"Jeder hat eine Chance verdient"
Betriebe bilden Flüchtlinge aus: Wie gelingt Integration in der Praxis?
Im vergangenen Jahr ging es um das blanke Überleben. Die aus Kriegsgebieten zu uns geflohenen Menschen mussten mit Essen und Kleidung und einem Schlafplatz versorgt werden. Jetzt folgt der nächste Schritt: Nach der großen Willkommenswelle kommt als Herausforderung die Integration. Anerkannte Asylbewerber möchten und sollen selbstständig werden, eine Ausbildung und Arbeit finden und sich in die neue Heimat integrieren. So einfach ist das aber nicht. In unserem Sommergespräch haben wir Experten und Betroffene an einen Tisch geholt. Sie stellten erfolgreiche Modelle vor und diskutierten über Projekte und Ideen, wie Integration gelingen kann. Einige war sich die Runde, dass dazu ein Miteinander aller Beteiligten notwendig ist. Und es müssten mehr positive Beispiele in der Öffentlichkeit gezeigt werden.
Unterschiedliche Lebensweisen
Bayernweit müssen tausende Geflüchtete in Ausbildung und Arbeit vermittelt werden, erklärte Hubert Schöffmann. Eine große Herausforderung, vor allem weil Betriebe und Flüchtlinge oft unterschiedliche Vorstellungen hätten. Hier hakte Ute Zima ein: „Deswegen bieten wir in Gräfelfing ein kulturelles Orientierungspraktikum für die neuen Mitbürger und für unsere Arbeitgeber“. Inhaltlich geht es um das Verständnis der unterschiedlichen Lebensweisen. Zum Beispiel sei Pünktlichkeit manchmal in anderen Kulturkreisen nicht so wichtig. „Wenn man um 10 Uhr einen Termin hat und um 15 Uhr kommt, ist es immer noch pünktlich, weil es am gleichen Tag ist“, so Zima. Auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau wird thematisiert.
Ausbildung muss begleitet werden
Till Gerhard braucht ein solches Praktikum nicht. Der Geschäftsführer der Firma Nabholz bildet seit vielen Jahren Flüchtlinge aus. Einer dieser Azubis hat vor ein paar Jahren sogar als Jahrgangsbester abgeschlossen und mit einem Stipendium der Handwerkskammer seinen Meister gemacht. „Wir haben viele solcher Mutmach-Stories erlebt, aber auch die eine oder andere Panne. Man darf den Optimismus nicht verlieren. Jeder hat eine Chance verdient“, betonte Gerhard. Nur einen Ausbildungsplatz anzubieten reiche aber nicht. „Das funktioniert nur, wenn die Ausbildung begleitet wird“. Ute Zima besteht bei der Vermittlung von Praktikumsplätzen deswegen auf einem „Buddy-System“. Jedem Flüchtling müsse ein Ansprechpartner zur Seite gestellt werden.
Für Thomas Reiner ist das Handwerk mit seinen oft familiären Strukturen für die Ausbildung von Flüchtlingen prädestiniert. „Da sind die Flüchtlinge gut aufgehoben“. Den Betrieben müsse das Ausbilden von Flüchtlingen aber erleichtert werden. Zum Beispiel durch intensive Deutschkurse und Berufsvorbereitungen. Dafür wurde schon einiges in die Wege geleitet. Ganz neu: Im Herbst gilt wahrscheinlich bereits die „3 plus 2 Regelung“. Nach der dreijährigen Ausbildung dürften die Absolventen noch zwei Jahre im Betrieb arbeiten, „damit Unternehmen eine Planungssicherheit haben“, erklärte Reiner.
Verantwortung übernehmen
Wenn ein Auszubildender während der Ausbildung abgeschoben wird, dann wird ein Unternehmer nie mehr einen Flüchtling einstellen, befürchtete Schöffmann. Er brachte in diesem Zusammenhang den Begriff des „Ehrbaren Kaufmanns“ ins Spiel, der zum Wohle des Betriebs, aber auch der Gesellschaft handele. „Vorrangig geht es nicht darum, Jobs zu besetzen, sondern darum, Verantwortung zu übernehmen“, sagte Schöffmann. Die klein- und mittelständischen Firmen dürften aber nicht überfordert werden. „Der Unternehmer soll sich auf das konzentrieren, was er am besten kann und das ist, Fertigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln“. Für alles andere müsse es Ansprechpartner geben, Kümmerer sowie eine sozialpädagogische Betreuung.
Ein Netzwerk hilft
Das war das Stichwort für Jin-Ju Jahns, die Neuankömmlinge bei der Jobsuche unterstützt. „Zunächst lernen wir die Flüchtlinge kennen, dann verfassen wir gemeinsam einen Lebenslauf“, erklärte sie. Bei Bewerbungen und danach begleiten die Helfer den Eingliederungsprozess. Und es gibt ein Netzwerk, dem Unterkünfte, Sozialbetreuungen und die Arbeitsagentur angehören. Das Engagement der Privatinitiativen bei der Jobvermittlung sieht Schöffmann mit gemischten Gefühlen. „Wir haben bei der Industrie- und Handwerkskammer eine Lehrstellenbörse mit geprüften Betrieben, die nach bestimmten Qualitätskriterien ausbilden. Wo bleibt bei den Privatinitiativen die Qualitätssicherung der Angebote, die ohne Arbeitsagentur vermittelt werden?“
"Leute nicht verheizen"
Kopfnicken bei Ute Zima. „Wir müssen aufpassen, dass die Leute nicht in Großküchen, Putzfirmen und auf dem Bau verheizt werden“. Sie bekomme Stellenangebote für nichtqualifizierte Leute, bei denen keine Deutschkenntnisse erforderlich sind. „Da ist vorprogrammiert, dass diese Menschen in einer Sackgasse landen. Sie arbeiten, lernen aber nicht die deutsche Sprache und kommen niemals aus der Sozialhilfe raus“. Sie rät: „Wir müssen als Gesellschaft aufpassen, dass wir keine Parallel- oder Schattengesellschaften bilden, die niemals in unserer Gesellschaft ankommen“.
"Der Ausbildungsvertrag ist unterschrieben"
Charles Aigbedion kommt aus Nigeria. Er lebt seit eineinhalb Jahren in Deutschland. Im September fängt er eine Ausbildung als Mechaniker für Reifen und Vulkanisation bei der Firma Nabholz an. „Der Ausbildungsvertrag ist schon unterschrieben“, sagt Gerhard. Im vergangenen Jahr hatte Aigbedion ein vierwöchiges Betriebspraktikum absolviert. Ein Intensivsprachkurs ist eingeplant. Eigentlich wollte der Geflüchtete gleich zum Arbeiten anfangen. „Ich wollte Geld verdienen“, erklärte er. „Wir nehmen jedoch keine ungelernten Arbeiter. Unser Angebot war Ausbildung“, so Gerhard. Zunächst hatte sich der 39-Jährige wegen seines Alters keine Lehre mehr zugetraut. Es waren viele Gespräche notwendig, bis er eingesehen hat, dass in Deutschland Karriere nur über Ausbildung geht.
Jahns erzählte, dass es oft ein Umdenken gebe, wenn klar wird, dass die Höhe des Verdienstes mit einer Ausbildung zusammenhängt. „Ohne Qualifikation ist man bei einer schlechten Konjunktur immer der Erste, der entlassen wird“, so Reiner. Bis vor kurzem hatte die Altersgrenze für eine Ausbildung bei 25 Jahren gelegen. „Mittlerweile gibt es im Bundesintegrationsgesetz keine Altersgrenze“, freut sich Schöffmann. „Ich finde es toll, dass Sie die Ausbildung machen“, wandte sich Reiner an Agdebio, „denn wir haben keinen Arbeitsmangel, sondern einen Fachkräftemangel“. Schöffmann sieht auch den Mindestlohn problematisch. Viele junge Azubis würden ihre Ausbildung abbrechen, wenn sie sehen, dass man mit Mindestlohn mehr verdient.
Ein FSJ als Überbrückung
Hamada Saidi würde auch gerne eine Ausbildung machen, „am liebsten im IT-Bereich“. Der 26-jährige Flüchtling ist seit einem halben Jahr in Deutschland. Sein Status ist noch ungeklärt. Deswegen hat er auch keine Arbeitserlaubnis. „Das ist ein großes Problem“, seufzt er. Jin-Ju Jahns hat trotzdem einen Weg gefunden, um Hamada unterzubringen. Er beginnt am 1. September ein Freiwilliges Soziales Jahr. „Dafür braucht er keine Arbeitsgenehmigung und er bekommt einen Deutschkurs“, erklärte Jahns. „Eine tolle Sache, aber leider gibt es zu wenige Stellen im FSJ-Bereich“, bedauerte Hans Kopp.
"Nah an den Leuten"
Großes Lob gab es für die Helferkreise. „Sie kommen in die Unterkünfte und sind ganz nah an den Leuten dran“, so Zima. „Das kann die Arbeitsagentur nicht leisten. „Wir kennen die Flüchtlinge und deren Lebensläufe. Die Arbeitsagenturen kennen oft nur Namen und Geburtsdatum“, betonte sie. Deswegen kämen viele Firmen und Institutionen direkt auf die Helferkreise zu. „Als Kammer könnten wir das gar nicht schaffen“, räumte auch Schöffmann ein. Er mahnte aber, die Vermittlung von Arbeit von den Profis machen zu lassen. „Wir haben seit 1. Juli ein Integrationsteam mit Integrationsberatern, die wichtige Mittler zu den Helferkreisen sind“. Zima fügte an: „Staatliche Betreuung ist immer langsam und findet auf dem Papier statt. Mal schnell zum Hörer greifen, kurze Wege. Das ist der Vorteil der privaten Helfer“. Letztlich braucht es ein Zusammenspiel aller Akteure, meinte Kopp.
Ohne Unterkunft geht es nicht
„Unterkunft“ war das Stichwort für das nächste Thema. Es sei kontraproduktiv, wenn ein Azubi in einer Gemeinschaftsunterkunft mit anderen zusammen wohnt, die keine Ausbildung machen und bis spät in die Nacht lärmten, sagte Gerhard. Hier sei das Selbstmanagement extrem schwierig und der Erfolg der Ausbildung gefährdet.
Jahns berichtete von einem anderen Problem. Sie schilderte den Fall eines Flüchtlings, der eine Anstellung in der Stadt hatte und plötzlich einen Wohnplatz auf einem Dorf ohne Verkehrsanbindung zugewiesen bekommen habe. „Es hat viel Mühe gekostet, ihn wieder zurück nach München zu bekommen und eine Wohnung zu finden“.
Reiner hatte eine Idee: „Viele alte Leute haben eine große Wohnung“. Sie könnten Zimmer an Flüchtlinge vermieten. „Kost und Logis gegen Mitarbeit im Haushalt und Garten“.
Kopp hat mit solchen Modellen schlechte Erfahrungen gemacht: „Wir haben versucht private Wohnungen an junge Flüchtlinge zu vermitteln, die Resonanz war sehr gering. Es herrschte zuviel Angst“. Außerdem sei ein „Riesenberg an Bürokratie“ zu bewältigen. „Das schreckt ab“.
Hier bot sich Jahns mit ihrer Organisation als Vermittler an. „Das könnten wir übernehmen“. Daneben wäre es von Vorteil, „wenn Betriebe einen steuerlichen Vorteil haben, wenn sie mit einem Arbeitsplatz auch Wohnraum anbieten“, sagte Zima. Einig war sich die Tischgesellschaft, dass eine erfolgreiche Integration in die Arbeitswelt von geeignetem Wohnraum abhängt.
Unsere Sommer-Frage
Womit haben Sie Ihr erstes Geld verdient? Unsere Gäste antworten:
Charles Aigbedion: Ich habe in einem Geschäft Haare geschnitten.
Till Gerhard: Ich wollte eine Dual-Stereoanlage und ein französisches Bett haben. Dafür bin ich in den Ferien fünf Wochen zum Karstadt gegangen und habe an der Bonbontheke gearbeitet.
Hans Kopp: Ich habe von Fenstereinfassungen einen ganz harten Betonlack abgeschlagen. Gott sei Dank kam dann die Einberufung zum Zivildienst, so dass ich diese schwere Arbeit nur eine Woche lang machen musste.
Jin-Ju Jahns: Ich habe mit meinem kleinen Bruder Limo auf der Straße verkauft.
Hamada Saidi: Ich habe aus einzelnen Computerteile einen Kleincomputer zusammen gebaut und verkauft.
Hubert Schöffmann: Ich habe in einer Gemeinde für die Touristen den Ort schön gemacht. Ich hatte Aufgaben wie Rasen mähen, Geländer streichen, Müllkörbe auslehren, Friedhofsarbeiten ...
Thomas Reiner: Ich habe bei Konen-Herrenbekleidung am Samstag in der Herren-Hosenabteilung die Hosen aufgehängt und in die entsprechenden Regale gelegt.
Ute Zima: Mein allererstes Geld habe ich mir mit Zeitungen austragen verdient.
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Charles Aigbedion (demnächst Auszubildender bei Fa. Nabholz)
Till Gerhard (Ausbildungsleiter Fa. Nabholz)
Hans Kopp (AWO München, Referatsleitung Seniorenpflege)
Jin-Ju Jahns (Social impact Recruiting - SIR)
Hamada Saidi (Flüchtling aus Gaza)
Hubert Schöffmann (stv. Bereichsleiter Berufsbildung und bildungspolitischer Sprecher BIHK)
Thomas Reiner (Handwerkskammer für München und Oberbayern)
Ute Zima (Unternehmerverband Gräfelfing).
Was denken Sie?
Welche Meinung vertreten Sie? Diskutieren Sie mit! Schreiben Sie uns: Münchner Wochenanzeiger, Redaktion, Fürstenrieder Str. 5-9, 80687 München, leser@muenchenweit.de. Wir veröffentlichen Ihren Standpunkt.
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