„Welches Leben ist wertvoll?“
Aubinger gedenken der Opfer der Pogromnacht
In andächtiger Stille hatten sich Besucher auf dem Vorplatz des Gebäudes der „Helfenden Hände“ auf den Stühlen niedergelassen. Unter ihnen befanden sich auch Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, die die betreuende Einrichtung besuchen. Auch sie, die ihre Lebensfreude oft so fröhlich und lebhaft äußern, waren an diesem Abend ganz still, als ob sie spürten, dass vor ein paar Jahrzehnten auch sie hätten Opfer der Pogrome werden können. Der Bezirksausschuss 22 hatte zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Pogromnacht unter dem Motto „Münchnerinnen und Münchner gedenken ihrer verfolgten jüdischen Nachbarn“ eingeladen.
Bei ihrer Ansprache zog die Vorsitzende der Vereins „Helfende Hände“, Nariman Zimpel, den Kreis weiter. Sie erinnerte an die vielen Opfer, denen das NS-Regime ein „lebensunwertes Leben“ attestiert hatte. „Ein Begriff, der im Zuge der nationalsozialistischen Rassenhygiene nicht weniger, als die Entfernung unter anderem unheilbar kranker, rauschmittelabhängiger, invalider und letztlich auch körperlich und intellektuell beeinträchtigter Menschen aus dem sogenannten „Volkskörper“ begründete“, so Zimpel. „Mit den Novemberpogromen 1938 und insbesondere der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November gelang die schlagende Ausweitung dieses Begriffs auf die jüdische Mitbevölkerung.“
Kurzbiografien der Opfer
Nicht zuletzt deshalb, sei die Reichspogromnacht für die Helfenden Hände auch eine Erinnerung an Fragen, mit denen sich Eltern, Mitarbeiter sowie der gesamte Verein auseinandersetzen müssen. „Welches Leben ist wertvoll?“, „Welches Leben ist es wert gelebt zu werden?“, „Was genau macht ein Leben eigentlich wertvoll?“, „Wer bestimmt den Wert des Lebens?“. Die Antworten, die Helfende Hände auf diese Fragen gefunden habe, ließen sich am besten durch das Leitbild ausdrücken, das in jedem Betreuten einen Menschen mit Körper, Geist, Seele, seinen sozialen Beziehungen und seiner Biographie sehe.
Umrahmt von besinnlichen Musikstücken der Klaus-Ammann-Band trugen die Bezirksausschuss-Mitglieder anschließend die Kurzbiografien vor, von in den Tagen des Novemberpogroms und der „Schutzhaftaktion“ im Konzentrationslager Dachau ermordeten, infolge von Misshandlungen gestorbenen oder zur Flucht gezwungenen Opfer. Das waren zum Beispiel Moritz und Sohn Kurt Bloch, die den Aubingern als die Betreiber der ehemaligen Chemischen Fabrik bekannt sind. Bernhard Haas wurde am 10. November 1938 nach Dachau deportiert und starb dort. Mit der Diagnose „Herz- und Kreislaufschwäche“ wurde der Mord im Todesschein umschrieben. Karl Adler verlor seine Firma und musste emigrieren. Mehrere seiner Angehörigen nahmen sich das Leben. Dr. Gustav Böhm war Anwalt. Auch er starb an den Misshandlungen in Dachau. Seine Mutter Babette wurde 1942 mit 85 Jahren ins KZ nach Theresienstadt gebracht, wo sie verstarb. Joachim Chaim Both wurde in der Pogromnacht in seiner Wohnung erschossen, Felix Ahron Meir Feuchtwanger starb an den Misshandlungen in Dachau ebenso wie Dr. Max Moritz Klar. Der Violinist Joseph Lengsfeld und seine Frau Hedwig begingen am 11. November Selbstmord in ihrer Wohnung. Die Brauereibesitzerin Laura Marxsohn erhing sich. Papierfabrikant Albert Neustädter wurde im KZ ermordet, Nelli (Cornelia) Schloß stürzte sich aus dem Fenster. Ihr Sohn Hans war Diabetiker. Ihm KZ wurde ihm das Insulin verweigert. Er starb.
Am Schluss erinnerte Brigitta Bacak an das Gebetshaus und an die Wohnungen der jüdischen Bewohner nach dem Krieg in der Dickensstraße. Bis Anfang der 70-er Jahre hätten hier die gesundheitlich teilweise schwer angeschlagenen Überlebenden des Holocausts gelebt. Eine ehemalige Bewohnerin war zur Gedenkfeier gekommen und nahm bewegt einen Blumenstrauß entgegen.
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