Lesen hat ihr eine neue Welt eröffnet
Terko nimmt am Alphabetisierungskurs in der Aubinger Lernwerkstatt teil
Manchmal hält die 25-jährige Terko inne und staunt. „Bin ich das wirklich?“, fragt sich die junge Jessidin dann. Bis vor einem Jahr hatte die Mutter von vier Kindern noch nie einen Stift in der Hand gehalten, konnte keinen einzigen Buchstaben lesen – weder in ihrer arabischen Sprache, noch in Deutsch. Heute ist die anerkannte Asylbewerberin Klassenbeste. Im Aubinger Bildungslokal in der Limesstraße 81 nimmt sie an einem Kurs zum Lesen und Schreiben lernen teil.
„Geduld und Beziehungsarbeit“ brauche man, um erwachsenen Schülern das Lesen und Schreiben beizubringen, erklärt Lernbegleiterin Elisabeth Pletzer. Und diese müssten es auch wollen und fleißig sein. Was Kinder in der Grundschule spielerisch lernen, das ist für Erwachsene harte Arbeit. „Wann kommt Sofia? Sie hat Geburtstag“, liest Terko aus der Fibel vor. Nur beim Wort „achtzehn“ stolpert sie. Die Lernbegleiterin hilft ein wenig nach.
Endlich flüssig lesen
Terko wäre gerne als Kind in die Schule gegangen, aber in ihrer arabischen Heimat war das zu gefährlich. Jessidische Mädchen kamen oft nicht mehr aus der Schule zurück, wurden verschleppt oder verkauft. Mit 14 hat Terko geheiratet und danach vier Kinder bekommen. 2010 floh sie mit ihrem Mann und den Kindern nach Deutschland. „Hier ist jetzt unsere richtige Heimat“, erklärt sie.
Die Familie ist ehrgeizig und strebsam. Ihr Mann hat eine Anstellung bei der Stadt. Die älteste Tochter hat den Übertritt in das Gymnasium geschafft. Und auch Terko hat ein Ziel: „Ich möchte mit 28 Jahren einen Job haben, am liebsten im Büro.“ Täglich lernt sie für ihr Ziel. „Gestern saß ich mit meinen Arbeitsblättern bis zwei Uhr in der Nacht“, berichtet sie. Manchmal muss sie weinen, weil es nicht schnell genug geht. Dann tröstet Elisabeth Pletzer: „Terko, setz dich nicht so unter Druck. Alles braucht seine Zeit“, erklärt sie. Aber Terko kann es kaum erwarten. Ihr gutes Deutsch möchte sie perfektionieren und endlich flüssig lesen. Das Lesen habe ihr eine neue Welt eröffnet. „Manchmal, wenn ich Zeit habe, gehe ich in die Bücherei und schaue.“ Sie habe auch schon Bücher ausgeliehen, berichtet sie stolz. „Bildung ist so wichtig“, sagt Terko. Und die Lernbegleiter im Bildungslokal sind für sie mittlerweile so etwas wie Geschwister.
Zweimal in der Woche hat die Lernwerkstatt geöffnet: Montag von 17 bis 18 Uhr und am Donnerstag von 10 bis 11.30 Uhr. Wer in die offenen Gruppen kommt, kann an einem individuell angepassten Lernangebot teilnehmen. Es gibt aber auch Alphabetisierungskurse in Kooperation mit der Volkshochschule und andere Angebote wie beispielsweise einen Fahrradkurs.
Zum Vorbild geworden
Mittlerweile ist Terko nicht nur Schülerin, sondern auch Helferin. „Die anderen wollen sein wie ich“, berichtet Terko, die wegen ihrer schnellen Fortschritte zum Vorbild geworden ist. Die „anderen“ in der Lernwerkstatt, das sind Frauen aus Iran, Indien, Thailand, Irak, Syrien, Vietnam, Bulgarien, Rumänien, aber auch Deutsche. Es ist übrigens nie zu spät, mit dem Lesenlernen anzufangen, macht Pletzer Mut.
Eine Schülerin aus der Türkei lebt bereits seit 40 Jahren in Deutschland. „Sie ist gekommen, weil ihre Kinder Druck gemacht haben“. Bei den Kursen steht Alltagsdeutsch im Mittelpunkt. Fragewörter, Präpositionen, Alltagssprache. Erst werden einzelne Buchstaben gelesen und geschrieben, dann Silben, Wörter und schließlich kurze Sätze. Gelesen wird im Chor. Das ist für diejenigen angenehm, die sich nicht so trauen. Als nächstes möchte Pletzer mit ihrer Gruppe ein Gedicht lesen: „Sieh ich tanze so gern, wie der glitzernde Stern, wie der Vogel im Baum, wie die Blume im Traum“, beginnt es. Rhythmisch und mit Bewegung soll die Gruppe die Zeilen lesen und dann wird das Gedicht in die Sprachen der Teilnehmer übersetzt. Terko hat sich das Gedicht bereits geschnappt und liest laut vor.
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