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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
Mut zur Langeweile Andre Wilkens
Was gestern noch normal war, ist heute schon verrückt
Digital First, Langeweile Zero. So sieht der Zeitgeist für die meisten von uns aus. Wir leben wie Vorstandschefs oder Außenminister. Statt von Shareholdern und Weltereignissen werden wir von Digital gejagt. Keine Sekunde darf verschenkt werden. Falls sich doch mal eine kleine Spalte zum unvorhergesehenen Nichtstun auftut, kommt ein Pokemon Go um die Ecke, das man schnell noch jagen muss, und schwupp ist die Spalte wieder zu.
Nicht wissen, was als nächstes kommt
Vor gar nicht all zu langer Zeit war es noch ganz normal, wertvolle Zeit zum Aus-dem-Fenster-Starren zu verschenken oder grundlos mit wildfremden Menschen im Cafe ins Gespräch zu kommen. Heute wird man dafür schräg angeguckt. Ist der verrückt? Wie kann man einfach mal nichts tun? Was gestern noch normal war, ist heute schon verrückt, und umgekehrt.
Es gab mal ein Wort dafür, dass man grundlos nichts machte und auch nicht wusste, was als nächstes kommt. Kein Update, kein Tweet, keine vibrierende Erinnerung in der Hose, nichts. Manchmal fühlte es sich lähmend an, manchmal einfach leer. Das Wort hieß Langeweile. Ein Wort, dem scheinbar die Realität abhanden gekommen ist. So wie Briefeschreibern, Spazierengehen, Zeitungslesen.
Ist die Langweile tot? Weil der moderne Mensch seine Zeit bis zum Anschlag optimieren muss und nun durch Digital keine Ausrede mehr hat, sich davon ablenken zu lassen? Oder lebt sie fort? Vielleicht im Untergrund. Brauchen wir sie gar? Sollten wir sie reanimieren?
Langeweile schafft Platz für neue Ideen
Wir brauchen sie, die Langeweile. Sie ist eine Insel der Erholung im Alltag und ein Vorspiel für Veränderung. Sie schafft den Raum für Reflexion, für Entspannung, sie schafft Platz für neue Ideen. Ohne Langeweile bleibt man stecken in Nietzsches Hamsterrad des Arbeitens ohne Pause.
Aber Digital versucht mit allen Mitteln, keine Langeweile zulassen, weil wir ja sonst, aus Langeweile, über den Sinn des Lebens nachdenken könnten. Zum Beispiel darüber, ob es denn eigentlich der Sinn unseres Lebens ist, immer effizienter zu werden? Macht uns mehr und mehr digitale Effizienz glücklicher - oder gerade nicht? Sind wir glücklicher, seit Digital die Pausen abgeschafft hat und wir alles von jedem Ort und zu jeder Zeit machen können? Sind wir glücklicher, seit wir mehr Zeit mit Maschinen verbringen als mit Menschen? Sind wir glücklicher, seit wir wissen, dass wir bald nicht mehr gebraucht werden, weil Algorithmen unsere Arbeit viel effizienter machen können als wir?
Einfach mal nicht effizient sein
Langeweile kann Sinn stiften. Man sollte sich den Luxus der Langeweile leisten, einfach mal nicht effizient sein, sondern sich hängenzulassen, nicht immer gleich über den nächsten Schritt nachdenken, der digitalen Ablenkung bewusst widerstehen. Die Möglichkeit der Langeweile unterscheidet uns Menschen von der künstlicher Intelligenz. Roboter können sich bisher noch nicht langweilen, so weit ich weiß. Gut so. Wer weiß, auf welche Gedanken die kommen, wenn sie Langeweile haben. Darauf sollten wir es nicht ankommen lassen. Haben Sie wieder Mut zur Langeweile.
Andre Wilkens ist Autor von „Analog ist das neue Bio. Ein Plädoyer für eine menschliche digitale Welt“ (Fischer Taschenbuch 2017).
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