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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
"Menschen, die Hilfe benötigen, sind nicht allein"
Andrea Betz über die Wohlfahrtsverbände in der Corona-Zeit, das soziale Netz, Verunsicherung und Zusammenhalt
Zur Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege in München gehören die sechs Spitzenverbände Arbeiterwohlfahrt (AWO), BRK, Caritas, Innere Mission, Israelitische Kultusgemeinde und Paritätischer Wohlfahrtsverband mit insgesamt über 20.000 Mitarbeitern in sozialen Einrichtungen und Diensten in München. Zudem engagieren sich etwa 19.000 Ehrenamtliche. Andrea Betz ist die Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft der Münchner Wohlfahrtsverbände. Sie erklärte im Gespräch mit Johannes Beetz, wie die Wohlfahrtsverbände die Corona-Pandemie erleben.
"Die Verantwortlichen der Stadt haben schnell reagiert"
In Alltag, Schule, Beruf und Gesellschaft ist durch Corona und die deshalb nötigen Einschränkungen vieles einfach mal weggefallen. Was schmerzt Sie im Hinblick auf das soziale Netz unserer Stadt da am meisten? Wie sind die Rückmeldungen der Einrichtungen - aber auch jener Menschen, die von diesem Netz getragen werden? Mussten Einrichtungen / Angebote eingeschränkt werden?
Andrea Betz: Durch die hohen Auflagen, besonders im ersten Lockdown, war die Einsamkeit bei vielen unserer Klientinnen und Klienten ein großes Problem. Das Besuchsverbot für Angehörige in Alten- und Pflegeheimen machte den Pflegebedürftigen sehr schwer zu schaffen. Auch Seniorinnen und Senioren, die zuhause leben und zur Risikogruppe gehören, konnten beispielsweise nicht wie gewohnt die Angebote in die Alten- und Servicezentren wahrnehmen. Die restriktiven Besuchsverbote der ersten Welle in Alten- und Pflegeheimen hat die Politik jetzt glücklicherweise bei den aktuellen Auflagen sensibler entschieden. Die Alten- und Servicezentren sind auch geöffnet.
Die Arbeitslosigkeit ist um rund 50 Prozent im Vergleich zu den Vorjahreswerten gestiegen, Anfragen bei Schuldnerberatungsstellen haben sich wegen Corona fast verdreifacht. Unsere Beratungskräfte gehen davon aus, dass viele Haushalte schon ausstehende Mieten haben oder bald ihre Miete nicht mehr bezahlen können, weil sie zum Beispiel die Rücklagen aufgebraucht haben. Für Menschen, die von materieller Armut betroffen sind, fielen einige mildtätige Angebote während des Lockdowns weg. Die Verantwortlichen der Stadt München haben hier schnell reagiert, beispielsweise mit „Brot & Mantel“ am Hauptbahnhof. Caritas und Diakonie haben warme Suppe, Kleidung und Hygieneartikel an Bedürftige ausgegeben.
Kinder und Jugendliche, die in Wohnungslosen- oder Flüchtlingsunterkünften leben, litten – und leiden – in der Phase des Home-Schoolings besonders unter einer großen Benachteiligung. Meist fehlte es an IT-Ausstattung und am W-LAN; ihre Eltern konnten die Kinder bei den Hausaufgaben nicht entsprechend unterstützen. Wenn jetzt wieder Home-Schooling kommt, brauchen wir dringend individuelle Konzepte, um allen Kindern und Jugendlichen eine gleichberechtigte Teilhabe an Bildung zu ermöglichen.
"Alle Beratungsstellen sind weiterhin da"
Andererseits war gerade während des Lockdowns besonders viel Hilfe gefragt, die von den sozialen Einrichtungen gewährleistet werden konnte. Was konnten die Einrichtungen und ihre Dienste stemmen, was nicht? An welche Anlaufstellen können sich Menschen, die Hilfe benötigen, wenden?
Andrea Betz: Die Coronakrise hat viele Menschen sehr verunsichert und psychische Probleme verstärkt; zugenommen haben etwa Rückzugstendenzen, Angst- oder Zwangsstörungen sowie Depressionen. Dies umso mehr, je länger die Krise anhält. Gerade die beengten Wohnsituationen, die in München nicht unüblich sind, führen vermehrt zu Konflikten und häuslicher Gewalt.
Unsere Unterstützungsstrukturen haben in der Krise gezeigt, wie belastbar und wirkungsvoll sie sind. Wir haben alle systemrelevanten Angebote aufrechterhalten. Der Wohlfahrt gelingt es, trotz der Coronaauflagen, den Menschen gut zur Seite zu stehen. Beratung und Betreuung erfolgten schnell, kreativ und flexibel – oftmals natürlich umgestellt auf digitalem Weg. Bedingt durch die Kontakteinschränkungen war beispielsweise die aufsuchende Arbeit in Familienbereich nur sehr eingeschränkt möglich. Familien in der Krise können aber die Erziehungsberatungsstellen weiterhin telefonisch oder per mail kontaktieren. Auch die städtischen Sozialbürgerhäuser sind trotz Kontakteinschränkungen erreichbar. Es ist wichtig, dass Menschen, die Hilfe benötigen, wissen, dass sie nicht allein sind. Alle Beratungsstellen in der Landeshauptstadt sind weiterhin für sie da.
Die Stadt München hat zusätzlich ein Corona-Servicetelefon eingerichtet unter 089-23396833.
Bei psychischen Krisen kann man sich rund um die Uhr auch an den Krisendienst Psychiatrie wenden unter 0180-6553000 oder an die Telefonseelsorge unter 0800-1110111.
"Ein sozialer Beruf ist sinnstiftend"
Corona hat unsere Wahrnehmung nachhaltig beeinflusst: Plötzlich beginnen mehr Menschen als zuvor eine Ausbildung z.B. in Pflegeberufen. Hat sich angesichts der Pandemie unser Bewusstsein für das, was wirklich „systemrelevant“ ist, geändert? Spüren Sie – Ihre Mitarbeiter und ehrenamtlichen Helfer - da vielleicht sogar einen „Schub“ zugunsten sozialer Berufe und Tätigkeiten und deren Wertschätzung?
Andrea Betz: Ich freue mich, wenn sich Menschen für einen sozialen oder pflegerischen Beruf entscheiden – eine Ausbildung zur Erzieherin, Pflegefachkraft beginnen oder Soziale Arbeit studieren. Aufgrund der sozialen Auswirkungen der Coronakrise ist eine starke soziale Infrastruktur auch künftig sehr wichtig: Um Menschen zu unterstützen, die in Not geraten sind, weil sie ihre Arbeit verloren haben, weil sie an der Einsamkeit leiden, weil sie in eine psychische Krise stürzten oder weil ihre Suchterkrankung wieder ausgebrochen ist. Sie brauchen ein starkes soziales Netz, das sie auffängt und trägt.
Und wir, die im Sozial- und Gesundheitsbereich Tätigen, sind es, die gemeinsam mit den Ehrenamtlichen dieses Netz bilden. Wir haben deutlich gesehen, dass ein sozialer Beruf sinnstiftend ist und zum solidarischen Miteinander der Gesellschaft beiträgt. Ich hoffe und wünsche mir, dass alle systemrelevanten Berufe aufgrund dieser Erkenntnis jetzt auch bald bessere strukturelle Bedingungen erhalten. Dabei geht es mir nicht nur um eine finanzielle Aufwertung; es geht auch um die gesellschaftliche Achtung und Wertschätzung sozialer Berufe.
"Der Schutz hat höchste Priorität"
Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, gehören oft zu einer Corona-Risikogruppe und bedürfen besonderen Schutzes. Wie schützen Sie diese Menschen – und wie Ihre Mitarbeiter und ehrenamtlichen Helfer, die dem Infektionsrisiko bei Begegnungen ja wie alle anderen auch ausgesetzt sind?
Andrea Betz: Der Schutz unserer Mitarbeitenden hat höchste Priorität. Inzwischen gibt es für jede Einrichtung ein angepasstes Hygienekonzept. Die Mitarbeitenden sind mit ausreichend Schutzmaterial ausgestattet, in den Büros haben wir Plexiglaswände montiert und teilweise Möbel umgestellt. Überall hängen Informationsschreiben, wie man sich zu verhalten hat, um das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten. Ich bin sehr dankbar, wie hoch die Bereitschaft unserer Mitarbeitenden ist, gerade jetzt in der Krise den Menschen, die Beratung und Hilfe suchen, zur Seite zu stehen: Herzlichen Dank!
Und wir erleben auch sehr viele Freiwillige, die überall dort engagiert helfen, wo ihre Hilfe jetzt noch dringender als zuvor gebraucht wird. Viele ältere Ehrenamtliche, die zur Risikogruppe zählen, haben sich verständlicherweise zurückgezogen. Das ist völlig in Ordnung und das kann ich auch gut nachvollziehen.
"Diese Folgen können wir noch nicht absehen"
Gerade bei sozialem Engagement ist der persönliche Kontakt zwischen Menschen unverzichtbar. Jemandem zur Seite stehen – das geht online und mit großem Abstand nicht, das braucht die in dem Begriff steckende Nähe. Wie gehen Sie damit um, dass diese Kontakte nur eingeschränkt möglich sind?
Andrea Betz: Für die Mitarbeitenden ist genau das die größte Herausforderung. Wir alle sehen viele Notlagen, in denen die Menschen eigentlich direkt begleitet werden müssten. Das braucht natürlich eine gewisse Nähe. Aber der Eigenschutz geht vor. Wir müssen aushalten, dass die übliche Arbeitsform mit direktem Kontakt zu den Klientinnen und Klienten in Zeiten des social distancing leider nicht umsetzbar ist. Schmerzhaft ist, dass die soziale Isolation gesundheitliche Schäden nach sich ziehen wird. Diese Folgen der Pandemie können wir derzeit noch gar nicht absehen.
"Die sozialen Probleme werden weiter wachsen"
„Die Politik“ hat auf die Corona-Krise rasch reagiert und eine ganze Menge Hebel in Bewegung gesetzt, um den Schaden für die Menschen überschaubar zu halten. Da wurde viel Geld in die Hand genommen, aber es wurden auch neue politische Akzente gesetzt. Was wünschen Sie sich als Sprecherin für die Wohlfahrtsverbände von der Politik – in Staat und Stadt – im Hinblick auf die Corona-Erfahrungen? Und was wünschen Sie sich von uns Bürgern?
Andrea Betz: Ich wünsche mir einen achtsamen Blick auf die zunehmenden sozialen Notlagen. Die Pandemie führt dazu, dass es die bislang schon benachteiligten Menschen und Familien noch härter trifft. Die Spaltung der Gesellschaft verstärkt sich. Positiv ist, wie gut die Münchner Stadtpolitik bislang auf die Krise reagiert. Im Koalitionsvertrag hat das grün-rote Rathausbündnis festgeschrieben, die soziale Infrastruktur – auch und gerade in der Krise – nicht anzutasten. Trotz der sehr schwierigen Haushaltslage hält die Koalition bisher daran fest, im Sozialbereich keine Leistungen zu kürzen: ein herzliches Dankschön!
Die sozialen Probleme werden weiter wachsen und die Folgen der Pandemie erfordern ein noch stärkeres soziales Netz – das keine Löcher haben darf. Fühlen sich Menschen abgehängt oder alleine gelassen, gefährdet das den sozialen Frieden in unserer Stadt. Deshalb wünsche ich mir von den politisch Verantwortlichen neben der wichtigen Soforthilfe eine dauerhafte ausreichende Finanzierung der notwendigen sozialen Angebote und ein dialogisches Miteinander, um die sozialen Auswirkungen gemeinsam mit der Wohlfahrt und zivilgesellschaftlichem Engagement zu bewältigen.
Oft können wir aus Spendenmitteln individuell und schnell helfen. Gerade jetzt in der Advents- und Weihnachtszeit können wir mit Spendenmitteln Familien oder Seniorinnen und Senioren unterstützen und ihnen eine Freude machen. Daher sind wir sehr dankbar für jede Spende. Wenn wir alle gemeinsam solidarisch sind und schwächere Mitglieder unserer Gesellschaft unterstützen, schaffen wir es, unseren sozialen Frieden zu sichern.
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