"Unterwegs in die Freiheit"
Ein Untermenzinger rettete Wilhelm Högner
Auf dem die Kirche umgebenden alten Friedhof von St. Martin in Untermenzing befindet sich neben den Gräbern eingesessener Familien die letzte Ruhestätte des Sozialdemokraten Josef Felder (1900–2000), der als Reichstagsabgeordneter 1933 gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmte und deshalb verfolgt wurde. Er wurde, zuletzt wohnhaft in der Auenbruggerstraße, im Beisein führender deutscher Sozialdemokraten in Untermenzing bestattet.
Auf Josef Felder (1900-2000), den berühmten Reichtagsabgeordneten, und Rosa Aschenbrenner (1885-1967), die etwas unberechenbare SPD-, USPD-, KPD- und wieder SPD-Angehörige, ist die SPD unseres Stadtbezirks besonders stolz. Peter Stegmüller, Hans Fischer, Hans Bieringer und Willi Holz waren, wie die SPD-Festschrift zur Hundertjahrfeier von 2007 berichtet, als Mitglieder der SPD Allach-Untermenzing von 1947 bis 1979 nacheinander Bezirksausschussvorsitzende. Benno Kreitmair, Peter Krahl und Heidemarie Köstler folgten später. Nach Hans Bieringer und Peter Stegmüller sind zwei kleine Straßen in unserem Stadtbezirk benannt.
Von den Genannten hat sich Hans Fischer im Jahr 1933 besondere Verdienste um eine herausragende Person der bayerischen Geschichte erworben: den ehemaligen Reichstagsabgeordneten der SPD, von den Nazi verfolgten und späteren bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Wilhelm Högner. Zum eigenen Lebenslauf schreibt Hans Fischer, dass er am 10. Februar 1905 auf der Schwanthaler Höh' geboren sei und noch sieben Geschwister hatte. Seinen Vater Johann Fischer (1879-1958), einen überzeugten Sozialdemokraten, NS-Gegner und KZ-Häftling, haben wir bereits kennen gelernt. Das obige Familienfoto aus dem Jahr 1935 zeigt ganz links oben Hans Fischer im Kreis der näheren Verwandtschaft (Bild 1). Noch in den 20er Jahren war die Familie Fischer in ein Siedlerhaus nach Untermenzing in die Rupprechtstr. 14, die heutige Waldhornstraße 49 gezogen. Hans Fischer machte von hier aus eine Schreinerlehre mit Besuch der Fortbildungsschule (heute Berufschule) für Schreiner, ging drei Jahre auf Wanderschaft ins Allgäu und arbeitete dort auch bei Skiherstellern. 1924 kam er zur Sozialistischen Arbeiterjugend, bald darauf zur SPD und zwei Jahre später zu den Naturfreunden, einer 1898 in Österreich gegründeten Organisation, die der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie nahestand.
Daraus entwickelte sich seine Tätigkeit als Skilehrer und Bergführer auf der Marienberghütte hinter der Zugspitze. Es muß sich um die Hütte gehandelt haben, die während des Krieges als Ausbildungsplatz der HJ benützt und 1945 beim Einmarsch der Amerikaner von diesen dem Erdboden gleichgemacht wurde. Später arbeitete Fischer auf dem Raintalerhof bei Garmisch. Vor allem seine Rolle als verlässlicher und erfahrener Bergführer führte dazu, dass Fischer Anfang Juni 1933 von zwei SPD-Parteigenossen gebeten wurde, den damaligen Führer der bayerischen SPD, Dr. Wilhelm Högner, und Dr. Franz Blum, den Chefredakteur der „Sozialdemokratischen Parlamentskorrespondenz, vor den Nazi nach Österreich in Sicherheit zu bringen. Fischer hatte Högner schon vorher bei einem Skikurs auf dem Raintalerhof kennen gelernt. Zu diesem Unternehmen gibt es drei Versionen. Die eine von Fischer und vermutlich stimmige heißt „Fluchthilfe über die Alpen" (1983), die anderen stammen von Högner selbst, er nennt sie einmal „Abschied" (1979), ein andermal „Über alle Berge" (1959), auch zwei Biografen beschreiben die „Flucht aus der Heimat" (1957). Die Bevorzugung der einen schließt bei Bedarf den Blick in die anderen nicht aus.
Die Drei starteten nach einigen Verschiebungen am 11. Juli 1933 um 8 Uhr morgens an der Kreuzung Winzerer-/Schwere-Reiter-Straße mit dem Auto und Fahrer des befreundeten jüdischen Arztes Dr. Klar in Begleitung von dessen Frau. Sie fuhren über den Kesselberg zur Husselmühle am Ortseingang von Mittenwald, eine Fahrt, die Högner besonders von der Einmaligkeit des Walchensees schwärmen lässt. An der Stelle, wo von der Straße der Pfad zur noch heute frequentierten Hochlandhütte abbiegt, stiegen sie aus und, wie Fischer schreibt, „sind also losgetigert". Die hier beschriebene Route hält sich zwar eng an die Darstellung Fischers, wurde aber von mir mit Unterstützung von Herrn Jochen Brune, Alpine Auskunft des Deutschen Alpenvereins, in eine Wanderkarte von heute eingezeichnet und zeitlich nachvollzogen (Bild 2). Der Sohn Fischers, Hans Peter Fischer, hat zum 70. Jahrestag zusammen mit seinem Sohn Christian, dem Urenkel Högners und anderen versucht, den beschriebenen Weg nachzugehen, scheiterte jedoch auf dem unwegsamen Pfad zur Tiefkarspitze. Im Juli dieses Jahres wollen wir in Begleitung befreundeter Bergführer einen neuen Versuch unternehmen. Nun zur Fischer-Route.
Nach einem anfänglich problemlosen Anstieg Richtung Ochsenboden musste eine Stelle beachtet werden, die vom SA-Posten auf der Hochlandhütte über ein dort aufgestelltes großes Fernrohr eingesehen werden konnte. Fischer beobachtete den Posten, bis dieser sich entfernte, und gab dann Blum und Högner das Zeichen zum Queren der gefährlichen Stelle. Nun waren sie weitgehend in Sicherheit. Der Aufstieg zum Tiefkar war eine leichte Kletterei, „aber als wir auf der Tiefkarspitze ankamen, kam ein fürchterliches Gewitter, es hagelte und schneite", schreibt Fischer. Nach meinen Erkundigungen würde man bei einer Überquerung jedoch kaum auf die Tiefkarspitze klettern. Sie gilt nach Angaben als Hochalpine und ausgesetzte Route mit einer III+ Stelle, meistens II und I, so nehmen die Tiefkarspitze selten Leute in Angriff, die der Kletterei nicht gewachsen sind. Vielmehr wird die Gruppe um Fischer über steile Grashalden und spitze Felsen, wie Högner schildert, zu einem schmalen Felsgrat hochgestiegen sein, der die Grenze zwischen Bayern und Österreich bildet. Nachdem das Schlimmste überstanden war, machten sich die Drei total durchnässt und durchgefroren an den Abstieg, den Blum allein, Högner aber am Seil von Fischer in Angriff nahm. Da es inzwischen Nacht geworden war, warteten sie frierend in den Felsen auf die Morgendämmerung.
Während Fischer nur noch davon schreibt, dass „wir dann runter bis zur Straße, die von Scharnitz aufs Karwendelhaus geht", gingen, finden wir im Text von Högner aus der Sicht des Unerfahrenen alle Leiden und Probleme des Abstiegs und der langen Straßenwanderung in aller Ausführlichkeit dargestellt. Sie landeten schließlich völlig erschöpft und durchnässt im „Gasthof zum Neuwirt", eine Wirtschaft, die heute noch besucht werden kann. Der Neuwirt war nach Aussagen Fischers ein Tiroler SPD-Mann, wusste vom Fluchtversuch und brachte sie „in trockene Tücher". Fischer schaffte es mit erheblichen Schwierigkeiten mit dem Zug über Mittenwald wieder nach München zu kommen, Blum und Högner sind in Sicherheit und setzten sich bald nach Wien ab.
Högner (Bild 3) kam sicher nach Wien, später dann in die Schweiz, wobei Fischer (Bild 4) auch seiner Familie, diesmal als Zugbegleiter mit gefälschten Pässen, behilflich war. Die Familie Högner lebte dort von 1934-1945 im Exil. Blum wurde Redakteur einer sozialdemokratischen Zeitung in Linz, blieb nach 1938 in Österreich und starb 1947 in Linz.
Hans Fischer heiratete 1936 und baute für seine Frau und zwei Kinder das noch heute bestehende und von seinem Sohn Hans Peter mit Frau bewohnte Haus in der Ernst-von-Romberg-Straße in Untermenzing. Bis zu seiner Einberufung 1940 zur Luftwaffe arbeitete er als Schreiner bei verschiedenen Münchner Firmen. Ende 1944 war er Funker bei der Flugsicherung in München-Riem, wurde von der Gestapo verhört wegen eines Fotos, das damals bei der Fluchthilfe für Högner gemacht wurde, konnte darauf aber nicht hinreichend identifiziert werden. Durch die Warnung eines Wehrmachtsvorgesetzten war er vom Besuch vorgewarnt worden; um aber doch nicht verhaftet zu werden, verbarg er sich bis zum Einmarsch der Amerikaner hinter einer Mauer im Keller seines Hauses.
Als überzeugter Sozialdemokrat trat Fischer 1945 sofort wieder der Münchner SPD bei, wurde 1948 Mitglied des neugegründeten Bezirksausschusses 38, den er von 1953-1956 als Vorsitzender leitete, danach war er für die Bürgern unseres Stadtteils für 16 Jahre zum Münchner Stadtrat gewählt. Zudem hat er in den ersten Nachkriegsjahren die Meisterprüfung im Schreinerhandwerk abgelegt und sich mit einer eigenen Schreinerei selbständig gemacht. Zu seinem 79. Geburtstag erhielt er die Georg-von-Vollmar-Medaille für seine 50jährige Mitgliedschaft in der SPD, seine Verdienste in der Münchner Kommunalpolitik und zur Erinnerung an die hier beschriebene Rettung Högners. Man nannte ihn damals in Anlehnung an den berühmten Gegner der Römer, Hannibal (246-183 v. Chr.), der mit seinem Heer und 39 Elefanten die Alpen überquerte, den „Hannibal der SPD".
Hans Fischer starb am 04.09.1991 im Alter von 86 Jahren und ist im Westfriedhof begraben.
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