"Die Chancen sind da!"
Wilfried Hüntelmann über offene Ausbildungsplätze, Plan B, sinnvolle Tätigkeiten und außergewöhnliche Erfahrungen
Im September beginnt das neue Ausbildungsjahr. Beeinflusst Corona die Situation für junge Leute und Betriebe? Wilfried Hüntelmann, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit München, erklärt im Gespräch mit Johannes Beetz, warum eine Ausbildung nach wie vor beste Chancen bietet und worauf es jetzt ankommt.
"Wir haben 4.500 offene Stellen"
Wie ist derzeit der Stand an freien Ausbildungsplätzen und Jugendlichen, die diese Stellen suchen? Ist das heuer im „Corona-Sommer“ anders als in den Vorjahren?
Wilfried Hüntelmann: Die gute Nachricht ist, dass die Betriebe nach unseren Erkenntnissen überwiegend an der Ausbildung festhalten. Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt hat sich somit nicht groß verändert. Allerdings stellen wir einen Zeitverzug bei den Einstellungen fest. Wir wissen natürlich, dass Betriebe und Bewerber sich auf die derzeitige Situation einstellen müssen und dies auch tun. Aktuell haben wir noch 4.500 offene Ausbildungsstellen gemeldet, kaum weniger als im Vorjahr. Die Chancen sind da, und ich hoffe, dass jetzt auch die Ausbildungsverträge abgeschlossen werden.
"In fast allen Bereichen Chancen"
In welche Branchen sind die Chancen auf einen Ausbildungsplatz besonders gut?
Wilfried Hüntelmann: Die Liste freier Ausbildungsberufe ist lang. In fast allen Branchen gibt es freie Ausbildungsstellen. Besonders gute Chancen gibt es in vielen Handwerksberufen, in der Logistik, ebenso im Einzelhandel, hier primär im Lebensmittelbereich oder im Bereich der Gesundheit und Pflege. Das sind aber nur Beispiele.
"Am Ball bleiben!"
Viele Jugendlichen erleben gerade eine frustrierende Zeit. Betriebe, deren eigene Lage ungewiss ist, halten sich mit der Ausbildung zurück und sagen Bewerbern vorsichtshalber ab. Für manchen jungen Menschen bricht da eine zentrale Perspektive und ein gutes Stück Lebensplanung weg. Kann man dennoch guten Gewissens eine betriebliche Ausbildung empfehlen?
Wilfried Hüntelmann: Absolut, wir empfehlen den jungen Menschen auch nach einer Absage am Ball zu bleiben, sich weiter zu bewerben. Nicht ohne Grund ist diese Form der Ausbildung, Made in Germany, weltweit anerkannt. Das hat sich nicht geändert. Und wie gesagt, gibt es in München bislang keine größeren Stornierungen von Ausbildungsstellen.
"Betriebe werden bei Ausbildung unterstützt"
Viele Unternehmen versuchen nach wie vor, mit Kurzarbeit über die Runden zu kommen. Welche Auswirkungen hat das auf Auszubildende und auf Betriebe? Kann ein Kurzarbeit-Unternehmen überhaupt ausbilden? Gilt Kurzarbeit dann auch für den Azubi?
Wilfried Hüntelmann: Unternehmen können weiterhin Auszubildende einstellen, auch wenn sie in Kurzarbeit sind. Das ist auch sinnvoll, denn Kurzarbeit ist eine Übergangszeit. Wenn es sein muss, kann der Betrieb für Azubis nach 6 Wochen Kurzarbeitergeld beantragen oder die neue Unterstützung von 75 % der Ausbildungsvergütung in Anspruch nehmen. Zudem gibt es heuer Ausbildungsprämien für Betriebe, die durch Corona in Schwierigkeiten geraten sind. Es geht darum, Betriebe in diesem Jahr auch in der Ausbildung finanziell zu unterstützen.
"Wir zeigen Möglichkeiten"
Sehen wir Jugendliche mal nicht als hilfsbedürftige Gruppe, die nicht wüsste, wo es langgeht. Viele junge Leute sind im Gegenteil ja gerade deswegen frustriert, weil sie in den letzten Schulwochen oder ohne Ausbildungsplatz kaum Leistung zeigen können, weil sie ihre Talente nicht angemessen nutzen können, weil sie nichts mehr lernen oder praktisch üben dürfen. Wie verhindern wir, dass deren Motivation nicht verloren geht und wir jetzt nicht ausgerechnet die verlieren, die morgen die besten Fachkräfte wären?
Wilfried Hüntelmann: Wichtig ist, dass wir an den Jugendlichen dranbleiben, mit ihnen sprechen und dies möglichst schnell und unkompliziert. Aktuell nutzen wir zum Beispiel vor allem das Telefon oder digitale Plattformen wie die Berufsberatung via Youtube. Gemeinsam mit den Schulen schauen wir uns die individuellen Interessen und Fähigkeiten der Jugendlichen an und zeigen ihnen Möglichkeiten auf dem Ausbildungsmarkt auf.
"Zeit sinnvoll überbrücken"
Was können Jugendliche tun, wenn alle Stricke reißen, also wenn sie im Sommer keinen Ausbildungsplatz finden? Gibt es Überbrückungsmöglichkeiten, um die Zeit bis zum nächsten Ausbildungsjahr sinnvoll zu nutzen? Was raten Sie da?
Wilfried Hüntelmann: Wenn wirklich alle Stricke reißen, gibt es einige Möglichkeiten, die Zeit sinnvoll zu überbrücken: So zum Beispiel die betriebliche Einstiegsqualifizierung, die Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme der Berufsberatung, ein freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) oder ein freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ). Wichtig hierbei sind natürlich die jeweiligen Neigungen, Wünsche und Ziele der Jugendlichen.
"Wir finden einen Weg"
Bei drohender Arbeitslosigkeit bin ich verpflichtet, mich frühzeitig bei Ihnen zu melden. Wie ist eigentlich das formale Procedere beim Schulende oder am Ende des BGJ, wenn es (noch) keinen direkten Anschluss gibt? Wann und wie müssen sich junge Leute in diesem Fall arbeitslos oder arbeitssuchend melden?
Wilfried Hüntelmann: Ich rate jedem Schulabgänger ohne konkrete Perspektive, sich bei der Berufsberatung oder im JIBB zu melden. Dann können wir gemeinsam einen Weg finden. Eine Arbeitslosmeldung ist dann wichtig, wenn ein Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht, also wenn man vorher sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Das ist aber in der Regel nach der Schule nicht der Fall.
"Ein verspäteter Einstieg ist möglich"
Das Ausbildungsjahr beginnt zum 1. September. Nun könnte es doch sein, dass ein Betrieb, der zunächst zurückhaltend ist, im November oder im neuen Jahr so gut vorankommt, dass er wieder eine Ausbildung stemmen könnte. Gibt es da Möglichkeiten des „verspäteten“ Einstiegs?
Wilfried Hüntelmann: Ein verspäteter Einstieg ist möglich und gerade zu Zeiten der Corona-Krise werden wir auch noch im Herbst in Ausbildung vermitteln. Es ist durchaus realistisch, noch bis zum Ende des Jahres zu starten. Dies sollte dann aber immer individuell mit dem Arbeitgeber, der Berufsschule und der zuständigen Stelle für die Ausbildung (z.B. IHK, HWK) besprochen werden.
"Wir wollen keinen verlieren"
Und wenn es im Betrieb dann doch irgendwann schiefläuft? Was passiert, wenn eine begonnene Ausbildung aufgrund einer Insolvenz nicht beendet werden kann? Ist die Zeit für den jungen Menschen dann verloren? Dieses Risiko kann ein Berufsanfänger ja kaum abschätzen.
Wilfried Hüntelmann: In solch einer Situation ist es wichtig, dass der junge Mensch sich sofort bei der Berufsberatung der Agentur für Arbeit oder auch bei der zuständigen Kammer meldet. Dann versuchen wir, einen anderen Betrieb zu finden, bei dem er die Ausbildung fortführen kann. Die neue Ausbildungsprämie von 3.000 Euro für Betriebe, die Jugendliche aus Insolvenzbetrieben übernehmen, dient als zusätzliche Unterstützung. Sollte eine Fortführung in betrieblicher Form nicht direkt funktionieren, haben wir weitere Möglichkeiten zu überbrücken. Wir wollen keinen auf dem Ausbildungsweg verlieren.
"Sie werden Verständnis aufbringen"
Manches Praktikum war in den vergangenen Monaten nicht möglich; viele Schul- und BGJ-Noten, die heuer im Zeugnis stehen, sind aufgrund Corona weniger aussagekräftig als sonst. Schleppen die jungen Leute aus diesem Jahrgang damit nicht für längere Zeit eine Hypothek in ihr Berufsleben mit?
Wilfried Hüntelmann: Es mag sein, dass diesjährige Zeugnisse nicht die Aussagekraft besitzen wie Zeugnisse in regulären Schuljahren, und sicherlich ist auch das ein oder andere Praktikum ausgefallen. Doch man darf nicht vergessen, dass auch die Betriebe und Berufsfachschulen durch eine genauso schwierige Zeit gegangen sind und hierfür sicherlich Verständnis aufbringen werden. Bislang sind diesbezüglich bei uns keine Rückmeldungen aus den Betrieben eingegangen.
"Corona sollte kein Platzhalter sein"
Wie geht man denn am besten mit Corona-bedingten Lücken im Lebenslauf um – zum Beispiel, wenn ich statt einer zunächst nicht möglichen Ausbildung ein Jahr mit verschiedenen Praktika oder anderen Tätigkeiten fülle? Welche Tätigkeiten sind da sinnvoll, welche eher nicht? Wie erkläre ich im Lebenslauf eine solche Lücke? Was schreibt man da? Verweist man auf Corona?
Wilfried Hüntelmann: Ein Plan B sollte immer nach vorne gerichtet sein, also am besten in Praktika oder Tätigkeiten investieren, die mit dem Berufswunsch zu tun haben und daher die Chancen verbessern. Corona sollte nicht als pauschaler Platzhalter im Lebenslauf erscheinen. Um eine passende und sinnvolle Tätigkeit zu finden, rate ich daher, einen Termin in der Berufsberatung zu vereinbaren. So entsteht erst gar keine Lücke im Lebenslauf, die man erklären muss. Im Lebenslauf sollte alles aufgeführt werden, was für die spätere Ausbildung wichtig sein könnte.
"Die Erfahrungen sind außergewöhnlich"
Corona und die Schulschließungen bzw. betrieblichen Einschränkungen haben den Unternehmen, aber auch den Jugendlichen einiges an Flexibilität, Spontaneität, Kreativität abverlangt, um schnell tragfähige „Notlösungen“ zu finden. Das sind ja Dinge, die in keinem Beruf verkehrt sind. Könnte das nicht dazu führen, dass der jetzige „Corona-Jahrgang“ ein besonders starker wird? Schließlich haben die Jugendlichen dadurch Erfahrungen mit Herausforderungen gesammelt, die viele andere erst viel später oder nicht in diesem Ausmaß machen.
Wilfried Hüntelmann: Die Erfahrungen im Umgang mit der Corona-Krise sind außergewöhnlich. Ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Jahrgang besondere Fähigkeiten entwickeln konnte, insbesondere im Bereich der digitalen Lernformen und Kommunikation, die man auch für eine Bewerbung herausstellen kann.
"Wir können auf die Betriebe zählen"
Der Realschullehrerverband warnt davor, dass in der zu erwartenden Konjunkturflaute am falschen Ende gespart wird: „Jetzt muss weiter ausgebildet werden, gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen müssen Anreize zur Ausbildung erhalten. Wer in der Krise die jungen gut ausgebildeten Menschen nicht fördert, der steht in wenigen Jahren vor einem Scherbenhaufen und einem nicht mehr zu bewältigenden Fachkräftemangel“, sagt sein Vorsitzender. Für diese Gefahr sind die Unternehmen sicher besonders sensibel – ihre Zukunft lässt sich ja nur durch Ausbildung sichern. Wie schätzen Sie die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe ein?
Wilfried Hüntelmann: Ich bin froh, dass wir in Bayern und München auf unsere Betriebe in Sachen Ausbildung zählen können. Sie wissen, wie wichtig der Fachkräftenachwuchs ist. Schließlich hatten wir vor Corona einen Fachkräftemangel, und auch nach Corona wird das Thema wieder auf uns zukommen. Dies ist nicht aus dem Gedächtnis gestrichen.
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