Ein großer Schritt in die Selbständigkeit
Mit dem Mobilitätstraining der Heilpädagogischen Tagesstätte den Schulweg meistern
"Ich bin doch kein kleines Kind mehr", antwortet Lena fast ein wenig empört auf die Frage, ob sie es manchmal auf dem Nachhauseweg von der Schule mit der Angst zu tun bekomme, zum Beispiel wenn die U-Bahn ausfällt oder wenn sie vielleicht zu weit gefahren ist. "Am Anfang habe ich mich nicht so getraut", gibt sie dann aber zu. Die 19-Jährige fährt seit zwei Jahren allein von Schwabing in die Montessori-Schule der Aktion Sonnenschein in Großhadern und wieder zurück – und was für andere Jugendliche selbstverständlich ist, bedeutet für sie einen großen Schritt hin zu einem selbständigen Leben.
Dass sie ihren Schulweg eigenständig meistern und auf das Sammeltaxi verzichten kann, das viele Kinder und Jugendliche hier benötigen, verdankt Lena dem Mobilitätstraining, das sie in der Heilpädagogischen Tagesstätte (HpT) der Aktion Sonnenschein absolviert hat. Gemeinsam mit dem Sozialpädagogen Martin Kullmann, der gruppenübergreifend im Sozialdienst der HpT tätig ist, hat sie wochenlang geübt – zuerst in der Theorie, dann bei gemeinsamen Fahrten in der Praxis und schließlich allein, nur von weitem – und ohne es zu wissen – von dem Sozialpädagogen beobachtet. Inzwischen ist sie routiniert und hat auch keine Probleme, mal zwischendurch am Marienplatz auszusteigen, etwas zu kaufen und danach weiterzufahren.
So unabhängig wie möglich machen
Die 15-jährige Marie hat das Training noch vor sich. Sie kann es kaum erwarten, endlich allein nach Hause fahren zu dürfen und weiß schon genau, wo sie umsteigen muss. Mit der praktischen Übung muss sie sich allerdings bis nach Ostern gedulden, wenn es morgens und abends wieder heller ist. "Die Dunkelheit ist ein Aspekt, den man beachten muss", erklärt Martin Kullmann. "Wir wollen die Kinder so unabhängig wie möglich machen", fügt er hinzu und erläutert die vielen kleinen Einzelteile, die nötig sind, um die Kinder fit für den Schulweg zu machen.
Der Theorieteil beginnt ganz profan mit dem äußeren Erscheinungsbild und dem Verhalten gegenüber Fremden. Dass man sich der Witterung entsprechend anziehe und unbekannte Menschen sieze, sei etwas Grundlegendes, das aber geübt werden müsse, erläutert Martin Kullmann. Er macht mit seinen Schützlingen auch einen Crashkurs in Selbstbehauptung und trainiert mit ihnen, wie man sich verhält, wenn es brenzlig wird. Schon bevor es auf die Straße geht, wird der Weg anhand von Arbeitsblättern erarbeitet, der Klang von Straßennamen eingeübt, und bei Kindern und Jugendlichen, die wenig oder nicht lesen können, das Schriftbild der verschiedenen Stationen eingeprägt. Im praktischen Teil fährt Martin Kullmann oder ein anderer Trainer dann meist eine Woche gemeinsam mit dem Kind nach Hause.
Unauffällig "beschattet"
In dieser Zeit soll es die Fahrstrecke verinnerlichen und lernen, wie viele Stationen zu fahren sind und wo sich die Umstiegspunkte befinden. Wie setze ich die Fahrkarte ein? Was mache ich, wenn ich zu weit gefahren bin? Wen spreche ich an, wenn ich mich verirrt habe? Auf all diese Fragen müsse eingegangen werden, sagt Martin Kullmann. Im Laufe des Trainings entfernt sich der Begleiter dann immer weiter von seinem Schützling und setzt sich zum Beispiel in einen anderen Teil des Wagens. Schließlich darf das Kind dann alleine fahren. Einige Tage lang wird es dabei aber noch unauffällig "beschattet", auch um zu überprüfen, ob die Absprachen zwischen ihm und dem Trainer eingehalten werden. Für alle Fälle hat jedes Kind außerdem eine Notfallkarte in der Tasche, mit der es einen vertrauenwürdigen Erwachsenen um Hilfe bitten kann.
Auch durch den Gebrauch von Handys, der ebenfalls geübt werde, sei die Sicherheit größer geworden, meint Martin Kullmann und weist darauf hin, dass die HpT vor 41 Jahren entstand und das Mobilitätstraining in den Jahren danach entwickelt wurde – damals war von Handys noch keine Rede.
Komplexe Kompetenzen nötig
Basisübungen zur Mobilität absolvieren die Kinder und Jugendlichen auch in ihren HpT-Gruppen. Wöchentliche gemeinschaftliche Ausflüge helfen mit, wichtige Dinge zu verinnerlichen. Der eigenständige Schulweg ist jedoch eine weit größere Herausforderung. "Wir freuen uns, wenn wir möglichst vielen Kinder und Jugendlichen diese Entwicklungschance eröffnen können", betont Martin Kullmann. "Es braucht dazu komplexe Kompetenzen", konstatiert er. "Wir befähigen die Kinder ein überschaubares Vorhaben umzusetzen. Wenn es nicht geht, dann muss die Erlaubnis zurückgenommen werden."
Dass das Individualtraining einen hohen Personalaufwand und besonderes Engagement der Pädagogen erfordert, muss eigentlich nicht extra betont werden. "Es ist ein besonderer Service der HpT", meint Martin Kullmann. Den Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern, von deren Einverständniserklärung das Training letztlich abhängt, wird dadurch mehr Freiheit geschenkt. Und oft setze das Stück Eigenständigkeit einen richtigen Entwicklungsschub frei, konnte Martin Kullmann beobachten. "Das Selbstvertrauen wird gestärkt. Neue Projekte werden möglich – zum Beispiel ein Kinobesuch nur mit Freunden." Und auch für den zukünftigen Weg der Jugendlichen werde hier ein Grundstein gelegt. Denn: "Wer nach der Schulzeit in einem Betrieb arbeiten will, der muss selbständig sein."
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