„Den Menschen wieder mehr zutrauen!“
Günther Bauer über fehlendes Personal und fehlende Wohnungen, über schnellen Wandel und Zeit füreinander, über das Huckepacknehmen und die Kraft der Ruhe
Dr. Günther Bauer zeigt auf das Porträt Karl Buchruckers. Dieser Münchner Dekan gründet am 26. März 1884 mit weiteren evangelischen Persönlichkeiten den „Verein für Innere Mission in München”. Der Verein widmet sich zunächst der Armenfürsorge. 1890 eröffnet seine „Kinderbewahranstalt” in der Blutenburgstraße, ab 1898 reisen Stadtkinder zur erholsamen Sommerfrische ins Murnauer Moos. 1912 zogen die ersten Mädchen und Buben ins neu gebaute Kinderheim im Stadtteil Neuhausen (Löhe-Haus). Weitere Hilfedienste richteten sich damals an „gefallene Mädchen, Trinker und Strafentlassene”. (Foto: job)
Fast 26 Jahre hat Dr. Günther Bauer als Vorstand die Innere Mission München geleitet. Zum 1. März geht er nun in den Ruhestand. Seine Verdienste um das soziale München könne man kaum in Worte fassen, würdigte Münchens Bürgermeisterin Christine Strobl seine Arbeit. Die Innere Mission mit ihren Einrichtungen sei "eine Säule des sozialen Friedens".
"Sie können rascher reagieren"
Die Innere Mission München gibt es seit 135 Jahren. Das heißt ja nicht nur, dass diese Einrichtung über mehrere Generationen hinweg vieles richtig gemacht hat und sich an wandelnde Verhältnisse anpassen kann, sondern auch, dass sie in guten wie in schlechten Zeiten gebraucht wird. Was kann ein Verband wie die Innere Mission besser als Staat und Kommunen, die ja ähnliche Aufgabenbereiche haben?
Günther Bauer: Für die soziale Vorsorge sind viele Beteiligte erforderlich: die Einzelnen, die Familien, die Kommune, der Staat. Ich hielte es für einen Irrtum, dem Staat alles überantworten zu wollen, denn dieser muss nach öffentlich-rechtlichen Gesichtspunkten handeln. Freie gemeinnützige Träger sind einfach schneller handlungsfähig und können rascher reagieren, ohne lange Prozeduren durchlaufen zu müssen. Ein Beispiel dafür ist die Ankunft von Flüchtlingen 2015: Ohne freie gemeinnützige Träger hätte das gar nicht funktionieren können. Den Hilfewillen, der in der Gesellschaft vorhanden ist, muss jemand bündeln und organisieren.
"In jeder Hinsicht abgesichert"
Es ist absurd: Noch nie ging es so vielen Menschen so gut wie heute, und trotzdem haben wir Angst vor dem Abstieg. Sind wir zu wenig dankbar und zu ängstlich?
Günther Bauer: Es ist im weltweiten Maßstab so, dass sich manche Leute nicht vorstellen können, dass man in Deutschland unter Armutsgesichtspunkten in jeder Hinsicht abgesichert ist: Man hat ein Dach über dem Kopf, Kleidung, Essen, Trinken. Das Gefühl, arm oder abgehängt zu sein, ist ja relativ. Deswegen sind viele Menschen dankbar für ihre Situation, wenn sie die Verhältnisse in anderen Ländern kennengelernt haben. Wer aber nicht rauskommt, hat leichter dieses Unzufriedenheitsgefühl, weil er sich dann nur mit denen vergleicht, die hier wohnen oder auf der Maximiliansstraße shoppen gehen.
"Nicht nur fördern,sondern selber bauen!"
Gleichwohl wächst selbst in reichen Regionen wie dem Raum München die Armut – oft versteckt. Was läuft da schief?
Günther Bauer: Im Grunde ist es der Fluch der Attraktivität. Wenn eine Stadt attraktiv ist, kann sie sich von Zuspruch kaum freimachen. Sieht man allerdings die Probleme von schrumpfenden, unattraktiven Städten, dann sind die noch mal von ganz anderer Art, nämlich viel heftiger.
Der zentrale Punkt ist: Boden als knappes Gut sollte keine Handelsware wir andere Güter sein. Es wäre gut gewesen, hätte der frühere Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel seine Ansätze in den 70er und 80er Jahren weiterverfolgen können, dass Grund und Boden wie Luft und Wasser Allgemeingut sind. Dann könnte man Wohnungen schaffen, die nicht exorbitant hohe Bodenpreise abbilden müssen.
Ich war immer dafür, dass sowohl Bund als auch Freistaat und Kommunen nicht nur Wohnungsbau fördern, sondern vor allem selbst bauen. Dann hätte man beim sozialen Wohnungsbau nicht eine Bindungsfrist von 25 Jahren, sondern praktisch eine unendliche. Bei kostenintensiven Geschichten wie dem Mietwohnungsbau muss sich der Staat selber engagieren, weil er da von den Problemen auch etwas versteht.
"Wichtige Dinge bleiben auf der Strecke"
Veränderung macht sicher viele unsicher, aber die Generationen vor uns haben viel unsicherer Zeiten erlebt als wir. Und: Veränderung ist nichts Neues, sie bestimmt unser Leben seit jeher, jeden Tag. Sie haben geschrieben, sie sehen gerne zurück auf "Zeiten, in denen sich was bewegt hat". Wie gehen wir mit dem Wandel um, ohne das Gefühl zu bekommen, machtlos daneben zu stehen?
Günther Bauer: Manchmal wandelt sich auch zu viel. Die Halbwertzeiten des Verfalls in der digitalen Technologie zum Beispiel haben den ganzen Alltag ergriffen. Jedes Gerät hat sehr viel mehr Funktionen als ich brauche. All diese Dinge kann ich gar nicht mehr nutzen.
Die wichtigen Dinge in menschlicher Hinsicht, die sich wandeln sollten, bleiben auf der Strecke - zum Beispiel, dass man Zeit hat, etwas miteinander zu machen. Die Frage ist immer: Wo wandelt sich etwas? In wessen Interesse? Mit welchem Ziel?
"Das sehe ich sehr kritisch"
Wir sind im Alltag ganz gerne recht bequem unterwegs. „Der Markt regelt alles“ ist so eine Bequemlichkeitsfloskel, hinter der man die eigene Verantwortung recht gut verstecken kann. Sie haben gemahnt, man dürfe „das Soziale nicht nur den Marktkräften überlassen“. Ohne Markt geht Soziales nicht. Wie sieht für Sie die Balance aus?
Günther Bauer: Zwischen Markt und öffentlicher Daseinsvorsorge gibt es eine Wechselwirkung. Was man allerdings nicht marktförmig produzieren kann, sind Dienstleistungen auf Beziehungsebene. Ich sehe die kostenoptimierte Organisation der Arbeitsabläufe in der Pflege sehr kritisch. Wenn Leistungen zur Minutenpflege eingetaktet werden, dass man nicht mehr individuell auf jemanden eingehen kann, müssen wir wieder zu pauschalen Finanzierungssystemen zurück. Das kann man nicht allein dem Markt überlassen.
"Freiheit und Vielfalt in Verantwortung"
Es gibt in München eine ganze Reihe von Wohlfahrtsverbänden neben der Inneren Mission. Alle tun im Kern Gleiches: jenen helfen, die Hilfe benötigen, und den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern. Wie zeigt man da als Innere Mission ein eigenes Gesicht und wie wichtig ist für Sie die kirchliche Anbindung?
Günther Bauer: Die kirchliche Anbindung ist grundlegend. Jeder weltanschauliche Verein braucht eine Basisbotschaft. Da finde ich den christlichen Glauben in seiner protestantischen Form, der individuelle Akzeptanz und Nächstenliebe betont und ein hohes Maß an Freiheit ermöglicht, nach wie vor unübertroffen.
Freiheit und Vielfalt in Verantwortung gegenüber dem Schöpfer ist heute wichtiger denn je, wenn man mit knappen Gütern auf dieser Erde umgeht. Deswegen kann man nicht bedenkenlos kohlenstoffbasierte Energieträger verbrauchen. Muss man denn jede Reise machen? Verbessert jeder Pauschalurlaub das Lebensgefühl?
Wir brauchen in der Daseinsvorsorge eine neue Balance zwischen dem, was dem Einzelnen obliegt und auch privat bleiben sollte, und dem, was man öffentlich anbieten muss.
"Sagen, in welche Richtung es geht"
Einer unserer Schwerpunkte ist Nachhaltigkeit. Das meint nicht nur „öko“ und „Greta“: Nachhaltigkeit und rechtzeitig Kümmern ist – wie in der Fabel von der Ameise und der Grille – in allen Lebensbereichen zumindest hilfreich. Nun ist die Innere Mission mit ihrer Fülle von Angeboten ein Paradebeispiel für das, was Daseinsvorsorge und damit eben auch Nachhaltigkeit ist: Schwächere eine Weile "huckepack nehmen" und ihnen helfen, auf die Beine zu kommen und wieder für selbst für sich sorgen zu können. Können Sie da ein paar Angebote als Beispiele nennen, die gegenwärtig besonders gefragt sind?
Günther Bauer: Ein gutes Beispiel für erfolgreiches Huckepacknehmen ist die Wohnungslosenhilfe mit Karla 51 oder der Tesstube Komm. Es dauert allerdings oft lange, bis jemand so viel Vertrauen fasst, dass er oder sie sich auch huckepack nehmen lässt.
Auch in der Flüchtlingshilfe, wenn sich Menschen in einer neuen Kultur einleben müssen, werden viele Huckepackleistungen erbracht.
Große entlastende Leistungen haben wir für die, die die Pflege zuhause nicht mehr stemmen können.
Huckepack heißt aber nicht, dass ich jemanden auf die Schulter nehme und irgendwohin trage. Wer auf der Schulter sitzt, soll sagen können, in welche Richtung es geht.
"Der Himmel hat nicht nur einen Stern"
Sie waren über 25 Jahre an entscheidender Stelle bei der Inneren Mission. In dieser Zeit hat sich vieles gravierend geändert: 1994 hatte die Innere Mission München 632 hauptamtliche Mitarbeitende, heute beschäftigt sie rund 3.100 Menschen. Betrug der konsolidierte Jahresumsatz damals für die gesamte IM-Gruppe (umgerechnet) 61,9 Millionen Euro, waren es 2018 bereits 261,4 Millionen. Worauf sind Sie in der Rückschau besonders stolz?
Günther Bauer: Ich könnte 30, 40, 50 Highlights nennen, aber dann wären es keine Highlights mehr. Der Diakoniehimmel hat nicht nur einen Stern, sondern viele. Sonst wäre er kein Himmel. In allen Bereichen erbringen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herausragende Leistungen. Der Erfolg der letzten 25 Jahre ist ein Team-Erfolg.
"Gute und sinnvolle Arbeit"
Bei Ihrem Dienstantritt trat das Pflegeversicherungsgesetz in Kraft. Wir können also auf neue Herausforderungen durchaus reagieren. Heute ist das Fehlen von Fachkräften – seien es Pfleger in Heimen und Kliniken oder Erzieher in Kitas – ein echtes Problem. Haben wir es zu spät erkannt? Müssen wir künftig auf Dienste und Angebote wie Kinderbetreuung verzichten, weil die Menschen fehlen, die sich darum kümmern?
Günther Bauer: Im pädagogischen Bereich wird sich die Lage nicht entspannen. Bis 2025 will man die Kooperative Ganztagsbetreuung in den Grundschulen einführen. Dazu braucht man auch pädagogisches Personal, das jetzt schon in Kitas fehlt.
Ich habe mich dafür eingesetzt, dass nicht nur eine Ausbildungsstätte wie die Evangelische Fachakademie besteht, sondern dass sie zweizügig ausgebaut wird. An unserer Evangelischen PflegeAkademie bilden wir mehr als 200 Fachkräfte pro Jahr aus. Wir zahlen in der Pflege Einstiegsgehälter von 3.500 Euro – das ist so schlecht nicht.
Das ändert aber nur bedingt etwas. Viel wichtiger ist, etwas für das Image der Pflegeberufe zu tun. Wenn irgendwo in der Pflege oder der Erziehung etwas daneben geht – was überall passieren kann, wo Menschen arbeiten – ist es ein Riesenthema und man meint, alles ist schlecht. Dass aber viel gute und sinnvolle Arbeit geleistet wird, bei der man zufrieden sein kann, weil man Menschen helfen kann, das geht dabei verloren.
Ohne Fachkräftezuwanderung wir das soziale, pflegerische und erzieherische Leben in Deutschland so nicht aufrechterhalten werden können.
"Das werden wir uns nicht ewig leisten können"
Nehmen wir an, Sie könnten drei Dinge mit einem Fingerschnippen ändern oder umsetzen. Wofür würden Sie schnippen?
Günther Bauer: Als Erstes, dass die Pflegeversicherung eine Vollversicherung für Pflegeleistungen wird und dass nicht alle Veränderungen – z.B. die der Pflegesätze – zu Lasten der Selbstzahler und Betroffenen gehen.
Als Zweites: den Trägern der sozialen Arbeit mehr zutrauen. 40 verschiedene Institutionen kontrollieren die Pflegeeinrichtungen. Ich bin nicht gegen Kontrolle und Überwachung, aber dieser bürokratische Detailaufwand hilft nicht weiter. Er macht Menschen Angst, Verantwortung zu übernehmen, weil kleinste Fehler sofort sanktioniert werden.
Drittens: Den Menschen etwas zutrauen und ihnen sagen „Du kannst das“ anstatt standardisierte Prozesse haben zu müssen, bis man ein Zeugnis hat und etwas machen darf. Diesen Differenzierungswahnsinn werden wir uns nicht ewig leisten können.
"In der Ruhe liegt die Kraft"
Ein Verband mag groß sein – das Bild bei den Menschen zuhause prägt immer der einzelne Mitarbeiter, dem man begegnet. Das sind in der Regel engagierte Menschen mit hohem Fachwissen und viel Herz – seien es Hauptamtliche oder Ehrenamtliche. Sie alle verdienen höchsten Respekt. Wenn sie zum Abschied auf ihre vielen Mitarbeiter blicken: Welche Botschaft würden Sie ihnen gerne „hinterlassen“?
Günther Bauer: Engagiert euch weiter so wie bisher, denn ihr macht es super! Ich wünsche mir, dass die Atempausen beim Tun wieder stärker kommen können. Nicht nur zwischen zwei Schichten, sondern auch im Urlaub.
In der Ruhe liegt die Kraft. Da ist schon was dran. Wenn wir nur noch Konsumenten wären, wären wir doch ziemlich arme Menschen.
Die Innere Mission – ein Lebenshelfer
Die Innere Mission ist heute der größte diakonische Träger in Oberbayern. Im Geschäftsbereich München arbeiten derzeit rund 3.200 Hauptamtliche; in zehn stationären Pflegeeinrichtungen bietet die Innere Mission etwa 1.400 Plätze an, in 18 Kindertagesstätten rund 1.300 Plätze. Zu den über 100 Einrichtungen des Wohlfahrtsverbandes gehören daneben u.a. sozialpsychiatrische Dienste, Einrichtungen für Flüchtlinge und wohnungs- oder arbeitslose Menschen.
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