"Da ist noch Luft nach oben!"
Mit welchen Perspektiven starten junge Lehrer in ihren Beruf?
Im Durchschnitt wird ein Drittel der Lehramt-Absolventen in den Schulbetrieb übernommen. Dabei ist die Ausbildung mit acht Semestern, erstem Staatsexamen, zwei Jahren Referendariat und zweitem Staatsexamen sehr lang und kostenintensiv. Warum ist das so?
"5.000 wirklich zusätzliche Stellen"
Georg Eisenreich: Da müssen wir differenzieren. Die Bildungsausgaben in Bayern steigen seit Jahren. Das Kultusministerium hatte 2008 einen Haushalt von 8,6 Milliarden Euro gehabt, 2016 werden es über 11,5 Milliarden Euro sein. In Bayern wird viel in die Bildung investiert. Seit 2008 haben wir über 5.000 zusätzliche, wirklich zusätzliche Lehrerstellen geschaffen, obwohl die Schülerzahlen insgesamt zurückgehen.
Auch die aktuelle Situation der Lehrereinstellung muss man differenziert nach Schularten und Fächerkombinationen betrachten. Im Grund- und Mittelschulbereich sowie in der Sonderpädagogik haben wir Volleinstellung der Berufsanfänger. Schwieriger ist es in der Realschule. Dort sinken die Schülerzahlen deutlich und die Fluktuation unter den Lehrern ist sehr gering.
Im Gymnasium hängt die Einstellungsquote von den gewählten Fächern ab. Die Chancen sind hervorragend in Informatik, Physik, Musik, Kunst. Eher schlecht stehen sie in den modernen Fremdsprachen, in Geschichte, Sozialkunde und Erdkunde.
"Hervorragende Perspektiven"
Also wollen viele Lehramt im Gymnasium studieren, obwohl dort die Zukunftsaussichten nicht unbedingt rosig sind?
Georg Eisenreich: Wir haben Studienwahlfreiheit. Wir können nicht steuern, wer Lehramt mit welchen Fächern studiert. Aber wir geben Prognosen über die zu erwartenden Situationen. Wie überall kann man auch bei den Lehrern nicht sagen: Jetzt studiere ich und danach will ich eine Stelle. Dafür ist das Ausbildungsniveau bei uns enorm hoch und damit sind auch die beruflichen Perspektiven hervorragend.
Beste Noten machen nicht beste Lehrer
Wie sehen die Studierenden die Situation?
Johanna Beyer: Einige nehmen diese Prognosen wahr und stellen ihre Studien darauf ein, andere nicht. Entscheidend ist jedoch, nach welchen Kriterien die freien Stellen vergeben werden. Da zählt nur der Notendurchschnitt. Doch nicht die mit besten Noten sind die besten Lehrer.
Warum entscheidet man sich heutzutage für den Beruf des Lehrers?
Sarah Goldberg: Vielen sind der Umgang und die Arbeit mit Kindern eine Berufung. Das wäre auch gleich der Idealfall. Aber oft spielt die Sicherheit eines geregelten Beamtenberufs eine Rolle.
Aufnahmeprüfung für Lehrer?
Dabei ergab eine Umfrage der LMU unter Lehramtsstudenten, dass 20 Prozent vor dem Studium noch nichts mit Kindern zu tun hatte und gar nicht so genau weiß, wie der Lehreralltag aussieht. Wären da nicht eine Zulassungsbeschränkung oder eine Eignungsprüfung angebracht?
Sarah Goldberg: Ja, das stimmt. Nicht allen war klar, was der Lehrerberuf bedeutet. Das Referendariat ist dann ein Sprung ins kalte Wasser. Hier beweist es sich, wie es mit der Eignung aussieht. Für ein Umschwenken ist das natürlich schon sehr spät.
Waltraud Lucic: Ohne Empathie für Kinder lässt sich im Lehrerberuf nicht viel ausrichten. Hilfreich wäre der Nachweis von sozialen Kompetenzen oder Ehrenämtern, damit nicht nur die Noten zählen. Und für den Fall, dass die Prognosen nicht immer stimmen, könnte man zum Beispiel einen Sekundarlehrer einstellen, der je nach Bedarf in den Klassen 5 und 6 eingesetzt werden kann.
Georg Eisenreich: Eine Aufnahmeprüfung für Lehrer? Das diskutieren wir oft im Landtag. Ich plädiere eher für eine Eignungsberatung am Anfang. In Zusammenarbeit mit der LMU hat das Kultusministerium dafür ein online-basierendes Selbsterkundungsportal erarbeitet.
Christiane Glas-Kinateder: Warum kein Orientierungspraktikum? Das wäre live und in Farbe noch vor dem Studium. Stationen dieser Art muss es kontinuierlich geben. Denn wenn die Rückkopplung zur Praxis fehlt und kein Job in Aussicht ist, rutschen die Absolventen schnell in prekäre Beschäftigungsverhältnisse, zum Beispiel in der Weiterbildungsbranche. Das ist kein schöner Ausblick.
Werner Fiebig: Im Gymnasialbereich gibt es diesen Praxisbezug. Wir haben eine Kooperation mit der LMU, die nennt sich „Tandem“. Das sind Lehrer, die finden sich auf einer Onlineplattform mit Studierenden zusammen und begleiten sie das ganze Jahr. Das geschieht sehr intensiv. Der Praxisaspekt kommt im Gymnasialbereich nicht zu kurz.
"Das Feuer muss brennen"
Christian Marek: Die jungen Kollegen müssen diese Zeit für sich selber nutzen und herausfinden, ob sie diesem Beruf gewachsen sind. In ihnen muss förmlich das Feuer für den Lehrerberuf entbrennen. Die entscheidende Frage ist: Hat der künftige Lehrer den Beruf, der ihn ein Leben lang trägt? Wenn wichtige Eignungsmerkmale fehlen, ist der Beruf eine unglaubliche Anspannung.
Sarah Goldberg: Und bitte nicht die Betreuungslehrer für die Referendare vergessen! Auch hier muss es genügend Weiterbildung geben zur Anleitung eines Praktikums und zur Begleitung eines Berufsanfängers.
"Es fehlt an Wertschätzung"
Wie viele Referendare haben Sie am Gymnasium?
Werner Fiebig: Wir haben aktuell zehn Referendare. Bei 80 Lehrern ist das viel. Die Referendare werden voll eingesetzt, das ist für die jungen Kollegen meist ein Praxisschock. Sie machen mehr als Kollegen in Teilzeit. Jeder von den Referendaren hat einen Betreuungslehrer! Das ist eine sehr, sehr aufwendige Sache. Leider können wir die Betreuungslehrer nicht in irgendeiner Form entlasten oder belohnen.
Waltraud Lucic: Nur „danke“ sagen, ist einfach zu wenig. Hier fehlt die Wertschätzung. Dies fordern wir auch schon lange.
Lieber nicht in die teure Großstadt
In jedem Jahr gibt es einen hohen Prozentsatz von Lehrern, die ihren Dienst nicht antreten, weil sie zum Beispiel nicht nach München in die teure Großstadt wollen. Wie wird damit umgegangen?
Waltraud Lucic: Ja, das gibt es vielfach. Wer in Niederbayern ausgebildet ist und nach München muss, will oft in der Heimat bleiben. Ich habe starke Bedenken, dass es heuer genauso läuft. Erst wird eingestellt, dann laufen die Versetzungen und am Ende geht München leer aus, weil sich keiner das Leben hier leisten kann oder die jungen Lehrer nicht von Zuhause weg möchten. Hier brauchen wir die schützende Hand der Staatsregierung: Allen Versetzungswünschen lässt sich nicht entsprechen!
"Es entsteht Frust und Verwirrung"
Schauen wir auf die Elternseite. Welche Lehrer wünschen Sie sich?
Michael Streit: Unser Wunsch sind gesprächsbereite, souveräne und engagierte Lehrer. Die Frage ist, hält das Berufsbild des Lehrers der Wirklichkeit stand? Gerade wenn den Lehrern wichtige Sozialkompetenzen fehlen, sind sie schnell überfordert. Das belastet alle Beteiligte: Kinder, Eltern und Kollegen. Oder: Wie gehen Schulen mit Themen wie Inklusion, Ganztag, neue Medien, interkulturelles Umfeld um? Die Lehrer müssen hier etwas leisten, wofür sie nicht ausgebildet und bereit sind. Da entsteht Verwirrung, Frust und Ärger. Das hilft absolut keinem. Im Gegenteil.
"Kinder sind unser oberster Dienstherr"
Christian Marek: Hier wird ein ganz wichtiger Faktor angesprochen. Ich denke, ins Studium muss eines noch hinein: der souveräne Umgang mit Erwachsenen fehlt in der Lehrerausbildung. Das ist ein Feld, was noch bestellt werden muss.
Waltraud Lucic: Das Schüsselwort ist „Erziehungspartnerschaft“ von Eltern und Lehrern. Müssen sich Lehrer an die Schulen anpassen? Nein! Die Lehrer müssen sich an die Welt der Kinder anpassen. Das haben sie verdient. Kinder sind unser oberster Dienstherr. Wir bilden sie nicht nur aus, wir müssen sie erziehen. Aus diesem Grund brauchen wir genügend Lehrer, um auf unsere Kinder, auf ihre Individualität eingehen zu können.
Georg Eisenreich: Es ändert sich der Lehrerberuf, weil sich auch die Gesellschaft und die Familien ändern. Und deswegen muss auch die Lehrerbildung in ständiger Entwicklung sein. Das ist ganz wichtig.
Christiane Glas-Kinateder: Der Lehrerberuf sollte nicht mit Klischees abgetan werden. Die Staatsregierung reagiert einfach viel zu langsam auf neue Anforderungen in der Schule. Mit den Begriffen „Bildungsstandort“ und „Rohstoff Bildung“ wird viel zu lax umgegangen. Warum haben wir eine Explosion von Privatschulen? Wo bleiben unsere staatlichen Schulen? Ein Teil unserer Eltern hat sich verabschiedet. Dieser Trend liegt an der Unzufriedenheit mit staatlichen Schulen. Hier fehlt mir ein offensives Bekenntnis auch der Staatsregierung.
"Hervorragendes Engagement"
Georg Eisenreich: Es ist gut, dass es auch private Schulen gibt. Das breite Angebot garantiert die Vielfalt an pädagogischen Konzepten. Natürlich darf Bildung nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Bildungsgerechtigkeit ist uns ein wichtiges Anliegen.
An dieser Stelle sollten wir unbedingt den über 100.000 Lehrern in Bayern für ihre ganz, ganz hervorragende Arbeit danken. Auch das Engagement der Eltern ist hervorragend. Bildung erfordert eine enge Zusammenarbeit der ganzen Schulfamilie. Dies muss allen klar sein.
Waltraud Lucic: Das Thema des Lehrerverbands für die nächsten vier Jahre lautet: „Alles ist in Bewegung“. Das passt auch hier. Wir dürfen nicht rasten, wir müssen uns bewegen. Es gibt viel zu tun. Da trägt jeder Eigenverantwortung.
Werner Fiebig: Wir sind der Staatsregierung dankbar, dass die Investitionen nicht versiegen. Doch wir kämpfen nach wie vor mit sehr hohen Schülerzahlen am Gymnasium. Ich würde am liebsten alle zehn Referendare an unserer Schule übernehmen. Doch am Ende bekommen zwei, allerhöchstens drei einen Job. Und wir könnten alle brauchen. Ich möchte mit einem Appell an den Finanzminister schließen: Da ist noch Luft nach oben!
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Johanna Beyer (stv. Referentin für Lehramt der Studierendenvertretung an der LMU)
MdL Georg Eisenreich (Bildungsstaatssekretär)
Werner Fiebig (Schulleiter Gymnasium Fürstenried)
Christiane Glas-Kinateder (Ver.di Bayern, Leiterin Landesfachbereich 5 Bildung, Wissenschaft und Forschung)
Sarah Goldberg (Lehrerin an einer Mittelschule in München und 2. Vorsitzende der ABJ München, Arbeitsgemeinschaft Junglehrer, im MLLV).
Waltraud Lucic (1. Vorsitzende Münchner Lehrer- und Lehrerinnen-Verband MLLV)
Christian Marek (Rektor Grundschule Oselstraße und Personalratsvorsitzender für die Beschäftigten im Bereich des Staatlichen Schulamtes München-Stadt)
Michael Streit (Elternbeiratsvorsitzender der Grundschule Peslmüllerstraße)
Was denken Sie?
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So geht's weiter
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