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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
"Unser Gehirn ist dafür nicht ausgelegt"
Dr. Matthias Weigl über Zeitdruck und Stress, Säbelzahntiger, Multitasking und Spielräume für eigene Entscheidungen
Was löst Stress aus? Wie kann man Arbeit organisieren, damit Menschen gesund und motiviert bleiben? Mit solchen Fragen beschäftigt sich Dr. Matthias Weigl am Klinikum der Universität München (Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin). Schwerpunkte seiner Arbeit sind Stress in der Arbeit, Burnout, Versorgungsqualität und Leistungsfähigkeit insbesondere bei Pflegepersonal und Ärzten. Mit Johannes Beetz sprach er über Zeitdruck, Stressbewältigung und die sich wandelnde Arbeitswelt.
"Der Charakter von Arbeit hat sich gewandelt"
Wir haben keine Sechs-Tage-Woche mehr, arbeiten nur selten zwölf Stunden am Tag und wir leben viel länger und oft besser als unsere Großeltern: Trotzdem fühlen wir uns – vielleicht noch mehr als sie - gehetzt und unter Zeitdruck. Was machen wir falsch?
Dr. Matthias Weigl: Die empfundene Beschleunigung ist wissenschaftlich schwierig in Zahlen zu fassen. Zweifellos tragen Automatisierung und Digitalisierung zu diesem Eindruck bei. Man kann aber nicht festhalten, dass sich Arbeit per se deutlich beschleunigt oder intensiviert hat.
Der Charakter von Arbeit hat sich gewandelt. Unsere Vorfahren waren häufiger in Industrie und Landwirtschaft tätig, da hatten sie ganz andere Aufgaben und Tätigkeiten. Die Menschen hatten früher auch Zeitdruck und intensive Tage: Die Erntezeit war damals eine solche kritische Zeit, in der alles andere hinten anstehen musste. Früher gab es sehr stark taktgebundene Tätigkeiten. Im heutigen Berufsleben mit Technik wie Computer und Smartphone ist dagegen die Unmittelbarkeit viel größer: In Ihrem Beruf als Journalist lief eine Nachricht früher über den Ticker, heute geht sie viel schneller, ad hoc von Hand zu Hand. Die neue Technik hat hier zu Intensivierung und Beschleunigung geführt.
"Vor dem Säbelzahntiger weglaufen"
Stress ist ein zunächst hilfreiche Reaktion, schwierige Situationen zu bewältigen. Was passiert da im Körper? Gibt es „guten“ Stress?
Dr. Matthias Weigl: Stress ist ein uraltes Muster im Körper, das es uns ermöglicht, auf Umweltgefahren zu reagieren. Stress ist eine allgemeine Anpassungsfähigkeit an schwierige Bedingungen.
In der Arbeit ist es dasselbe: Wenn Dinge passieren, die uns herausfordern, gibt es eine Stressreaktion. Das hat den Sinn, Energie bereitzustellen - entweder damit man es schafft, wie in früheren Zeiten vor dem Säbelzahntiger wegzulaufen, oder damit man zumindest so konzentriert ist, dass man sich einigermaßen verteidigen kann und am Leben bleibt.
In der heutigen Arbeitswelt gibt es viele stressbehaftete Situationen: Viele Menschen berichten, dass sie unter intensiven und belastungsreichen Bedingungen arbeiten - wenn etwa gefordert wird, in kurzer Zeit viel zu tun oder wenn sie mit Belastungen konfrontiert sind, mit denen sie nicht zurechtkommen.
"Dinge selbst entscheiden können"
Wie können wir Stress bewältigen?
Dr. Matthias Weigl: Stress ist dann gut zu meistern, wenn wir Bewältigungsmöglichkeiten kennen und Ressourcen haben. Die können ganz individuell sein: eigenes Wissen, unterstützende Kollegen oder ein Chef, der Verständnis hat, wenn man eine Zusatzaufgabe nicht übernehmen kann.
Wichtig ist, Spielräume zu haben, in denen man Dinge selbst entscheiden kann. Denken Sie an einen Paketboten: Wenn er selbst entscheiden kann, wo er zuerst ausliefert und wann er seine Pause macht, kommt er besser zurecht als wenn er strikt nach den Vorgaben eines Computers läuft.
"Es schädigt Gesundheit, Engagement und Motivation"
Wenn ein Verkehrsflugzeug Reisehöhe und – geschwindigkeit erreicht hat, regelt der Pilot die Leistung der Triebwerke auf 75 Prozent herunter. Ständige Maximalleistung würde die Technik schnell verschleißen. Wie reagieren Menschen, die dauerhaft gestresst sind? Wann spricht man überhaupt von „dauerhaftem“ Stress?
Dr. Matthias Weigl: Stress ist zunächst ein neutrales Geschehen. Problematisch wird es, wenn Stress chronisch wird. Das schädigt Gesundheit, Engagement und Motivation. Wenn man dann keine Bewältigungsmöglichkeiten hat, wird es kritisch. Das ist wichtig für die Organisation von Arbeitsprozessen: Es reicht nicht, jemanden zur Rückenschule zu schicken, man muss das Stressniveau moderat halten und Arbeitsplätze so gestalten, dass man mit Stress umgehen kann.
Chronisch ist es, wenn Sie sich nicht mehr ausreichend regenerieren, also sich nicht ausreichend erholen können. Wenn Sie früh schon glauben, genauso ausgepowert zu sein wie am Abend zuvor. Das ist ein typisches Zeichen, dass Ihre Energieressourcen, Ihre "Batterien" leer sind. Es gibt da keine Regel - es hängt vom Einzelnen und seinen Fähigkeiten, mit Stress umzugehen, ab. Können Sie sich über Tage hinweg nicht mehr ausreichend regenerieren, geraten Sie auf eine schiefe Bahn: Sie investieren mehr Energie als sie zurückbekommen beziehungsweise wieder durch Erholung aufbauen können..
Es gibt dann kurzfristige Symptome wie Ermüdung, Erschöpfung, Schlafmangel. Langfristig können z.B. Herz-Kreislauf-Störungen, Darmerkrankungen und Rückenbeschwerden auftreten.
"Arbeiten werden schlechter ausgeführt"
Eine Zeitlang galt „Multitasking“ fast schon als Schlüsselqualifikation. Kann Multitasking überhaupt funktionieren?
Dr. Matthias Weigl: Multitasking ist eine Strategie, um mit hohem Arbeitsaufkommen zurechtzukommen. Streng genommen geht es aber nicht. Unser Gehirn ist nicht dafür ausgelegt. Manchmal funktionieren parallele Tätigkeiten wie Singen beim Radfahren, weil das Aktivitäten sind, die automatisiert und unbewusst einhergehen. Da haben Sie freie kognitive Kapazitäten.
In der modernen Arbeitswelt ist das aber kaum gegeben. Hier brauchen wir bewusste Zuwendung und Konzentration. Bei Umfragen sagen 60 Prozent der Berufstätigen, sie betreiben Multitasking. Sie empfinden es aber als Belastung. Viele Unterbrechungen am Arbeitsplatz tragen dazu bei: Eine Mail ploppt bei einer anderen Tätigkeit auf und sie versuchen, beides schnell zu erledigen. Letztlich ist Multitasking immer mit Aufmerksamkeitsmängeln verbunden: Arbeiten werden schlechter ausgeführt.
"Sich nach der biologischen Uhr richten"
Wie beurteilen Sie Schichtarbeit oder häufig wechselnde Arbeitszeiten?
Dr. Matthias Weigl: Wer Schichtarbeit macht, sollte zuvor eine ärztliche Vorsorgeuntersuchung machen, ob er bzw. sie dafür geeignet ist. Schichtarbeit ist für den Körper nicht günstig, denn unsere interne biologische Uhr ist an den Rhythmus von Helligkeit und Dunkelheit gut gewöhnt. Nach dieser biologischen Uhr sollten sich unsere Arbeitszeiten richten. Mancher startet eher früher, der andere eher später in den Tag. Wenn ein Teenager um halb acht zur Schule muss, ist das für manchen abträglich für die Leistungsfähigkeit.
Schichtarbeitspläne sollen immer in kurzen Zyklen von Früh-, Spät- und Nachtschichten gestaltet werden, damit sich der Körper nicht langfristig anpassen muss. Die körperliche Rhythmik ist aber nur einer von mehreren Faktoren. Ein zweite ist das Alter: Je älter wir sind, umso schlechter kommen wir mit Rhythmusverschiebungen zurecht. Ein dritter sind die sozialen Gegebenheiten: Manchmal lassen sich familiäre Belastungen mit Schichtarbeit sogar besser bewältigen und mancher arbeitet gerne nachts, weil da weniger Hektik ist.
Der gesundheitliche Aspekt ist nicht so massiv. Nachteilig wird aber dauerhafte Schichtarbeit mit ungünstigen Schichtplänen. Sie beobachten dann mehr Magen- und Darmerkrankungen, mehr Herz-Kreislauf-Probleme und die Fitness leidet.
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