten.“
Stefanie Hofmann-Lund: „Meine Tomaten kommen vom Obst- und Gemüsestand im Viertel."
Christian Lüttin: „Meine Tomaten kommen natürlich aus unserer Lebensmittelabteilung. Da haben wir eine Riesenauswahl.“
Prof. Elisabeth Merk: „Ich bin gebürtig aus Regensburg und mütterlicherseits komme ich aus einer Gärtnerei. Das heißt, in den Monaten, in denen Tomaten in Deutschland wachsen, kommen sie aus der Gärtnerei meines Onkels. Ansonsten kaufe ich auch gerne auf dem Wochenmarkt.“
Ingeborg Staudenmeyer: „Vom Gemüsestand am Rotkreuzplatz oder vom Garten. Ich habe einen Kleingarten und pflanze kein Gemüse. Aber meine Nachbarin versorgt mich gerne mit Tomaten.“
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Dr. Martin Aigner (Hauptgeschäftsführer Handelsverband Bayern HBE)
Andreas M. Bräu (Volksschauspieler, Autor und Gymnasiallehrer)
Ingrid Fölsl (Leserin)
Stefanie Hofmann-Lund (Wir Sollner e.V.)
Christian Lüttin (Geschäftsführung Galeria Kaufhof Rotkreuzplatz)
Prof. Elisabeth Merk (Stadtbaurätin München)
Ingeborg Staudenmeyer (Vorsitzende Seniorenbeirat München)
Was denken Sie?
Welche Meinung vertreten Sie? Diskutieren Sie mit! Schreiben Sie uns: Münchner Wochenanzeiger, Redaktion, Fürstenrieder Str. 5-9, 80687 München, leser@muenchenweit.de. Wir veröffentlichen Ihren Standpunkt.
Unsere Sommergespräche
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