"... dass es auch die eigene Mama sehen könnte"
Bernhard Goodwin über Mobbing im Internet, Machtungleichgewicht und Sündenböcke, Vertrauen in der Familie und Eltern am Egoshooter
Das Internet hat unsere Welt verändert - und unseren Umgang miteinander. In sozialen Netzwerken wird im Schutz vermeintlicher Anonymität schnell viel gehässiger kommuniziert als im "echten" Leben, Problemen wie Mobbing scheint man im Web hilflos ausgesetzt zu sein. Stimmt das? Über Cyber Mobbing und andere Phänomene sprach Johannes Beetz mit Dr. Bernhard Goodwin, dem Geschäftsführer des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU.
Das Netz ist für viele ein zweites Zuhause
Wie viele Web-User sind vom Cyber Mobbing betroffen?
Bernhard Goodwin: Das Problem ist die Definition. Es gibt Unannehmlichkeiten, etwa wenn jemand ein böses Wort über mich schreibt oder einen unangemessenen Ton anschlägt. Das ist kein Cyber Mobbing. Aber wenn es öffentlich ist, dauerhaft wird und es schwierig ist, sich zu wehren, dann wird es dazu. Ich würde sagen, 10 Prozent Betroffene wäre für mich ein Maximalwert. Mobbing hat als Basis ein Machtungleichgewicht - einer kann sich nicht wehren. Im Internet tendiert man dazu, immer ein solches Machtungleichgewicht anzunehmen. Man kann sich hier aber besser wehren, als viele Leute glauben. Man überschätzt das Problem im Internet manchmal ein bisschen. Aber auch wenn nur fünf Prozent von Cyber Mobbing betroffen sind, dann ist es ein Problem. Gerade für viele Jugendliche ist das Netz ja ein zweites Zuhause.
"Es ist immer da"
Hat das Internet das Problem Mobbing verschärft - oder nur den Tatort verlagert?
Bernhard Goodwin: Früher hatten Jugendliche den Vorteil, dass sie zu Hause eher eine heile Welt hatten. Auf dem Schulhof werde ich möglicherweise angegriffen, aber ich habe hoffentlich eine Familie, in die ich zurückkehren kann. Das waren getrennte Bereiche. Natürlich gibt auch problematische Familien und Zusammenhänge, dass Leute, die weniger Selbstbewusstsein haben, leichter Opfer werden - und übrigens auch leichter Täter. Hinter dem Internet kann ich aber nicht die Tür zumachen: Es ist immer da. Das ist eines der zentralen Probleme, die zum normalen Mobbing dazukommen, auch wenn Jugendliche den Einfluss des Internets überschätzen.
Lästern ist menschlich, aber ...
Sie sprechen von "normalem" Mobbing. Ist Mobbing normal?
Bernhard Goodwin: Mobbing ist Teil eines häufigen sozialen Vorgangs. Es hat viel mit Normdurchsetzung zu tun. Nehmen wir an, ich bin 13 und merke nicht, dass ich langsam anfangen sollte, ein Deo zu benutzen. Dann ist es ganz gut, dass man hinter meinem Rücken tuschelt und mich irgendwann irgendjemand doof anredet, dass ich stinke. Das muss mir jemand sagen, damit ich mich entsprechend verhalten kann. Ich finde zwar nicht, dass Lästern eine der besten menschlichen Eigenschaften ist, es geht aber zum Teil darum, sinnvolle Normen durchzusetzen. Lästern ist ein Punkt, in dem über Normen geredet wird: Das ist gut in einer Gesellschaft. Problematisch ist, wenn jemand zum dauernden Sündenbock gemacht wird und nichts dagegen tun kann.
Internet lässt altes Problem sichtbar werden
Wie verändert die gefühlte Anonymität im Web das Verhalten?
Bernhard Goodwin: Im Cyber Space herrscht größerer Waffengleichheit. Der schwächliche Mitschüler, den alle mobben, kann sich wehren, denn er kann auch anonym etwas posten. Im Internet gibt es das dauerhafte Machtungleichgewicht eigentlich nicht mehr: Es kommt nicht darauf an, ob ich körperlich oder sozial stärker bin, sondern es reicht ein Klick auf den Post Button. Beim Cyber Mobbing haben wir deswegen auch ein größeres Problem von Opfer-Tätern, also von Opfern, die später zurückschlagen.
Ich glaube zwar, dass sich das Problem verschärft hat. Ein zentraler Punkt ist aber auch, dass im Internet nur das sichtbar wird, was schon immer da war. Früher haben Eltern das nicht bekommen. Jetzt kann das Kind es ihnen zeigen. Das ist für mich der Weg zur Lösung: Indem das Mobbingproblem sichtbar wird, kann ich damit umgehen.
Macht euere Kinder selbstbewusst!
Gibt es effektive Schutzmöglichkeiten?
Bernhard Goodwin: Aufklärung ist zentral, denn natürlich kann man sich wehren. Das Internet ist nicht so anonym wie viele meinen. Jedem, dem so etwas passiert, sage ich: Dokumentiere es, aber guck selber nicht so oft darauf. Und wenn es zu schlimm ist, gibt es eine Polizei: Beleidigung und üble Nachrede sind Straftatbestände, das kann man anzeigen.
In erster Linie brauchen wir aber einen grundsätzlich vertrauensvollen Umgang zwischen Heranwachsenden und Eltern bzw. Lehrern. Die klassische Grundlage einer guten Erziehung ist, Kinder selbstbewusst zu machen. Es geht nicht darum, mechanisch gut zu funktionieren und nur Leistung zu bringen. Kinder müssen vielmehr selbstbewusste Bürger werden, sich in der Gesellschaft behaupten können und wissen, wann man auf seine Netzwerke zurückgreift - und diese Netzwerke müssen Eltern und Erzieher bereitstellen. Man muss seinen Kindern Freiräume lassen. Sie müssen aber auch wissen, dass sie mit jedem Problem zu mir kommen können. Wenn ich das beherzige, kann ich viele Fälle von Mobbing u.ä. abmildern. Natürlich gibt es böse Menschen, die Spaß daran haben, andere zu verletzen. Das kann man nicht verhindern - aber man kann es abmildern.
Die eigene Mama als Sicherheitsstandard
Cyber Mobbing ist nur eines von vielen Problemen der sozialen Netzwerke: Halten Sie Datensicherheit und sexuelle Belästigung in Chats für ebenso massiv?
Bernhard Goodwin: Das hängt alles zusammen. Eigentlich bräuchten wir längst ein Schulfach Medien. Uns fehlt eine Grundbildung. Das Schützen der eigenen Person hat viel mit Kompetenz zu tun. Ich muss wissen: Wenn ich etwas auf Facebook poste, ist es öffentlich. Da kann ich mich auch auf einen Platz stellen und es tun - da lass ich ja auch nicht die Hose runter. Es ist nicht schlecht, sich im Web so zu verhalten, dass es auch die eigene Mama sehen könnte. Wir brauchen mehr Bewusstsein für Privatsphäre: Ich verstehe nicht, wie häufig manche Leute etwa Fotos der eigenen Kinder posten.
Auch Eltern müssen besser Bescheid wissen. Bei Chats hilft es sehr, wenn man den Kanal offen hält: Kinder müssen wissen, dass sie alles erzählen dürfen, und es ist wichtig, dass Eltern selbst aktiv mit ihnen sprechen. Verbote sind der falsche Weg. Lieber gebe ich mein Kind in einen besser gesicherten Chat. Es gibt ja welche, wo ordentliche Moderatoren dabei sind und wo keiner posten kann "Ich hab süße Ponys daheim, willst du mich nicht besuchen kommen?" Auch das ist aber kein neues Problem.
"Leb mit deiner Familie mit!"
Aber viele Eltern fühlen sich überfordert von der Technik, mit der ihre Kinder aufwachsen.
Bernhard Goodwin: Das ist kein Problem zwischen "digital natives" und "digital foreigners". Ich erwarte von Eltern und Erziehern, dass sie neugierig bleiben: ein bisschen offen für Neues bleiben, ohne gleich das "böse Internet" zu verteufeln. Das kann man in jedem Alter.
Das Problem ist doch nicht, dass wir im Alter verlernen würden, uns Dinge anzueignen, sondern dass wir das Scheitern verlernen. Wir müssen zulassen, dass wir etwa an technischen Geräten scheitern können, dann können wir den Umgang auch mit 60 noch lernen.
Natürlich gibt es Eltern, die überfordert sind. Die muss man ermutigen, einfach mal mit ihren Kindern mitzumachen: Auch mal einen Egoshooter zu spielen, selbst wenn einem schlecht davon wird. Macht es einfach! Damit man versteht, worum es geht und was daran reizvoll ist - und damit man sieht, was man anders machen kann.
Die entscheidende Frage ist doch: Nehmen wir uns Zeit? Langsam begreifen wir wieder, dass es nicht nur Arbeit gibt. In dem Moment, wo wir mit unseren Kindern zusammen sind, bekommen wir etwas mit: Ich muss ihr Leben mitleben. Das ist das Wichtigste: Leb mit deiner Familie mit!
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