Erfahrung trumpft auf
Was haben unsere Großeltern uns beigebracht?
Großeltern gehen mit ihren Enkeln ganz anders um als Eltern mir ihren Kindern. Großeltern sind oft gelassener; sie sind zugleich Anlaufstelle bei vielen Sorgen und Problemen - wenn die Eltern nur Unverständnis erübrigen, wenn die eigene Weisheit an Grenzen stößt oder einfach langjährige Erfahrung gefragt ist. Denn wer gesellschaftliche Veränderungen selbst erlebt hat, kann Herausforderungen und mögliche Lösungen klarer benennen als Jüngere. In einer Welt, in der heute nichts mehr so scheint wie morgen, ist der Erfahrungsschatz der Alten ein Trumpf von unschätzbarem Wert. In unserer Serie "Erfahrung trumpft auf" wollen wir diesen Schatz teilen. Unsere vier Trümpfe erinnern sich: Was haben sie von ihren Großeltern füs Leben gelernt?
Winfried Bürzle: "Alles ein wenig lockerer sehen"
"Ach, lass doch den Bub in Ruhe. Der braucht doch auch mal seinen Spaß!" Solche Worte erklingen bis heute in meinem Ohr, wenn ich an meine Oma väterlicherseits denke (leider der einzige Großelternteil in meinem Leben).
Gerichtet waren sie an meine Mutter oder meinen Vater, wenn es wegen vergessener Hausaufgaben, unaufgeräumtem Zimmer oder einer von oben bis unten ölverschmierten Hose wieder eine Standpauke setzte.
Wie konnte es sein, dass also die Mutter eines Elternteils so großzügig mit meinen Schwächen umging, so wohlwollend mit den Ausrutschern und Dummheiten eines Kindes oder Jugendlichen? Sicherlich hat sie doch als Mutter gegenüber meinem Vater ähnlich reagiert wie meine Eltern jetzt gegenüber mir.
"Nicht immer und alles kontrollieren"
Die Antwort ist relativ einfach: Sie hatte sie keinen Erziehungsauftrag mehr. Das war Sache meiner Eltern. Also konnte sie alles ein wenig lockerer sehen. Sie verspürte auch keinen Erwartungsdruck. Weder persönlich, beruflich, noch mit Blick auf möglichst „wohlgeratene“, erfolgreiche und „nette“ Kinder. Und schließlich hatte ihr die Erfahrung gezeigt, dass ein überzogenes Regelwerk nicht alleinseligmachend ist.
Entsprechend „unvernünftiger“ auch der Umgang mit dem Kind. Eben mal fünf gerade sein lassen, den Enkel machen lassen, nicht immer und alles kontrollieren.
Das ist wohl auch die wichtigste Lehre, die ich aus diesen schönen Erfahrungen ziehen konnte. Und die ich vor allem den sogenannten „Helikopter-Eltern“ weitergeben möchte. Die über dem Kind kreisen in einem Überwachungswahn, der selbst NSA oder KGB zur Ehre gereicht.
Ja, eine Treppe birgt eine große Verletzungsgefahr in sich, wenn man sie nicht Stufe für Stufe nimmt … Ja, das Pausenbrot wird relativ unverdaulich, wenn man die Alufolie mit isst … Ja, beim Fußballspielen sind schon Menschen gestorben …
Die Konsequenz? Am besten die Wohnungstür abschließen und gar nicht mehr nach draußen gehen. Man könnte ja von einem herabfallenden Dachziegel vor dem Haus oder dem umstürzenden Christbaum am Marienplatz erschlagen werden. Halleluja nochmal! Was dazu wohl meine Oma sagen würde?
Ingrid Appel: "Aus allem etwas machen"
Es waren die Nachkriegsjahre, in denen mich meine Großeltern prägten, deshalb sind viele Ratschläge nicht mehr nötig oder heute nicht mehr gültig. Jedoch: Wer weiß, wann man es mal braucht oder verwenden muss?
Geholfen haben mir insbesondere in meinem beruflichen Leben die Regeln für ein gutes Miteinander. Höflichkeit, Taktgefühl und Zuhören haben mir immer geholfen, mit anderen gut auszukommen. Diese Regeln und der Respekt vor dem Gegenüber haben auch heute noch ihre Geltung nicht verloren. Es war immer Pflicht beim Grüßen, einen Knicks zu machen, Gottseidank gilt dies heute nicht mehr.
Gelernt habe ich, dass man keine Lebensmittel, insbesondere kein Brot wegwerfen darf! Ich bemühe mich, dies zu berücksichtigen, aber es ist viel schwieriger geworden, da die Lebensmittel heute anders bearbeitet werden. So wurden Brotreste für schwere Zeiten getrocknet, es war der kalte Krieg und man hatte Angst, Hunger zu erleben.
"Hauptsache, man hat geputzte Schuhe"
Dass man aus allem, was die Natur uns gibt, etwas machen kann, ist eine weitere Lehre. In Notzeiten wurden essbare Pflanzen wie Löwenzahn, Brennessel, Bärlauch für Salate und Gewürze gesammelt, Apfelschalen wurden für Tee getrocknet, Eicheln und Bucheggerln wurden für Kaffee geröstet. So kann man aus allem, was da ist, etwas machen.
Aus Bekleidung kann man immer wieder etwas Neues machen, zumindest den Stoff für Kissen oder Ähnliches verwenden, Strickwaren auftrennen und Neues fertigen.
Mein Großvater war der Meinung, ganz egal was man zum Anziehen hat, Hauptsache, man hat geputzte Schuhe. Wenn es keine Schuhcreme gab, musste auch Spucke herhalten. Auch später, als er zu uns zu Besuch kam, putzte er die Schuhe der gesamten Familie, dann allerdings mit Schuhcreme.
Besonders hat mich seine Einstellung zu sozialem Verhalten geprägt: Man muss das, was man hat, mit denen, die nichts haben, teilen und das, was man kann, für andere einsetzen. Dinge gegen anderes tauschen ist auch eine Option.
Dies Alles ging mir durch den Kopf, als ich den Aufruf der Bundesregierung zur Vorratshaltung hörte. Hoffentlich wird es niemals nötig werden!
Ulrike Mascher: "Man kriegt nichts geschenkt"
Meine Großmutter war eine tatkräftige Frau. Sie hat mir einen wichtigen Rat gegeben, der lautet: „Man kriegt nichts geschenkt.“ Das klingt erst einmal hart. Aber so eine Grundhaltung verschafft auch eine gewisse Freiheit und fordert zur Selbstständigkeit auf. Für mich heißt das: Nicht darauf warten, dass andere etwas für mich erledigen, sondern selbst anpacken. Also auch mal etwas ausprobieren, was anderen ganz unmöglich erscheint – und mit Erfolg belohnt werden.
So hatte meine Großmutter, die in einem Dorf bei Heidelberg lebte, zum Beispiel den Ehrgeiz, zu Ostern der Familie selbst angebaute Kartoffeln servieren zu können. Sie setzte dafür im Spätherbst Kartoffeln in einer Ecke ihres Gartens ein. Dieses Beet hegte und pflegte sie den ganzen Winter hindurch – worüber die Leute im Dorf den Kopf schüttelten. Doch in neun von zehn Jahren standen zu Ostern die eigenen Kartoffeln auf dem Tisch, während in anderen Haushalten die teuren exotischen Frühkartoffeln aus Ägypten oder Marokko gekauft werden mussten, wenn man welche haben wollte.
So gehen alle Hefeteige auf
Meine Großmutter war eine Frau, die mit Disziplin, viel Arbeit, aber auch mit Genuss zu leben wusste. Sie stand immer sehr früh auf, aber irgendwann am Vormittag genehmigte sie sich jeden Tag ein kleines Glas Rotwein. Ich habe sie als lebenstüchtige und gelassene Frau in guter Erinnerung. Für mich und meine Schwester waren ihre Hefeteigkuchen legendär. Ich glaube, in ihrem Leben sind alle Hefeteige aufgegangen – mochte es drum herum noch so turbulent sein.
Dr. Walter G. Demmel: "Man kann mit dem Wenigen zufrieden sein"
Zunächst einmal ist festzustellen, dass aufgrund meines Alters (80) meine Großeltern weit, weit weg sind, ich mich an die Eltern meines Vaters (in Oberbayern) und die meiner Mutter (im Bayerischen Wald) recht unterschiedlich erinnere.
Im Elternhaus meines Vaters, einem kleinen Bauernhäuschen mit drei Kühen und einigem Kleinvieh, wohnten wir von Anfang 1946 bis Ende 1947. Die Großeltern hatten ursprünglich zwölf Kinder, die inzwischen alle aus dem Hause waren, drei der sechs Söhne waren im Krieg gefallen. Die Großmutter schuftete von früh bis spät im Haus, im Stall und auf dem Feld, der Großvater war als Wegmacher für die Gemeindestraßen zuständig. Nach der Schule durfte ich mit ihm arbeiten.
Gelernt: Wer wenig hat, kann es auch durch härteste Arbeit nicht mehren, kann aber auch mit diesem Wenigen zufrieden sein. Diese Großeltern starben so arm, wie sie in jungen Jahren schon waren. Gute alte Zeit? Ich habe die Großeltern Ende 1947 zum letzten Mal gesehen und konnte leider auch nicht auf ihre Beerdigung.
"Man macht sich vielfach etwas vor"
Das Elternhaus meiner Mutter lag auf einer Anhöhe und am Rande eines kleinen Dorfes. Mein Großvater, der ein kleiner Bauer mit ca. acht Kühen und ein schlechter Viehhändler war (er zahlte lebenslang Lehrgeld), ist mir kaum in Erinnerung (nur durch ein Foto), weil er starb, als ich drei Jahre alt war.
Wir kamen zu diesen Großeltern zwischen 1937 und 1941 nur zu kürzeren Besuchen und nach dem Krieg ab 1950. In Erinnerung blieb mir nur die Großmutter, die aus meiner kindlichen Sicht eine gute Köchin war und alle Familienmitglieder versorgte, so lange sie konnte. Sie war nach der Hofübergabe für eine bäuerliche Großfamilie tätig, die ihr ihre Arbeit selten bis gar nicht lobend anerkannte. In der Familie wurde viel gestritten, vor allem der Bauer, der Schwiegersohn behandelte meine Großmutter sehr schlecht.
Gelernt: Auch die bäuerliche Großfamilie war nicht der Garant für ein friedliches Beieinander. Man macht sich vielfach etwas vor, wenn man das Generationen übergreifende gute Zusammenleben in früheren Zeiten (Gute alte Zeit?) und auf dem Lande als Beispiel für unsere Tage nimmt.
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