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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
„Zuhören verbindet!“
Nehmen wir uns Zeit zum Zuhören?
Der Schriftsteller Ernest Hemingway sagte einmal: „Die meisten Menschen hören niemals zu.“ Das mag vielleicht übertrieben sein, aber wir kennen alle die nervenden Situationen, wenn unser Gesprächspartner mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein scheint oder gar sein Handy checkt, während wir reden. „Du hörst mir gar nicht zu!“, meinen wir dann vorwurfsvoll. Dabei halten sich Umfragen zufolge 96 Prozent aller Erwachsenen für gute Zuhörer.
„Richtiges Zuhören ist eine Kunst, die gar nicht so leicht umgesetzt werden kann“, meint Tobias Deger. Der Gerontologe und Sozialpädagoge leitet seit zwei Jahren das Alten- und Servicezentrum Obermenzing (ASZ). „Es gibt diese wunderschöne Geschichte von Momo in Michael Endes Roman“, erzählt er weiter. „Demnach konnte Momo so gut zuhören, dass dummen Leuten auf einmal gescheite Gedanken kamen, dass traurige Menschen glücklich wurden und dass Ratlose plötzlich wussten, was sie zu tun hatten. Die Geschichte ist wirklich sehr berührend und trifft genau, worum es beim Zuhören geht. Aber im Alltag ist das kaum umzusetzen.“
Zuhören, wie es Momo konnte
„Gutes Zuhören hat viel damit zu tun, ganz und ausschließlich im Hier und Jetzt zu sein“, ergänzt Susanne Hofmann von der evangelischen Pflegeakademie. In Zeiten von Computer, Handy und Co gebe es dafür viele Negativbeispiele, meint auch Ralf Honig, evangelischer Pfarrer der Gethsemanekirche Sendling-Westpark. „Da bekommen wir Nachrichten und lesen sie augenblicklich. Wir könnten ja irgendetwas verpassen. Deshalb habe ich es mir zum Grundsatz genommen, während eines Gesprächs grundsätzlich nicht ans Telefon zu gehen.“
Für Anke Büttner, Leiterin der Programmarbeit der Münchner Stadtbibliothek, hat Zuhören etwas Soziales. „Zuhören verbindet! Von Angesicht zu Angesicht entstehen echte Zuhör-Momente“, meint sie. „Das hat ganz viel mit Zusammensein zu tun.“ Die Bibliotheken sind echte Orte der Stille in unseren hektischen Zeiten. „Mit fortschreitender Digitalisierung nehmen die Leute unsere Angebote stärker an.“
Handy aus!
Beim heutigen Berufs- und Freizeitstress bleibt uns aber oft gar nichts anderes übrig, als viele Sachen gleichzeitig anzugehen. Besonders der straff getaktete Arbeitstag und die von Chefs, Kollegen und Partnern geforderte Dauerpräsenz zwingen uns dazu. „Es herrscht überall so ein hoher Druck“, klagt Katharina Galuschka aus der Forschungsabteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LMU. „Da schreibe ich schon auch schnell mal eine Email, während ich telefoniere. Oder ich schaue die Nachrichten durch, während ich mit jemandem spreche. Wir haben die Möglichkeiten dazu, aber eben auch den Druck, möglichst viel in möglichst weniger Zeit zu tun.“
Von Momo sind wir damit weit entfernt. Dabei wäre ein guter Zuhörer ein "schweigender Schmeichler", wie es Immanuel Kant ausdrückte, und täte uns allen gut. Kann man gutes Zuhören lernen? „Das gehört zu den Grundwerkzeugen der sozialpädagogischen Ausbildung dazu. Und es ist das Grundprinzip jeder sozialen Beratung“, berichtet Deger. Aber „intus“ habe es deswegen noch keiner der Absolventen oder Beratenden. „Das Schwierige ist, keine Ratschläge zu geben, auch wenn die Hektik noch so groß ist - und das ist sehr, sehr schwer.“
„Öffner für viele eigene Gedanken“
Nur bis zu einem gewissen Grad kann man gutes Zuhören lernen, der Rest ist Lebenserfahrung, innere Gelassenheit und Respekt. Gelingt es uns aber, uns ganz auf den anderen einzustellen und ihm unsere volle Aufmerksamkeit zu schenken, dann werden die Gespräche tiefer und wir erfahren viel mehr vom Gegenüber - und von uns selbst.
„Gute Seelsorge ist hauptsächlich Zuhören“, betont Honig, „und nicht Sprüche klopfen und mit klugen Ratschlägen daherkommen. Ich finde, dass das Zuhören der Öffner für viele eigene Gedanken sein sollte. Durch bloßes Zuhören entwickelt sich das Gespräch in eine Richtung, die wirklich nur durch Zuhören möglich ist. Daraus kann ich für mich viel mitnehmen, das verändert mich und meine Sichtweise. Das ist wunderbar und spannend“, sagt Honig.
Können Politiker zuhören?
„Das klingt gut, ist aber schwierig“, entgegnet Galuschka. „Die Rolle des Zuhörers muss man sich auch gönnen.“ „Die Frage ist berechtigt: Welche Rolle nehme ich ein?“, so auch Micky Wenngatz, SPD-Landtagskandidatin. „Ich muss als Politikerin herausfinden, was die Menschen bewegt. Wenn ich meine Aufgabe als Politikerin ernst nehmen möchte, muss ich zwangsläufig den Menschen zuhören. Dafür muss ich Situationen schaffen.“
Doch Hofmann antwortet: „Keine Situationen schaffen, sondern in Beziehung gehen und diese gestalten und halten – darauf kommt es an! Bei uns in der Gerontopsychiatrie ist es die höchste Kunst zu sagen, ich nehme mit diesen kranken Menschen Kontakt auf. Das kann man meines Erachtens auch nicht lernen, sondern dazu braucht es ein gewisses Talent und Potenzial.“
Bewusster Umgang mit der Zeit
Dem kann Deger nur zustimmen. „Besonders Kinder und Demenzkranke leben ausschließlich in der Gegenwart, sie sparen sich nicht für ein Morgen oder für ein Später auf. Mit ihnen habe ich die schönsten Zuhör-Momente.“ „Von ihnen sollten wir mehr lernen und uns bewusst machen, was wirklich wichtig ist und was alles uns unsere Zeit stiehlt“, meint Galuschka. „Gibt es denn Dinge, die uns die Zeit stehlen? Nein! Man lässt es nur zu“, entgegnet Hofmann.
Für Wenngatz liegt die Lösung im Zeitmanagement und der „Identifizierung unserer Zeitdiebe“. Damit sind allerdings nicht alle in der Gesprächsrunde einverstanden. „Wie soll das denn gehen – die Zeit managen?“, fragte Hofmann. „Genau! Das widerspricht sich. Wie passt das Zuhören dazu? Das ist doch nicht planbar!“, argumentierte Deger. „Wer bestimmt, was wertvolle Zeit ist? Nur wir selber. Vielleicht kommt jemand zu mir, der sich nur aussprechen will. Dann verbringe ich mit ihm eine Stunde, in der ich nichts erfahre und tausend Dinge erledigen könnte. Und trotzdem empfinde ich diese Stunde als wertvoll.“
Von Chronos und Kairos
Honig erzählt von Chronos, dem griechischen Gott der Zeit, und Kairos, dem des Augenblicks. Während Chronos die Abfolge der Ereignisse bestimme und uns dazu verleite, unseren Kalender vollzustopfen, komme Kairos und werfe alles durcheinander, so Honig. „In unserem Fall wäre das ein langes ungeplantes Gespräch. Wenn ich mein Leben daraufhin anschaue, welche Art von Erlebnissen mein Leben bereichert, dann immer die ungeplanten“, erzählt er. „Zeit ist nicht einfach nur linear, sondern hat viele Aspekte.“
Die Kunst liegt vielleicht darin, nicht zu bewerten was kommt. So wie Momo einfach demjenigen zuhörte, der sich zu ihr setzte. „Kinder unterscheiden zum Beispiel nicht zwischen wichtig und unwichtig, sondern sie sind begeistert oder nicht. Wenn man Kinder an ihrem Interesse packt, dann sind die Ohren weit offen“, erzählt Galuschka von ihrer Arbeit mit Kindern, die eine Lese-Rechtschreib-Schwäche haben. „Leider haben wir in unserer Praxis dennoch viel Druck. Lehrer und Eltern fordern, dass die Förderung endlich Erfolg zeigt. Die Kinder wollen endlich besser werden. Das ist ein Teufelskreis, aus dem man schwer herauskommt.“
Sein Gegenüber ernst nehmen ...
„Man muss sein Gegenüber ernst nehmen!“, fordert Honig. „Ich merke auf der Beziehungsebene doch sehr schnell, ob mich einer belehren will oder sich tatsächlich für mich interessiert.“ „Demenzkranke spüren das auch. Sie merken, wenn man sie nur ablenken will und fühlen sich verraten. Das erlebe ich oft“, so Deger. „Oder Jugendliche! Die reagieren auch sehr empfindlich, wenn sie nicht ernst genommen werden“, ergänzt Honig. „Manchmal sagt mir einer: „Das hat noch nie jemand zu mir gesagt.“ Das berührt mich immer. Man muss die Stärken seines Gegenübers sehen und darauf eingehen.“
Doch gelingt das Aufeinander-Eingehen auch im stressigen Berufsalltag? „Wir haben tatsächlich eine offene Zuhör-Unternehmenskultur“, erzählt Hofmann. „Kommt jemand ins Büro, dann bekommt er auch Gehör. Muss jemand eine Sache fertig machen und kann nicht sprechen, hebt er solange die Hand. Und geht es gerade überhaupt nicht, dann ist eben der Zeitpunkt falsch. Dieses gute Miteinander funktioniert hervorragend.“
... und aufeinander zugehen
Im Obermenzinger ASZ gibt es die „Politik der offenen Türen“. „Leute muss man ermuntern zu kommen. Mit den offenen Türen machen wir den ersten Schritt zum Gespräch.“ Auch in der Sendlinger Gethsemane-Kirche lässt man viel Raum für Gespräche. „Vor allem Familiengottesdienste halten wir mit einer halben Stunde ganz knapp und laden danach in den Gemeindesaal ein zum Zusammensitzen, Essen, Trinken, Spielen. Das wird hervorragend angenommen und da passiert auch viel.“
„Wir Stadtbibliotheken versuchen zu bestimmten Themen oder in verschiedenen Formaten auch mal ganz andere Leute zusammenzubringen", erzählt Büttner. "Zum Beispiel organisieren wir eine Lesung mit einem bulgarischen Autor und laden dazu Literaten und bulgarische Muttersprachler ein. So wird die Bibliothek ein Ort der Begegnung. Das ist wunderbar befruchtend und braucht gar nicht viel.“
Wünsche ans Zuhören
Wenngatz wünscht sich dieses offene Miteinander auch im gesellschaftlichen Kontext. „Seit Christiansen wird uns vorgemacht, wie man anderen ins Wort fallen und nur laut genug reden muss, um Gehör zu finden. Das sind denkbar schlechte Vorbilder, die zur Primetime laufen, aber leider Wirkung zeigen.“
Irren sich also die Eingangs erwähnten 96 Prozent der Erwachsenen, die sich für gute Zuhörer halten? „Das ist überhaupt kein Widerspruch“, so Deger. „Wir glauben, gut zuzuhören, können aber nicht mehr aufnehmen. Wir erfahren immer mehr und wissen immer weniger. Diesen Widerspruch spüren die Menschen.“ In diesem Zusammenhang sehe er auch die Tatsache, dass man sich eher mit Gleichgesinnten unterhält. „Ich vermisse eine Debattierkultur, einen inspirierenden Austausch mit Andersdenkenden. Das müssen wir lernen.“
„Vielleicht ist es heute viel leichter, Gleicher unter Gleichen zu sein, als eine andere Meinung zu vertreten und damit auch gesehen zu werden“, gibt Hofmann zu bedenken. Sie kann sich gut vorstellen, dass diesem scheinbaren Widerspruch ein Wunsch zugrunde liegt, „nämlich Gehör zu finden. Vielleicht wünschen sich die Menschen einfach nur, dass man sich wieder mehr zuhört.“
Unsere Sommer-Frage
Welcher historischen oder literarischen Figur würden Sie gerne einmal ein Stündchen zuhören? Unsere Gäste antworten:
Anke Büttner:
"Anita Augspurg! Mich würde interessieren, was diese erfolgreiche Juristin, Schauspielerin und Künstlerin, die lesbisch gelebt hat - und das alles in der Zeit kurz vor 1918 - zu sagen hat."
Tobias Deger:
"Ich bin ein Romantiker und als solcher würde ich gern eine Zeitreise machen und eine Schubertiade anhören. Kunst damals. Franz Schubert gespielt, es wurde gesungen, Zeit genommen."
Katharina Galuschka:
"Ich liebe die Romane von John Steinbeck. Dem würde ich gerne zuhören."
Susanne Hofmann:
"Ich würde gerne dem König von Bhutan zuhören, der das Inlandsprodukt nach Glück definiert hat."
Ralf Honig:
"Hier vor dem Münchner Hintergrund möchte ich Hans und Sophie Scholl zuhören. Sie haben in ihrer Zeit den Mut gefunden, die Wahrheit zu sagen und ihre Meinung gegen Widerstände zu verteidigen. Das ist großartig, die beiden hätten uns heute viel zu sagen."
Micky Wenngatz:
"Ich würde gern Hilary Clinton zuhören, die lange Zeit im Machtzentrum gelebt und am Ende für einen Lebenstraum gekämpft hat, der ihr dann versagt wurde."
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Anke Büttner (Stadtbibliothek München, Leiterin des Direktionsstabs Programm & Öffentlichkeitsarbeit)
Tobias Deger (Leiter ASZ Obermenzing)
Katharina Galuschka ( Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie / Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität )
Susanne Hofmann (Leitung Personalentwicklung der Hilfe im Alter GmbH der Inneren Mission München)
Ralf Honig (Pfarrer Gethsemanekirche München)
Micky Wenngatz (Landtagskandidatin SPD)
Unsere Zeit und wir
Ehrenamtliche schenken Zeit, Kinder brauchen Zeit und Erwachsenen fehlt sie häufig: Unser redaktionelles Schwerpunktthema 2018 mit vielen Beiträgen dazu ist „Zeit“. Auch alle unsere Sommergespräche beschäftigen sich mit einem Aspekt der Zeit. Dunja Hayali sagte: „ Wahrheit braucht Zeit“ - Zeit, um Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Bedeutung zu prüfen. Das war einmal eine Selbstverständlichkeit. Geht diese verloren?
Alle unsere Gespräche
Lesen Sie hier alle unsere Sommergespräche:
Wann machen Veränderungen Angst?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2599)
Wie wählen wir Worte?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2586)
„Eine Entschuldigung ist keine leere Floskel“
Wie gelingt Versöhnung?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2587)
"Wir bedeutet füreinander da zu sein"
Wer ist "Wir"?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2588)
"Zur Kreativität gehört Leerlauf"
Lassen wir Kindern genug Zeit zum Kindsein?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2593)
Wie werden wir älter?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2590)
"Man gibt etwas und bekommt viel zurück"
Warum übernehmen Menschen Ehrenämter?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2591)
Wie treffen wir Entscheidungen?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2592)
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