"Starke Schultern sollten mehr tragen als schwache"
VdK-Präsidentin Verena Bentele über eine einfache Idee und ein gescheitertes Experiment, über gerechte Rente und unterschiedlich verteilte Risiken und über ein stabiles Fundament gegen Armut
Als Biathletin und Skilangläuferin errang Verena Bentele von 1995 bis 2011 vier Weltmeistertitel und war zwölf Mal Paralympics-Siegerin. 2011 schloss sie ein Magisterstudium in den Fächern Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaften und Pädagogik ab. Bereits vor Ende ihrer sportlichen Karriere begann sie, sich sozialpolitisch zu engagieren. Von 2014 bis 2018 war sie die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Seit 2018 leitet sie als Präsidentin den größten deutschen Sozialverband VdK. Über ihr Buch "Wir denken neu - Damit sich Deutschland nicht weiter spaltet" unterhielt sich Verena Bentele mit Johannes Beetz.
"Immer mehr haben Ängste statt Hoffnungen"
Sie sehen Deutschland am „Wendepunkt“ und warnen vor Spaltung. Mal ehrlich: Die meisten von uns genießen eine Lebensqualität, die noch keine Generation vor uns erreicht hat. Blicken Sie da nicht etwas zu düster auf uns?
Verena Bentele: Ich blicke vor allem realistisch auf unsere Gesellschaft. Hinter uns liegen Jahrzehnte mit starkem Wirtschaftswachstum. Doch davon hat nur eine kleine Gruppe extrem profitiert und konnte den Reichtum enorm steigern. Etwa 50 Prozent der Bevölkerung konnte dagegen bis heute kein Vermögen aufbauen oder ist sogar verschuldet. Der Niedriglohnsektor ist von fünf auf 20 Prozent explodiert. Die Schere geht immer weiter auseinander. Immer mehr Menschen aus der Mittelschicht haben Abstiegsängste statt Aufstiegshoffnungen. Corona wird diese Entwicklung massiv beschleunigen.
"Alle zahlen ein, alle bekommen Leistungen"
Sie erklären auf gerade einmal 136 Seiten die zentralen Elemente unseres Sozialstaates – Gesundheit, Rente, Pflege. Das sind komplexe Themen, mit denen sich Heerscharen von Juristen, Sozialpolitikern und Verwaltungsexperten herumschlagen. Woher nehmen Sie den Optimismus, mit dem Sie einfache Lösungen vorschlagen, die jeder Bürger nachvollziehen kann?
Verena Bentele: Der Sozialstaat ist eine ganz einfache und hervorragende Idee. Die Heerscharen von Jurist:innen und Ökonom:innen erklären zu oft, was alles nicht gehen soll. Meine Idee: Alle zahlen ein, alle bekommen Leistungen – eigentlich ganz einfach.
Seit über 100 Jahren haben wir ein gutes Sozialversicherungssystem, mit dem wir unsere Probleme lösen könnten. Leider wurde genau dieses System nicht gestärkt, sondern geschwächt. Und wohlhabende Teile der Gesellschaft haben sich in Parallelsysteme verabschiedet. Das müssen wir ändern: Wenn alle je nach ihrer Stärke in die gesetzlichen Sicherungssysteme für Rente, Gesundheit und Pflege einzahlen würden, hätten wir ein extrem stabiles Fundament gegen Armut und soziale Verwerfungen und damit für einen stabilen Staat. Für jeden.
"Sie hat sich in Krisen bewährt"
Private Vorsorge kann sich nicht jeder leisten - und sie hält nicht alle ihre Versprechen. „Riestern hat vor allem der Finanzwirtschaft genutzt“, schreiben Sie zum Beispiel. Ausreichende Vorsorge ist für jeden Bürger elementar. Kann der Staat das besser?
Verena Bentele: Davon bin ich überzeugt. Die umlagefinanzierte Rente ist aus meiner Sicht ein deutsches Erfolgsmodell, das sich in Krisen wie der gegenwärtigen aufs Beste bewährt. Die private Riesterrente hingegen ist ein gescheitertes Experiment.
"Sie ist gerechter"
Sie fordern eine gesetzliche Rente für alle. Weil die gesetzliche Rente nicht von Anlagestrategien und Kursentwicklungen abhängt, ist sie für Sie nachhaltig und verlässlich. Warum wäre sie auch gerechter?
Verena Bentele: Sie ist gerechter, weil mit den Beiträgen für die gesetzliche Rente viele Leistungen finanziert werden, die für die gesamte Gesellschaft wichtig sind. Zum Beispiel die Mütterrente oder die Folgekosten der Wiedervereinigung. Das bedeutet: Vor allem hart arbeitende Menschen haben aus ihrem Topf gesamtgesellschaftliche Aufgaben finanziert. Das ist nicht fair. Daran sollten sich alle beteiligen.
"Ruhestand heißt nicht Sorgenfreiheit"
Die Altersstruktur ist heute ganz anders als zur Zeit unserer Großeltern. Längst kommen viel mehr Rentner mit viel längerer Bezugszeit auf viel weniger Beitragszahler. Haben Sie bei Ihren Vorschlägen den demografischen Wandel ausgeblendet?
Verena Bentele: Die Zahlen der Deutschen Rentenversicherung belegen, dass die Rentenbezugsdauer stagniert und sogar leicht fällt. Und Ruhestand heißt bei vielen nicht Sorgenfreiheit. Arbeiter:innen, Pflegekräfte, Geringverdiener:innen, die schaffen es gar nicht, bis 65 bzw. 67 durchzuhalten, und müssen mit hohen Abschlägen vorzeitig in Rente gehen. Außerdem sterben sie oft früher als das obere Drittel.
"Für den Einzelnen ein sehr hoher Wert"
Kranken-, Pflege, Renten- u.a. Absicherungen sind ein „Kostenfaktor“. Er schlägt z.B. bei den Lohnnebenkosten auf, den manche Politiker und Wirtschaftsvertreter möglichst niedrig halten wollen. Sie schreiben dagegen den schönen Satz „Sozialversicherung schafft Werte“. Welche denn?
Verena Bentele: Die Sozialversicherung hilft allen gesetzlich versicherten Menschen, wenn sie krank, arbeitslos oder pflegebedürftig werden. Müsste sich jeder privat gegen diese Risiken absichern, müssten alle sehr reich sein. Die Sozialversicherung schafft also für den Einzelnen einen sehr hohen Wert und stützt nebenbei die regionale Wirtschaft. Der Rentner oder die Rentnerin kauft Brötchen, geht zum Friseur oder ins Café und bezahlt Handwerker:innen. Das beschreiben wir ja auch im Buch.
"Wir müssen dringend etwas tun"
In der Pflege und am Krankenbett zeigt sich besonders deutlich: Nicht allein gute Technik entscheidet, sondern auch Kompetenz und Empathie der sich kümmernden Menschen. Beides lässt sich nicht in Excel-Tabellen kalkulieren. Haben wir - Stichwort Fachkräftemangel - diese banale Grundregel zu wenig beachtet?
Verena Bentele: Pflege und Krankenversorgung können nicht in das Profitkorsett gezwungen werden. Im Gesundheitsbereich bewegen wir uns sehenden Auges auf eine Katastrophe zu. Berechnungen von Expert:innen zufolge werden wir 2050 eine halbe Million Pflegekräfte zu wenig haben. Wir müssen dringend etwas tun, um die Pflegeberufe attraktiver zu machen: eine bessere Vergütung vor allem, aber auch weniger belastende Arbeitsbedingungen.
"Lasst uns endlich in die Kinder investieren"
Wenn wir von tollen Renditen und Profiten träumen, vergessen wir, was jeder Landwirt weiß: Wer ernten will, muss zuvor säen … und dann viel Geduld aufbringen. Getreide wächst nicht schneller, wenn man an den Halmen zieht. Und Geld „arbeitet“ nicht; das können immer nur Menschen. Sie wollen „neu denken“. Wo liegt denn der gegenwärtige Denkfehler? Was machen andere besser als wir?
Verena Bentele: Schauen wir doch mal nach Dänemark: Dort arbeiten 70 Prozent der Mütter in Vollzeit, weil sie ihre Kinder in Kitas und Schulen bestens betreut wissen. Dort sind auch viel weniger Kinder von Armut bedroht als hierzulande. In Deutschland gilt jedes fünfte Kind als arm – ein Skandal für ein so reiches Land! Wie ich als Landwirtstochter sagen würde: Lasst uns endlich in die Kinder, unsere Zukunft, investieren.
"Die Spaltung wird vertieft"
Die Pandemie hat gezeigt, wie schnell „Selbstverständliches“ in Frage gestellt ist. Die Menschen erleben ganz unterschiedliche Herausforderungen und manche nehmen sehr gegensätzliche Positionen ein. Wie ist Ihre Beobachtung: Trägt Corona zur Spaltung bei oder rücken wir wieder näher zusammen?
Verena Bentele: Beides. Ich fürchte aber, vor allem die Spaltung wird vertieft. Auch hier sind einmal mehr die Risiken extrem unterschiedlich verteilt. Die einen können im Homeoffice arbeiten und leben in größeren Wohnungen oder Häusern. Ihr Lebensmodell ist kaum bedroht.
Ein immer größerer Teil der Gesellschaft hat deutlich weniger Ressourcen, muss in der Fabrik oder im Geschäft ohne Abstand zu anderen arbeiten und wird dafür oft noch schlecht entlohnt. Die Krise hat zudem schon viele Niedriglohnjobs gekostet. Auch Kurzarbeit trifft Geringverdienende härter und häufiger als Gutverdienende.
"Solidarität ist die beste Armutsprävention"
Soziale Sicherheit ist kein „Gutmenschentum“, sondern sie sorgt für die Stabilität einer Gesellschaft und die Sicherheit aller Bürger. Auch der Multimillionär fühlt sich wohler, wenn er sich mit seinen Besitz nicht verbarrikadieren muss. Sie halten es für machbar, dass alle ohne Armut aufwachsen und leben können. Sie glauben, dass Teilhabe für alle erreichbar ist. Ist das nicht utopisch? Wir bekommen es ja noch nicht einmal in den Familien hin, alle Aufgaben und Chancen gerecht zu verteilen.
Verena Bentele: Das stimmt. Im Schnitt verdienen Frauen weniger Geld, bekommen deutlich niedrigere Renten und erledigen überwiegend die sogenannte Sorgearbeit wie Kindererziehung und Pflege von Angehörigen. Solidarität ist die beste Armutsprävention. Der VdK fordert, dass starke Schultern mehr tragen als schwache. Derzeit zahlen wenig Verdienende prozentual deutlich mehr Steuern und Abgaben von ihrem Einkommen als reiche. Das heißt, Steuern, wie z.B. die Erbschaftssteuer, muss reformiert und angepasst werden.
"Hier muss Ausgleich geschaffen werden"
Die Digitalisierung ist für viele Politiker ein „Zauberwort“, das jede Menge Probleme lösen soll. Sie verlangen eine Digitalsteuer für Amazon und andere. Warum denn das?
Verena Bentele: International tätigen Firmen und großen Unternehmen wird es sehr leicht gemacht, wenig bis gar keine Steuern zu zahlen. Das ist meist nicht illegal, sondern läuft bestenfalls unter „Steuertricks“. Kapital wird geringer besteuert als Arbeit. Auch digitale Unternehmensmodelle mit sehr wenig Mitarbeiter:innen und hohen Gewinnen im Digital- und Finanzmarkt müssen wenig Steuerlast fürchten. Hier muss dringend Ausgleich zwischen kleinen und mittelständischen Unternehmen und international agierenden Konzernen geschaffen werden.
"Es ist ein Buch für alle"
Wer sollte Ihr Buch unbedingt lesen?
Verena Bentele: Ehrlich gesagt finde ich, es ist ein Buch für alle: für junge und ältere, für ärmere und wohlhabendere Menschen. Es sollten natürlich auch alle gekürten und kommenden Kanzlerkandidat:innen lesen als Kompass ihrer künftigen Sozialpolitik. Am Ende wollen alle in einer stabilen Gesellschaft leben. Daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten.
"Keiner muss hinten runterfallen!"
Wenn Sie drei Dinge sofort ändern könnten, welche wären das?
Verena Bentele: Sofort wäre ich sogar mit nur einer Änderung sehr zufrieden: eine große Sozialversicherung für alle. Zur Absicherung von Pflege, Rente, Gesundheit zahlen alle nach ihren jeweiligen Möglichkeiten ein und bekommen Unterstützung, wenn es nötig ist. Ich glaube fest daran, dass in Deutschland keiner hinten runterfallen muss. Wir sind ein starkes Land!
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