"Betroffen ist auch schon der Mittelstand"
Andrea Betz über die steigenden Lebenshaltungskosten und die Konsequenzen
Durch die steigenden Lebenshaltungskosten (Energiepreise, Lebensmittel, ...) stehen neue Herausforderungen für die Gesellschaft an - gerade für Geringverdienende und Sozialleistungsempfänger. Andrea Betz ist bei der Diakonie München und Oberbayern im Vorstand eines der größten Sozialunternehmen unter anderem für die Armutsbekämpfung, Kinder und Jugendliche zuständig. Die Politik habe bisher nicht wirklich zufriedenstellende Ideen bzw. Lösungsansätze, findet sie.
"Die Schwelle liegt bei 1.540 Euro"
Für uns alle werden die Dinge des täglichen Bedarfs teurer. Noch weiß niemand, wie heftig sich die Preisspirale in den kommenden Monaten drehen wird und wie es mit der Energieversorgung im Winter aussieht. Welche Bevölkerungsgruppen sind am ärgsten betroffen oder haben da am wenigsten Puffer?
Andrea Betz: Wie so oft trifft es auch in diesem Fall am meisten diejenigen Menschen unter uns, die ohnehin von Armut betroffen oder gefährdet sind, in die Armut zu driften wie etwa Erwerbslose, Alleinerziehende, Selbstständige, Minijobber*innen oder auch kinderreiche Familien. Die Schwelle, hier in München in Armut zu geraten, liegt schon bei einem monatlichen Netto-Einkommen von 1.540 Euro für einen Single-Haushalt. Betroffen ist hier also auch schon der Mittelstand, der bislang als wirtschaftlich gut abgesichert galt. Besonders leiden unter der aktuellen Lage auch alleinstehende Senior*innen, die von einer kleinen Rente leben oder Sozialleistungen erhalten.
Die Corona-Pandemie hat Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen schon hart getroffen und nun kommen die Preissteigerungen dazu. Das sind die Herausforderungen, mit den wir uns jetzt beschäftigen müssen und die in unseren Beratungsstellen schon ankommen.
"Armut versteckt sich häufig"
Wenn Preise für Strom, Heizung, Lebensmittel explodieren, geht es ja wirklich ans Eingemachte. Welche Herausforderungen sehen Sie auf uns zukommen?
Andrea Betz: Alle gesellschaftlich und politisch Verantwortlichen müssen jetzt so schnell wie möglich handeln, um zu vermeiden, dass Menschen in die Wohnungslosigkeit und damit in eine dauerhafte Armut abrutschen. Langfristig muss das soziale System aber so umgebaut werden, dass kein Mensch mehr armutsgefährdet ist.
Armut versteckt sich häufig. Es wird Fälle geben, in denen jemand zwar die eigene Wohnung halten kann, aber für die weiteren Lebenskosten dann nicht mehr aufkommen kann. Gesundes Essen, Kleidung, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, notwendige Reparaturen oder Anschaffungen sind schon jetzt für viele Menschen nicht mehr zu finanzieren. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird ihre Zahl steigen. Eine Reihe Erwerbstätige werden deshalb einer zweiten oder sogar dritten Beschäftigung nachgehen müssen, um diese grundlegenden Bedürfnisse finanzieren zu können. Die psychischen Belastungen werden aus meiner Sicht daher zunehmen.
"Verhindern, dass junge Menschen abgehängt werden"
Wenn in Familien jeder Cent zweimal herumgedreht werden muss, wirkt sich das auf das Leben der Kinder besonders umfassend aus. Wie verhindern wir, dass Kinder und junge Leute dauerhaft abgehängt werden?
Andrea Betz: Eine Kindheit in Armut wirkt sich auf Ernährung, Gesundheit, Bildungschancen und somit auf das ganze weitere Leben aus. Darum brauchen wir eine Kindergrundsicherung und generelle Steuererleichterungen für Erziehende, um Familien finanziell zu stärken. Die beste Abhilfe gegen lebenslange Armut ist aus meiner Sicht vor allem mehr Bildungsgleichheit.
Wir brauchen dringend eine Reform unseres Bildungssystems, um zu verhindern, dass junge Menschen abgehängt werden. In unserer Arbeit erleben wir leider noch viel zu oft, dass noch der Geldbeutel der Eltern und deren eigener Bildungsstatus maßgeblich über den Bildungsweg der Kinder und Jugendlichen entscheidet. Deshalb brauchen wir mehr kostengünstige oder sogar kostenlose Angebote für Kinder- und Jugendliche, wie Lernförderung, Zugang zu digitalen Medien oder außerschulischen Bildungsangeboten. Stigmatisierung und Chancenungleichheit lassen sich dadurch langfristig verringern.
"Im Sozialen darf nicht gespart werden!"
Welche Handhabe haben Wohlfahrtsverbände und soziale Einrichtungen?
Andrea Betz: Wir erleben gerade, wie wichtig das soziale Netz ist, um Menschen, die in finanzielle Bedrängnis kommen, aufzufangen. Soziale Träger, wie die Diakonie, bieten ganz konkret Unterstützung an für Menschen, die von Armut betroffen sind: Beratung für Überschuldete, kostengünstige Freizeitangebote und Integrationsunterstützung. Darüber hinaus sehen wir es als unsere elementare Aufgabe, uns auf sozialpolitischer Ebene für benachteiligte Menschen einzusetzen. Das heißt auch, dass wir politische und wirtschaftliche Fehlentwicklungen klar benennen, kritisieren und auch einmal unbequem sind.
Was wir aber parallel ganz deutlich sehen: Soziale Einrichtungen kommen an die Grenzen ihrer Kapazitäten und Möglichkeiten, zu helfen. Die steigenden Kosten und der Fachkräftemangel setzen die sozialen Angebote zunehmend unter Druck. Man kann es nicht oft genug sagen: Im Sozialen darf nicht gespart werden!
"Nicht am Rhythmus der Wahlen orientieren"
Der Ukraine-Krieg hat uns vor Augen geführt, dass wir nicht jede Entwicklung vorhersehen können und dass wir uns auf manches nicht schnell genug einstellen können. Welche konkreten Schritte wünschen Sie sich von der Politik?
Andrea Betz: Ich wünsche mir zuallererst vorausschauende politische Entscheidungen, die sich am Gemeinwohl und damit am Wohl aller Menschen orientieren und nicht am Rhythmus der Wahlen oder an den Interessen weniger oder finanziell wohlhabender Menschen.
"Von Mentalität der Schnellschüsse lösen"
Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich seit Jahren weiter, die sozialen Unterschiede werden spürbarer, die Altersarmut nimmt zu, die Perspektiven für junge Leute werden nicht rosiger. Viele Probleme, vor denen wir stehen, kennen wir seit vielen Jahren. Wo müssten wir uns denn grundsätzlich - und nachhaltig - neu aufstellen?
Andrea Betz: Wir stehen am Beginn einer Energiekrise und einer Wirtschaftskrise, die sich in allen sozialen und gesellschaftlichen Bereichen manifestieren wird. Die Herausforderung für die Politik und die sozialen Akteure wird darin bestehen, sich von einer Mentalität der Schnellschüsse zu lösen und sich langfristig ausgerichtete Lösungen zu überlegen. Ich wünsche mir eine langfristige Politik und Gesellschaft, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt.
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