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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
"Seine Stadt gibt es praktisch nicht mehr"
Was bedeutet Heimat für die Menschen, die bei uns Schutz suchen?
Viele Menschen sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Viele von ihnen suchen bei uns Schutz. Der Verein heimaten e.V. bringt jungen Flüchtlinge mit Einheimischen in Kontakt und vermittelt ihnen Informationen über das Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitssystem bei uns.
Kontakte zu Einheimischen
"Wer die Möglichkeit hat, intensiv deutsch zu lernen, ist in einer glücklichen Situation. Da tun sich dann (hoffentlich) bald Möglichkeiten zum beruflichen Einstieg auf", erklärt heimaten-Vereinsvorstand Marianne Seiler. Allein einen Deutschkurs zu besuchen, bringt meist aber noch nicht die Sicherheit, die deutsche Sprache gut sprechen zu lernen. "Nach dem Kurs gehe ich dann wieder in mein Zimmer. Ich kenne (bisher) keine deutschen Leute", erzählen Flüchtlinge. Sie suchen daher nach Gelegenheiten, in Kontakt mit Einheimischen zu kommen. "Freunde von mir in Schweden sagen, dass es dort Kneipen gibt, wo sich Schweden und Flüchtlinge treffen können. Sie haben Spass zusammen, lernen sich kennen. Da kann auch eine Freundschaft entstehen", erzählt ein Flüchtling und fragt: "Gibt es sowas auch in München?“
Was ist Heimat?
Marianne Seiler hat sich mit acht jungen Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak zusammengesetzt, um über Heimat zu sprechen und Fragen der Münchner Wochenanzeiger zu beantworten. Die Hälfte der Gruppe ist schon seit einiger Zeit bei heimaten e.V., die andere Hälfte lernt die Organisation gerade kennen.
"Wo man sich respektiert und geachtet fühlt"
Ihr Vereinsname ist ein ungewöhnlicher Plural: "heimaten". Was verbinden Sie mit diesem Ausdruck?
Marianne Seiler: Es war nicht einfach, einen Namen für unsere Organisation zu finden, der ausdrückt, was wir damit erreichen wollen. Wir haben viel Zeit benötigt, das auf den Punkt zu bringen: Was ist uns wichtig, als Ehrenamtliche im Spannungsfeld einer Gesellschaft des Überflusses und der Not von Flüchtlingen zu tun? Welche Botschaft wollen wir mit unserem Namen senden? Nach langem Ringen haben wir uns für "heimaten" entschieden. Für uns von heimaten e.V. ist Heimat ein Ort, an dem man starke Beziehungen hat, sich gut auskennt, Spaß hat und an dem man sich sicher, respektiert und geachtet fühlt – egal woher man kommt und wohin man geht.
"Über Heimat zu sprechen tut sehr weh"
Viele Menschen heißen Flüchtlinge willkommen und tragen dazu bei, dass diese bei uns eine neue Heimat finden können. Kann man seine Heimat "ersetzen"?
Marianne Seiler: Manche Menschen finden eine neue Heimat, andere sind ein Leben lang auf der Suche nach ihr, wieder andere beschäftigen sich nicht damit. Ali sagte, dass Heimat für ihn das Paradies war, aus dem er flüchten musste. Wo seine Familie und seine Freunde waren, wo er geboren wurde und zur Universität ging. Wo man zusammen die Feste feierte und wo man arbeitete. Und nun ist alles weg. Seine Stadt gibt es praktisch nicht mehr.
Muna meint, für ihn war die Heimat sein Land. Jetzt ist seine Heimat "verwundet". Eine neue Heimat? Vielleicht später – jetzt ist der Schmerz über den Verlust zu groß. Die Familie über verschiedene Länder verstreut oder getötet.
Suad sagt, über Heimat zu sprechen tut sehr weh. Es macht sie ganz traurig. Sie denkt an die Berge, Flüsse, die schönen Landschaften. Sie muss auch an ihre toten Freunde denken. Und an alles, was sie verloren hat. Eine neue Heimat? Man muss sich selber dafür entscheiden, meint sie. Aber das wird dauern.
"Ohne Sicherheit ist alles nichts"
Sprache, Wohnen, Arbeit, Freunde: Für Wilhelm Dräxler von der Caritas sind das die vier Säulen, die Flüchtlinge zur Integration brauchen. Aber Heimat ist mehr. Was fehlt Flüchtlingen, die bei uns leben, am meisten? Wie bewältigen sie den Verlust ihrer Heimat?
Marianne Seiler: Ayman sagt, das Wichtigste für ihn ist die Sicherheit. Ohne Sicherheit ist alles nichts. Aber das Herz ist in der Heimat. Es sind die Erinnerungen an die Zeit vor dem Krieg. An das gemeinsame Lachen, die Lieder, die Brücke über den Fluß. Das Leben hier ist kompliziert, mit vielen Regeln, die schwer zu verstehen sind. Eine Sprache, die so viel Übung braucht. Neue Freunde finden, was in dieser Situation nicht einfach ist. Es hilft, Landsleute zu treffen und sich gegenseitig zu helfen. Aber manche werden dahin geschickt, wo keine Landsleute sind, wo man nicht die eigene Sprache sprechen kann, wo das Heimweh und die Angst immer weiter wächst.
"Sich Zeit nehmen"
Viele Menschen leben - freiwillig oder gezwungenermaßen - mobiler als früher. Hat sich der Heimat-Begriff damit verändert? Und hat sich Ihr persönlicher Heimat-Begriff durch Ihre Arbeit gewandelt?
Marianne Seiler: Über das Engagement für Geflüchtete habe ich mich intensiver mit deutschen Flüchtlingen beschäftigt. Exil-Literatur gelesen. Und darin viel gefunden, das für mich auch jetzt wichtig zu wissen und zu spüren ist in der Arbeit mit Geflüchteten. Und die Geschichte der Vertriebenen angeschaut: Was ist in der Nachkriegszeit passiert? Wie wurden die damaligen Konflikte gelöst? Der Heimatbegriff hat sich für mich zugespitzt. Alles daran, das auf Ausgrenzung abzielen könnte, macht mich hellhörig.
Aber auch die positiven Seiten haben sich mit dem Gefühl, dass es nicht viel bedarf, um Heimat zu verlieren, verstärkt: das Einladende, das Schöne zu verstärken, Menschen willkommen zu heißen und sich Zeit dafür zu nehmen.
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