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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
"Menschen, die hierher kommen, werden dringend gebraucht"
München kann Integration - aber es bleiben Mängel und neue Herausforderungen
2014 war ein wirtschaftlich erfolgreiches „Rekordjahr“. 110.000 Fachkräfte (hellblaue Säule links) konnten die bayerischen Unternehmen zusätzlich einstellen. Dennoch ist bereits die heuer erwartete Personallücke deutlich größer als dieser Zuwachs: 132.000 Fachkräfte fehlen 2015 (dunkelblaue Säule Mitte). Das heißt: 2,9 Prozent der Stellen bleiben unbesetzt. Die Prognose der Industrie- und Handelskammer für 2030 sieht noch dramatischer aus: Obwohl es in 15 Jahren etwas weniger Arbeitsplätze geben wird als heuer, wird dann für fast jede zehnte Stelle (9,6 %) keine passende Fachkraft mehr gefunden werden können: 347.000 Fachkräfte werden 2030 in Bayern fehlen (orange Säule rechts). Ohne Migranten lässt sich diese Lücke nicht mehr füllen. „Bayern benötigt eine dauerhafte Zuwanderung“, stellt Peter Driessen (Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Industrie- und Handelskammertages) klar. Daten: IHK-Fachkräftemonitor Bayern 2015 (Foto: rg)
Die Zahl der Älteren steigt, während die der Jüngeren nicht mithalten kann. Das ist der demographische Wandel der Gesellschaft. Den Begriff „Überalterung“ nimmt Peter Driessen (er ist Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Industrie- und Handelskammertages, BIHK) dennoch nie in den Mund: „Es gibt kein ideales Alter für eine Gesellschaft“, sagt er, „man muss nur angemessen auf die jeweiligen Herausforderungen reagieren.“
Eine davon ist der Fachkräftemangel, der in vielen Branchen bereits spürbar ist. Handwerker finden keine Auszubildenden mehr, Kitas keine Erzieher. Das ist erst der Anfang: 2030 wird fast jede zehnte bayerischer Arbeitsplatz nicht mehr besetzt werden können, so die Prognose des neuen IHK-Fachkräftemonitors.
Die Lücke öffnet auch Chancen
Doch die Lücke bietet auch eine Chance: jene mitzunehmen, die bisher vernachlässigt wurden: Schulabgänger mit weniger guten Noten; Frauen (und einige Männer), die z.B. nach der Elternzeit in den Beruf zurückkehren wollen; Behinderte, die sich einbringen wollen; Migranten, die in der Regel über berufliche Qualifikationen verfügen.
Wie kann es gelingen, künftige Fachkräfte auszubilden? Wie müssen die Schulen dazu angepasst werden? Wo sollen die Menschen, die nach München ziehen werden, wohnen? Wie können Migranten hier heimisch werden? Und wie ergänzen sich Alt und Jung in einer Zukunft, die offensichtlich schwieriger zu bewältigen sein wird?
Reibungsloses Zusammenleben
Das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen läuft in München nach wie vor recht reibungslos. „Ich habe den Eindruck – und bekomme das auch so von anderen bestätigt, dass die Generationen noch selten so gut zusammengelebt haben wie heute“, meint VdK-Präsidentin Ulrike Mascher. Ähnlich ist es bei „Menschen mit Migrationshintergrund“; München hat einen relativ großen Anteil von ihnen. Trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen?) steht die Stadt gar nicht schlecht da.
"Ihr seid Teil dieser Stadt"
„Wesentlich für den Erfolg ist, dass in München seit über 40 Jahren eine aktive interkulturelle Politik betrieben wird“, meint Oberbürgermeister Dieter Reiter dazu. „Beispielsweise wurde hier in den 70er Jahren einer der ersten Ausländerbeiräte Deutschlands gegründet. Im Jahr 2008 hat der Stadtrat ein interkulturelles Integrationskonzept beschlossen.“ Die Stadt gebe damit ein wichtiges Signal an Migranten: „Ihr seid Teil dieser Stadt, wir hören Euch zu und nehmen Euch als wichtige Akteure in der Stadtgesellschaft wahr.“
Als besonders wichtige Beispiele nennt Reiter den „Runden Tisch Muslime“ und die Stelle für interkulturelle Arbeit. Diese unterstützt Migrantenorganisationen beim Aufbau eines eigenen Netzwerks (Netzwerk MORGEN). „Das ist auch wichtig, denn der Integrationsbericht 2010 hat eindrücklich dargelegt: Migrantinnen und Migranten sind unter anderem im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements unterrepräsentiert“, so Reiter. „Aber eine gleichberechtigte Teilhabe ist ein wichtiges Ziel der Münchner interkulturellen Integrationspolitik.“
Zustrom mehr als verdoppelt
Seit Anfang letzten Jahres hat sich die Zahl der Flüchtlinge, die aus den Kriegs- und Katastrophengebieten der Welt nach München kommen und hier zunächst in Unterkünften leben, mehr als verdoppelt, so Reiter. Nach München kommen auch überproportional viele junge Flüchtlinge. Und viele dieser Menschen werden dauerhaft hier bleiben. „Damit ihre Integration gelingt, brauchen wir ausreichend Sprachkurse, Schul- und Berufsbildungsangebote. Diese müssen wir weiter ausbauen“, so der Oberbürgermeister, „ich sehe in den Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Kulturen zu uns kommen, eine große Chance für unsere Gesellschaft. Nicht nur, weil wir sie als Fachkräfte dringend brauchen, sondern weil sie unser Zusammenleben bereichern.“
Sprachförderung zahlt sich aus
Die Sprache ist der Schlüssel für eine gelingende Integration; Sprachförderung zahlt sich aus: 3.510 Münchner Kinder besuchten 2012/13 in ihrer Kita einen Vorkurs Deutsch. 90 % von ihnen konnten danach regulär eingeschult werden.
Auch das bayerische Bildungsministerium hat das Angebot für junge Migranten noch einmal ausgeweitet und zum zweiten Schulhalbjahr 70 zusätzliche Klassen für berufsschulpflichtige Flüchtlinge und Asylbewerber eingerichtet. Zudem stehen jetzt in Bayern über 350 Übergangsklassen (Ü-Klassen) an Grund- und Mittelschulen bereit (hier lernen Migranten Deutsch).
Damit wurde das Angebot für die jungen Menschen in schwieriger Lage noch einmal deutlich ausgeweitet. „Unsere Schulen leisten damit einen wichtigen Beitrag, den jungen Flüchtlingen und Asylbewerbern Chancen in Bayern zu eröffnen“, würdigte der Bildungsminister Ludwig Spaenle die Arbeit der Schulen vor Ort.
"Jetzt gehen uns die Lehrer aus"
Das tut auch Waltraud Lucic, Vizepräsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV). „Momentan sind wir mit 89 Ü-Klassen mit je 20 Kindern gut versorgt“, sagt sie, „Natürlich wäre eine Höchstgrenze von 12 Kindern wesentlich besser.“ Allerdings kenne niemand den weiteren Zuzug - und die nächste Hürde ist bereits sichtbar: „Jetzt gehen uns die Lehrer aus“, so Lucic.
Kindergärten und Schulen sind Orte der Integration, betont sie. „Bei uns ist Inklusion nichts Neues. Wir inkludieren schon sehr lange Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen. Das ist unser Alltagsgeschäft.“ Doch dafür fehlt inzwischen Zeit: Zeit für den Ausgleich von Defiziten und zur Ausprägung individueller Stärken der Kinder - aber auch Zeit für die Ausbildung der Pädagogen.
Beeinträchtigungen häufig unerkannt
Durch die Verlagerung des Zustroms junger Migranten ändern sich aber auch die Anforderungen, denen Schulen hierzulande gerecht werden müssen: So kommen jetzt überwiegend junge Migranten sowie Flüchtlinge aus kriegs- und krisengeschüttelten Ländern. „In diesen Regionen ist es keine Seltenheit, dass es keinen geregelten Schulbesuch gibt. Es kommen immer mehr nicht-alphabetisierte, teilweise traumatisierte, depressive und von Zukunftsängsten geplagte Kinder in die Übergangsklassen“, so Lucic. Einer ihrer Kritikpunkte: Diese Schüler werden mittlerweile vor dem Unterrichtsbesuch medizinisch nicht mehr untersucht, deswegen bleiben psychische und physische Beeinträchtigungen häufig unerkannt.
„Die Zunahme unbegleiteter, minderjähriger Flüchtlinge erfordert eine erhöhte sozialpädagogische Betreuung, die unter den jetzigen schulischen Rahmenbedingungen nicht geleistet werden kann“, warnt Lucic.
Es gibt Mängel - und ein "Mantra"
Ganz ähnlich schätzt BIHK-Chef Peter Driessen die Lage ein. Er sieht ebenfalls einen Mangel bei der Betreuung vor allem der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und vermisst eine vernünftige Unterbringung von Migranten. Auch beim Erlernen der deutschen Sprache, dem Schlüssel für jede Integration, gibt es noch immer Handlungsbedarf: „Es gibt bei uns nicht genug Lehrer, die Deutsch als Fremdsprache unterrichten können“, so Driessen.
Wichtig sei zudem Rechtssicherheit - für Auszubildende und Betriebe: „Ich trage die Forderung 3 plus 2 wie ein Mantra vor mir her“, so Driessen. Gemeint ist damit: Flüchtlinge sollten während ihrer dreijährigen Ausbildung und zwei weiteren Jahren im Beruf einen sicheren Aufenthaltsstatus genießen: „Nichts bremst die Motivation mehr als Unsicherheit“, gibt Driessen zu bedenken.
Zuwanderung sichert unsere Sozialsysteme
„Menschen, die mit ihren Qualifikationen hierher kommen, werden dringend gebraucht“, bekräftigt Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter: Laut IHK-Fachkräftemonitor werden in der Region München bis 2020 im Jahresdurchschnitt gut 60.000 Fachkräfte fehlen. „In einer globalisierten Welt bringen sie wichtige weitere Kompetenzen mit, wie beispielsweise Sprachkompetenzen und internationale Kontakte, Umgang mit unterschiedlichen Kulturen“, so Reiter. „Nehmen wir das Beispiel Erzieherinnen: der Ausbau an Plätzen in der Kindertagesbetreuung wird massiv voran getrieben, allerdings mangelt es in städtischen wie auch in Einrichtungen freier Träger an pädagogischem Personal. Hier wird dringend auch pädagogisch ausgebildetes Personal aus dem Ausland benötigt. Allein in den Jahren 2011 und 2012 konnten etwa 890 Fachkräfte und sogenannte Ergänzungskräfte für Einrichtungen freier Träger gewonnen werden.“
„Die Potentiale von Flüchtlingen müssen für den Arbeitsmarkt besser nutzbar gemacht werden“, unterstreicht auch Peter Driessen. Ohne Migranten komme indes nicht nur der Arbeitsmarkt aus der Balance. Der BIHK-Chef betont: „Wir brauchen eine dauerhafte Zuwanderung – auch um unsere sozialen Sicherungssysteme funktionsfähig zu halten!“
Jeder Zuwanderer bringt 1.200 Euro
Den „Nutzen“ von Zuwanderern kann Norbert Huber sogar beziffern. Er ist Geschäftsführer für die Caritas-Zentren München und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege München. „Die Stadt profitiert von der Zuwanderung“, meint er, „die Menschen kommen hierher, arbeiten und zahlen Einkommenssteuer. Auch die Stadt München ist ein enormer Nutznießer der Zuwanderung; jeder Zuwanderer aus Osteuropa bringt knapp 1.200 Euro pro Jahr für den Stadtsäckel.“ Bulgaren und Rumänen haben der Stadt im letzten Jahr 28,5 Millionen Euro gebracht.
Die Stadt müsse daher auch relativ kleine Beträge in die Hand nehmen, um z.B. mehr für Armutszuwanderer zu tun. Wenn Ende März der Kälteschutz ausläuft (für Wohnungslose mietet die Stadt im Winter Unterkünfte an), stehen manche dieser Familien - es dürften etwa 30 sein - auf der Straße. „Es kann nicht sein, dass Familien mit ihren Kindern ab April nachts wieder auf der Straße stehen“, sagt Huber.
Behinderte bleiben zurück
„Es ist unsere gesellschaftliche Verantwortung, allen Menschen eine Chance zur Teilhabe am Arbeitsleben zu geben“. Das unterstreicht Andreas Vaerst, Geschäftsführer Operativ der Agentur für Arbeit München. „Allerdings gibt es eine Gruppe, die immer noch nicht vom Aufschwung mitgenommen wird: Die Menschen mit Behinderung.“ Im Bezirk der Agentur für Arbeit München sind aktuell rund 3.000 arbeitslose Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung gemeldet, das sind 6,4 Prozent bezogen auf den Gesamtbestand an Arbeitslosen.
„Arbeit und Behinderung, das geht zusammen. Nicht Gesetze, sondern das engagierte Handeln von Arbeitgebern schafft Arbeitsplätze. Angesichts des hohen Fachkräftebedarfs in unserer Region darf dieses Potenzial nicht auf der Strecke bleiben. Die meisten sind gut qualifiziert und voll einsetzbar. Ich appelliere an alle Arbeitgeber, auch Menschen mit Handicap eine Chance zu geben. So können sie von deren Stärken profitieren und zugleich die kostenintensive Ausgleichsabgabe sparen – eine Win-win-Situation für alle!“
"Win-win" beginnt in der Schule
Den Grundstein für diese Win-win-Situation will Bildungsstaatssekretär Georg Eisenreich in den Schulen festigen. „Kinder und Jugendliche mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf sollen in unseren Schulen mit- und voneinander lernen. Inklusive Schulen eröffnen ihnen allen gute Chancen“, so sein Credo. Dafür werden mehr Lehrer eingestellt: Bis 2016 wird der Freistaat insgesamt 600 zusätzliche Stellen für den Ausbau der Inklusion an den Schulen in Bayern bereitgestellt haben. Zum aktuellen Schuljahr haben bereits 164 bayerische Schulen das Schulprofil „Inklusion“ ausgebildet. Hier gestalten Lehrkräfte der allgemeinen Schule und Lehrkräfte für Sonderpädagogik beispielhaft das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne besonderen Förderbedarf. Im vergangenen Schuljahr besuchten 19.300 bayerische Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Regelschule. Ihr Integrationsanteil liegt damit bei rund 27 Prozent.
Eltern zweifeln
Speziell Eltern mit schulpflichtigen Kindern haben indes große Zweifel daran, ob Schulen ausreichend vorbereitet sind, Schüler mit Behinderung zu integrieren: 76 Prozent der Eltern sehen hier größere Probleme. Das zeigt eine repräsentative Allensbach-Umfrage im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe.
"Mitleid" statt Teilhabe
Vor allem für Menschen mit einer geistigen Behinderung ist der Weg zur gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nach Einschätzung der deutschen Bevölkerung noch weit. Der Studie zu Folge hat jeder fünfte Bürger (22 Prozent) Kontakt zu Menschen mit einer geistigen Behinderung, sei es in der eigenen Familie, dem Verwandten- oder Bekanntenkreis. Menschen mit geistiger Behinderung werden allerdings in erster Linie als „hilfsbedürftig“ (88 Prozent) wahrgenommen. Nur wenige Befragte glauben, dass Menschen mit geistiger Behinderung „selbstständig“ oder „gut integriert“ (jeweils 18 Prozent) sind: 56 Prozent nennen angesichts geistig Behinderter die Stichworte „ausgegrenzt“ und „Mitleid“.
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